Wer macht das Rennen im Wahlkreis 84?

Von Claudia van Laak · 10.09.2009
Der Bundestagswahlkampf ist langweilig. Die Kanzlerin schwebt über allen und allem, und der SPD-Herausforderer reißt das Publikum auch nicht mit. Doch es gibt auch einen Wahlkreis, in dem alles anders ist.
Die Bundestags-Kandidatin hat zur Podiumsdiskussion ihren Hund mitgebracht. Vera Lengsfeld heißt die Politikerin, Aimie ihre Labrador-Hündin. Es ist eine Veranstaltung ganz im Sinne der CDU-Politikerin und DDR-Bürgerrechtlerin: "Aufarbeitung zwischen Unrechtsstaat und DDR-Nostalgie."

Ort der Podiumsdiskussion ist die Galiäa-Kirche in Berlin-Friedrichshain. Ein Verein nutzt die Kirche, um in einer Ausstellung die Oppositionsarbeit der Galiäa-Gemeinde vor der Wende und den Jugendwiderstand in der DDR zu dokumentieren. Vereinsmitglied Andi Hehmke zeigt auf einen Ordner, der kopierte Stasi-Unterlagen über die Gemeinde enthält.

Hehmke: "Hier haben Punks Zuwendung gefunden, Menschen, die alternative Lebensentwürfe hatten, politisch verfolgt waren, hier gab es Jugendarbeit und Angebote abseits der staatlich reglementierten Freizeitangebote und diese Geschichte passt auch gut zur heutigen Bevölkerungszusammensetzung, weil dieser Bezirk auf seine spezielle Art auch unter anderen Systemvoraussetzungen immer noch anders und alternativ ist und sich hier alternative Lebensformen hier heute wohl fühlen. Damals hatten sie es sehr schwer."

Für Vera Lengsfeld ein Thema, in dem sie zu Hause ist. Sie kämpft an gegen das Vergessen, führt Interessierte durch die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, steht mit dem Theaterstück "Staats-Sicherheiten" derzeit in Potsdam auf der Bühne.

Vera Lengsfeld wurde jahrelang von ihrem Mann bespitzelt, was sie erst nach der Wende erfuhr – diese Erfahrung bestimmt ihr Leben auch im Jahr 20 der friedlichen Revolution. Zunächst für die Grünen im Bundestag, wechselte sie dann gemeinsam mit anderen DDR-Bürgerrechtlern zur CDU. Vier Jahre lang saß sie nicht im Parlament – jetzt bewirbt sie sich im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost um ein Direktmandat.

Lengsfeld: "Ich gehöre ja zu den heute sogenannten Bürgerrechtlern. Wir nannten uns damals in der DDR nicht so, wir waren Leute, die ab Beginn der Achtzigerjahre in den Räumen von evangelischen Kirchen in schneller Folge Friedens- und Umweltkreise, später ab Mitte der Achtzigerjahre auch Menschenrechtskreise gegründet haben. Wir nannten uns unabhängige Friedens- und Menschenrechtsbewegung der DDR, Opposition durfte man ja per Gesetz nicht sein."

Die Kirchenbänke sind gut besetzt. Knapp 100 Interessierte wollen die Meinung der Bundestagskandidaten zur DDR-Aufarbeitung hören, mehr als die Veranstalter erwartet hatten. "Die Geschichte auch der Bundesrepublik ist massiv von der Staatssicherheit beeinflusst worden" – sagt Vera Lengsfeld. Einige Zuhörer blicken der Rednerin auf das Dekollete statt ins Gesicht – aber dazu später mehr.

Lengsfeld: "Also wir haben ja erst vor kurzem den Fall Kurras diskutieren müssen, weil herauskam, dass der Mörder von Benno Ohnesorg ein inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war, aber die Stasi hat auch auf die Bundespolitik massiv Einfluss genommen."

Neben Vera Lengsfeld sitzen die anderen Direktkandidaten im Wahlkreis 84. Ein schlacksiger junger Mann in T-Shirt und Jeans – Björn Böhning von der SPD. Eine ebenfalls junge Frau, die große Sonnenbrille in die kurzen blonden Haare geschoben – Halina Wawzyniak von der Linkspartei.

Ein schmaler alter Mann mit schlohweißen Haaren und buschigen Augenbrauen – Christian Ströbele von den Grünen. "Ströbele kommt schon wieder zu spät" wird Vera Lengsfeld später spöttisch in ihrem Internet-Blog vermerken.

Ströbele: "So war ich damals etwa bei dieser ganz großen Demonstration am 9. November am Alexanderplatz, habe überlegt, ob ich da mitdemonstrieren kann, aber irgendwie passte ich nicht dazu, ich war ja Vorsitzender der Grünen, ob ich da ein Grußwort der Grünen geben könnte, Solidarität oder Ähnliches erklären, dass habe ich dann gelassen."

Fast eine halbe Stunde lang redet Hans-Christian Ströbele über sein Verhältnis zur DDR und seine Erfahrungen im Wende-Herbst 1989. Björn Böhning langweilt sich, spielt mit dem Kugelschreiber, streckt die Beine von sich, rollt mit den Augen. Der SPD-Bundestagskandidat war 11, als die Mauer fiel.

Stasi-Akten und DDR-Opposition – das sind für den in Lübeck aufgewachsenen Björn Böhning Themen von gestern. Wenn Opa vom Krieg erzählt, ist es ähnlich langweilig.

Böhning: "Da sind zwei Dinge ganz entscheidend. Erstens, dass man in der Gedenkstättenkultur, in der Gedenkstättenarbeit nicht den Fehler machen sollte, dass man den künftigen Generationen, den Menschen, die jung sind, immer mit der Keule kommt und mit dem gehobenen Zeigefinger, so, so darf das nicht wieder werden."

Halina Wawzyniak sieht dies ähnlich. Die bekennende Sozialistin befindet sich hier in der Galiäa-Kirche, inmitten von DDR-Oppositionellen, auf unfreundlichem Terrain. Wawzyniak war 16, als die Mauer fiel.

Wawzyniak: "Die ersten 16 Jahre meiner Biografie war ich auf keinen Fall eine Widerstandskämpferin, sondern ich war eine allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit, wie es so schön im Zeugnis stand, oder anders gesagt, ich war eine ziemlich überzeugte DDR-Bürgerin. Mit der Wende begann für mich ein Nachdenkprozess. Ich vertrete die These, dass die DDR kein Rechtsstaat war. Und meine Erfahrung aus der DDR ist, dass ich mich dafür stark mache, dass Geheimdienste generell abgeschafft werden."

Proteste im Publikum. Wie die Linkspartei-Politikerin denn ihre Forderung nach Abschaffung aller Geheimdienste vereinbaren könne mit der Tatsache, dass in ihrer eigenen Partei etliche Geheimdienstler in herausgehobenen Funktionen sitzen – das wird Halina Wawzyniak gefragt.

Wawzyniak: "Mir kommt es darauf an, wie die Leute das heute sehen. Ob sie sich selbst hinterfragen, ob sie das kritisch sehen oder ob sie sagen, es war alles gar nicht schlimm. Ich kenne genügend Leute, und im Übrigen nicht nur in meiner Partei, die waren nie inoffizielle Mitarbeiter, die finden die DDR noch heute ganz, ganz toll. Die würde ich auch nicht auf meinen Listen haben wollen."

Labradorhündin Aimie liegt auf einer Decke neben dem Altar, gähnt ab und zu. Die Podiumsdiskussion neigt sich ihrem Ende zu. Da kommt eine Frage aus dem Publikum, die Vera Lengsfeld und Halina Wawzyniak gerne vermieden hätten.

Es geht um die Wahlplakate der Kandidatinnen, die beide mit nackten Körperteilen werben. Die Kanzlerin und Vera Lengsfeld – beide tief dekolletiert – darunter der Spruch: "Wir haben mehr zu bieten." Halina Wawzyniak von hinten in Jeans und mit nacktem Rücken – darauf die Tätowierung: "Socialist".

Publikum: "Ich hab’ mich deshalb geärgert, weil im Vorfeld der Bundestagswahlen sollte man eigentlich versuchen, Inhalte zu transportieren, Inhalte zu kommunizieren, sonst nachher beklagt man sich am Wahlabend über die Politikverdrossenheit. Ach, wir konnten das doch nicht kommunizieren. Da hilft ja kein Gejammer. Ich finde es sehr problematisch, politische Inhalte mit bestimmten Körperteilen wie zum Beispiel Brüsten oder Dekollete oder Hinterteil oder so zu vermitteln, das lenkt vom Wesentlichen ab."

Vera Lengsfeld geht nicht ein auf die Kritik. Anecken, Provozieren, das ist Teil ihres Lebensstils. Manche nennen die CDU-Politikerin eine Nervensäge, selbst Leute aus der eigenen Partei. Lengsfeld freut´s – sie braucht Aufmerksamkeit in einem Wahlkreis, in dem nur zehn Prozent die CDU wählen.

Lengsfeld: "Jetzt weiß auch jeder, wer ich bin in Kreuzberg, was vorher nicht so der Fall war. Ich habe es dadurch viel leichter, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen und ich kann inzwischen kaum die Anfragen, die ich kriege, noch bewältigen, und das ist auch ein Zeichen, dass ich wahrgenommen und erstgenommen werden, sonst würden sich die Leute nicht an mich wenden."

Vera Lengsfeld verfügt nicht über einen sicheren Listenplatz, sie muss also kämpfen. Das tut sie vor allen Dingen im Internet. Flugblätter auf der Straße verteilen - diese Art von Wahlkampf hat sie aufgegeben im traditionell CDU-unfreundlichen Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain.

Lengsfeld: "Ich habe jeden Tag 100 Mails oder so zu bearbeiten, was sehr viel Zeit kostet, aber mir zeigt, dass es ne Resonanz gibt, und das finde ich erst einmal wichtig. Und was ich fast völlig streichen muss, ist dieses traditionelle Canvassing, wo man auf der Straße steht und irgendwelche Blätter verteilt, also wenn ich da ne Stunde stehe und dann vielleicht 20 Blätter losgeworden bin, da kann ich in der Zeit, wenn ich da einen Artikel in den Blog setze, viel mehr erreichen."

Ein bisschen betrügt sie sich damit selber, die CDU-Kandidatin, verwechselt die Zustimmung zu ihrem Internet-Blog mit der Zustimmung aus ihrem Wahlbezirk. Björn Böhning könnte so etwas nicht passieren. Er ist Politprofi durch und durch.

Prenzlauer Berg – S-Bahnhof Greifswalder Straße. Hier stehen vietnamesische Händler betont unauffällig herum, verkaufen unverzollte Zigarettenstangen an ihre Stammkunden. Ein Multi-Kulti-Imbiss bietet gleichzeitig Pizza, Chinapfanne und Goldbroiler an. Das Dekollete-Plakat von Vera Lengsfeld hängt so hoch, dass es niemand abreißen kann. Auch Björn Böhning hat plakatiert – für mehr Kinderfreundlichkeit. Für den SPD-Kandidaten ist heute wieder der Tag des Klinkenputzens.

Böhning: "Ja hallo, schönen guten Tag, wir sind von der SPD, wir haben Informationen zur Bundestagswahl, könnten wir bitte reinkommen, nee, daran bin ich nicht interessiert, könnten wir trotzdem rein, alles klar, sehr gerne."

Böhning: "Hallo, entschuldigen sie die Störung, Björn Böhning ist mein Name, ich bin der Bundestagskandidat der SPD und ich wollte mich ganz kurz vorstellen, falls sie was haben, melden sie sich, schönen Tag noch, tschüs."

Björn Böhning hat sich frisch rasiert und ein weißes Hemd angezogen. Typ netter Schwiegersohn. 10.000 Haushalte seines Wahlkreises will der 31-jährige frühere Juso-Vorsitzende persönlich erreichen. Eine schweißtreibende und gleichzeitig frustrierende Angelegenheit.

Böhning: "Entschuldigen sie die Störung, Björn Böhning mein Name, ich bin der Bundestagskandidat der SPD, wir haben keine Zeit, in Ordnung, tschüs. Entschuldigung für die Störung, Björn Böhning ist mein Name, oh nee, schönen Tag."

Björn Böhning klingelt nicht planlos an den Wohnungstüren seines Wahlbezirks. Er hat vorher genau recherchiert, wo die potentiellen Wählerinnen und Wähler wohnen, hat die Wahlergebnisse der letzten Jahre verglichen mit aktuellen demographischen Daten und dann einen Plan gemacht. Die Lichtenbergstraße soll sozialdemokratisches Potenzial haben.

Böhning: "Hallo, Entschuldigung für die Störung, Björn Böhning ist mein Name, ich bin der Bundestagskandidat der SPD, nee, ich hab gar keine Zeit."

Böhning: "Man muss eine Menge einstecken können, man muss auch Kritik ertragen, man muss auch frotzelig vorgebrachte Kritik ertragen, aber dafür ist Politik auch da, dafür sind die Politiker auch da, und wenn man die Kritik nicht ertragen kann, dann ist man da sicherlich falsch."

Leider bringt an diesem schwülen Nachmittag niemand Kritik vor. Keiner der Umworbenen will mit einem leibhaftigen SPD-Bundestagskandidaten diskutieren. Eine freundliche Ablehnung ist das höchste der Gefühle. Björn Böhning trinkt erschöpft ein Glas Apfelschorle. In seinen Anstrengungen kann und will er nicht nachlassen – auch der Sozialdemokrat ist nicht über einen Listenplatz abgesichert. Gewinnt er den Wahlkreis nicht direkt, bleibt ihm der Weg in den Bundestag versperrt.

Sein Arbeitsplatz als Leiter der Abteilung für Grundsatzfragen in der Berliner Senatskanzlei bleibt ihm sicher. Warum sollen die Wählerinnen und Wähler im Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain dem SPD-Kandidaten ihre Stimme geben?

Böhning: "Erstens weil ich für einen neuen Stil stehe, für einen direkten Dialog mit den Menschen, ich habe auch vor, weiter Hausbesuche zu machen, wenn ich Abgeordneter werden sollte, und zweitens will ich mich um die vielen Familien, die es hier gibt und die Kinder dieser Familien, um das Aufwachsen hier im Bezirk kümmern, für eine bessere Kinderbetreuung als sie derzeit hier gegeben ist."

Inhaltlich sind die drei aussichtsreichen Kandidaten von SPD, Linken und Grünen gar nicht so weit voneinander entfernt. Die Ziele von Björn Böhning und Halina Wawzyniak dürften so oder so ähnlich auch die Ziele Ströbeles sein in diesem links-alternativ geprägten Bezirk. Umso mehr kommt es auf die Personen an. Der junge SPD-Kandidat, der in der Senatskanzlei von Klaus Wowereit arbeitet, versucht zu vermitteln: Ströbele ist ein Auslaufmodell.

Böhning: "Ich finde es nicht besonders zukunftsträchtig, wenn man nur aus seiner eigenen Biografie, aus seinem eigenen Lebenslauf, aus der Stilisierung seiner eigenen Geschichte lebt, sondern ich glaube, dass die Menschen zu Recht Fragen haben, wer zahlt die Krise. Es ist sicherlich so, dass Hans-Christian Ströbele ’ne wichtige Figur der Bundesrepublik war, und es jetzt auch Zeit ist, dass wir neuen Wind und frischen Wind in die Politik bringen."

Einziges grünes Direktmandat bundesweit, 43 Prozent Zustimmung bei der letzten Bundestagswahl, das gilt es zu toppen. Kiezhelden nennen sie den Rechtsanwalt und früheren RAF-Verteidiger, der auf keiner Demonstration fehlt, der sich auch gerne mit seiner eigenen Partei anlegt und auf viele Fans in seinem Wahlkreis zählen kann.

Wählerin: "Es gibt ein paar alte Männer, die haben so ein bisschen was auf dem Kasten, und die haben aus dem Leben gelernt, was die Quintessenz ist, wo es drauf ankommt. Dazu gehört die Wahrheit, die Aufrichtigkeit, dazu gehört der Mut, auch mal Dinge auszusprechen, die anderen Leuten unbequem sind, eine gewisse Unbestechlichkeit, Halsstarrigkeit, möchte ich fast sagen, der Wahrheit verpflichtet zu sein. Und da gehört Ströbele auf jeden Fall dazu."

Böse Zungen dagegen bezeichnen den 70-Jährigen als den "Kohl von Kreuzberg". Ströbele ein alter Mann, der den Absprung aus der Politik nicht rechtzeitig geschafft hat? Der junge SPD-Herausforderer gibt sich trotzig:

"Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen nicht nur nach der nächsten Afghanistan-Demo fragen, sondern danach, wie kriege ich einen guten Krippenplatz, was ist mit der frühkindlichen Bildung."

"Eine Frage hab ich da noch, bevor ich nach Hause muss. Wie kommen wir aus Afghanistan raus? Ich habe mit anderen Grünen zusammen eine Unterschriftensammlung aufgelegt, für eine verantwortungsvolle Beendigung des Krieges dort, und zwar rasch jetzt. Als erstes muss man die Bombardierungen einstellen, bei denen immer wieder Zivilisten betroffen werden, zweitens muss man sofort Waffenstillstandsverhandlungen mit allen machen und eine Deeskalationsstrategie planen und dann muss man anfangen, die umzusetzen. Nicht von heute auf morgen da raus, sondern in verantwortungsvoller Weise."

Freitagnachmittag, türkischer Wochenmarkt am Kreuzberger Maybachufer. Verschleierte muslimische Frauen schieben ihre Kinderwagen durch´s Gedränge, Punker schnorren die Passanten an, dazwischen amerikanische Touristen und gepflegte Ministeriumsangestellte. Das Kilo Zucchini kostet 50 Cent. Eine türkische Liedermacherin verkauft CD´s.

Hans-Christian Ströbele genießt das Gewusel. Ständig schlägt ihm jemand auf die Schulter, spricht ihn an. Ein türkischer Händler schenkt dem grünen Bundestagsabgeordneten ein paar Feigen. Der verteilt Flugblätter und wirbt für sich.

Ströbele: "Man soll auf gar keinen Fall sagen, das Rennen ist gelaufen, es gibt sehr, sehr ernstzunehmende Mitbewerberinnen und Mitbewerber, aber natürlich rechne ich mir sehr gute Chancen aus, aus den Reaktionen hier, aber sicher sein kann man natürlich überhaupt nicht und das wäre das Allerfalscheste, wenn man sagen würde, das ist schon gelaufen."

Seine politischen Herausforderer haben keinen sicheren Listenplatz erhalten und kämpfen deshalb um das Direktmandat, Hans-Christian Ströbele hat den Listenplatz erst gar nicht angestrebt. Genau wie bei der letzten Bundestagswahl setzt der 70-Jährige voll und ganz auf die Wähler in seinem Bezirk.

Ströbele: "Ich hab’ mich gar nicht beworben, weil ich sage, ich möchte eigentlich auch mit dem Votum der Wählerinnen und Wähler erfahren, waren sie einverstanden mit dem und ich will jetzt nicht auf Umwegen in den Bundestag kommen. Das ist jetzt nicht mein Ziel, irgendwie auf jeden Fall da rein zukommen, auch wenn die Leute das nicht wollen."

Dass auch die Grünen in die Jahre kommen, zeigt sich nicht zuletzt an Hans-Christian Ströbele. Früher war man stolz auf junge, frische, unangepasste Parlamentarier – heute kämpfen die Grünen gegen die Diskriminierung von Senioren.

Ströbele: "Wir haben jetzt vor einem Jahr ein Gesetz verabschiedet, das sich gegen Altersdiskriminierung richtet, und ich glaube auch zum Leben im Alter gehört, dass ältere Menschen im deutschen Bundestag mit Sitz und Stimme vertreten sind, genauso wie die jungen, natürlich."

Sagt´s und springt zum Beweis für seine Fitness auf das Fahrrad, um zum nächsten Wahlkampftermin zu radeln.

Das Kulturhaus "Alte Feuerwache" in Friedrichshain. Die Volkssolidarität und das Komitee für Gerechtigkeit haben eingeladen zum Wählerforum. Das Publikum: ostdeutsche Rentner. Auf dem Podium: die drei Kandidaten von SPD, Grünen und Linken. Die CDU-Kandidatin Vera Lengsfeld kann sich an diesem Abend ihrem Internetblog widmen.

Wollny: "Weil wir sie nicht eingeladen haben, außerdem haben wir Frau Lengsfeld schon ein paar Mal gehört, und das war nicht immer schön, wir wollen eine sachliche Diskussion haben. In Friedrichshain-Kreuzberg spielt die CDU keine große Rolle."

Sagt Willy Wollny vom Komitee für Gerechtigkeit, ein Rentner in beiger Weste. Natürlich wählt Wollny die Linkspartei und das dürfte ebenfalls für die Mehrheit des Publikums gelten. Doch auch der grüne Hans-Christian Ströbele bekommt viel Applaus für seine Positionen zu Hartz IV, für seine Forderung nach Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan. Er sei in der falschen Partei, hält ihm jemand vor, warum er nicht bei der Linken eintrete. Halina Wawzyniak wittert Morgenluft und wirbt für sich.

"Ich bin mit meiner Partei in einem, ich vertrete hier nur die Parteimeinung, bei den anderen beiden ist es doch sehr häufig so, dass sie eine andere Position haben als ihre Partei oder wie bei den Grünen, sie wunderbare Parteitagsbeschlüsse haben, aber die Fraktion sich nicht dran hält."

Bei der letzten Bundestagswahl lag die Linke im Wahlbezirk Kreuzberg-Friedrichshain auf Platz drei hinter Grünen und SPD. Halina Wawzyniak nimmt den Wahlkampf sportlich - spurtet auf dem Fahrrad durch den Bezirk und verteilt Flugblätter, twittert was das Zeug hält. In ihrem Internetblog erfahren die potentiellen Wähler, wann und wie die durchtrainierte 36-jährige Juristin ihre Wohnung putzt, das jemand ihr neues Fahrrad gestohlen hat und wie man am besten das abwaschbare Tatoo "Socialist" anbringt.

"Mein Eindruck ist, dass ich von meiner ganzen Person her ganz gut in diesen Wahlkreis passe, ich lebe hier, ich wohne hier und von meiner ganzen Art, die nicht ganz so gesetzt ist wie normalerweise üblich, glaube ich, passe ich hier ganz gut rein."

Den Besuchern der Wahlkampfveranstaltung im Kulturhaus Friedrichshain fällt es an diesem Abend schwer, sich zu entscheiden. Rot-Rot-Grün – alle drei Kandidaten haben ihren eigenen Charme und konnten Pluspunkte sammeln.

Wähler: "Wenn die drei in einer Partei wären, wär’s auch nicht schlecht, weil die so viele Schnittpunkte haben, dass es doch ganz gut wäre, mehr Kraft würde dahinter stecken, als durch die Trennung die jetzt ist."

Wählerin: "Mensch, wir sitzen hier zusammen, wir werden es irgendwann vielleicht lernen, einen gemeinsamen Weg zu finden und nicht eben den, diejenigen, die uns hier alle spalten, an die Führung zu lassen. Das ist mein Problem."

Diese Aufforderung ist klar: rot-rot-grüne Koalition. Nach der Veranstaltung gehen alle drei Kandidaten einträchtig zu ihren Fahrrädern. Sie wissen: Den Wahlkreis 84 kann nur einer gewinnen.