Wensierski: Katholische Kirche sollte Akten für Anwälte der Missbrauchsopfer öffnen

Peter Wensierski im Gespräch mit Ulrike Timm · 18.02.2010
Der Buchautor und Journalist Peter Wensierski hat sich für einen grundlegenden Kurswechsel der Katholischen Kirche bei der Untersuchung der Fälle von Kindesmissbrauch ausgesprochen. Die Katholische Kirche müsse endlich die Akten für die Anwälte der Opfer öffnen, sagte Wensierski.
Ulrike Timm: Claudia van Laack über die Pressekonferenz zu den Missbrauchsfällen im Berliner Canisius-Kolleg. Wir sprechen darüber mit dem Journalisten und Buchautor Peter Wensierski, er beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema Missbrauch in der Kirche. Schönen guten Tag!

Peter Wensierski: Schönen guten Tag!

Timm: Herr Wensierski, eben hieß es: In den Akten ging es um die Täter, nicht um die Opfer. Nun mag das in der Natur der Sache liegen, denn es waren ja die Akten, mit denen die katholische Kirche dann beschlossen hat, wohin sie die Patres überall hin versetzt. Aber lenkt das zugleich den Blick auf einen Fehler im System?

Wensierski: Ja, das zeigt natürlich, dass die Kirche und dass die Jesuiten in dem Fall sich mehr um ihre eigenen Leute gekümmert hat als um die Opfer. Also es wurde ja heute auch deutlich, dass schon 1964 einer der Täter den Orden auf seine möglichen Verfehlungen und fehlgeleitete Sexualität hingewiesen hat. Er wurde trotzdem genommen und konnte jahrelang wirken. Und dann, in den Jahren danach, immer wieder hat er Hinweise gegeben, hat er konkret darüber gesprochen, und es gab ja auch Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre von Schülern dann, die betroffen waren vom sexuellen Missbrauch, Hinweise an die Schulleitung der Jesuitenschule und auch an den Orden. Und dennoch ist es so, das zeigten eben die Akten: Man hat sich vor allen Dingen immer Gedanken um den Täter gemacht. Man hat ihm Therapien angeboten und gedacht, das ist dann alles gut, man hat ihn dann versetzt und gedacht, es ist alles gut, und er hat immer wieder neu zugeschlagen. Das war die Realität.

Timm: Alles lief nach dem Motto: Wir regeln das intern. Kann man sagen, die Kirche hat – vielleicht in bestem Glauben – de facto ein perfektes Täterschutzprogramm aufgelegt?

Wensierski: Ein perfektes Täterschutzprogramm, das klingt natürlich hart, das wird kein Bischof gerne hören, aber im Grunde genommen mussten sie sich sehr selbstkritisch fragen: Was haben wir da eigentlich jahrzehntelang gemacht? Was haben wir eigentlich da uns angemaßt, ein eigenes Ermittlungssystem aufzustellen, inklusive der Glaubenskongregation in Rom? Warum machen wir das nicht wie bei allen anderen Bürgern im Lande – wir gehen zunächst an die Polizei oder an die Staatsanwaltschaft, wenn da wirklich ein Verdacht auf Missbrauch da ist? Man hat immer erst intern ermittelt. Also stellen Sie sich mal vor, ein Bischof spricht mit dem Pfarrer, dem von einem Opfer was vorgeworfen wird. Dann wird der Pfarrer erst mal leugnen, er wird abstreiten. Das ist in vielen Fällen so geschehen. So, und ein Bischof kann überhaupt nicht das, was die Polizei kann, zum Beispiel eine Hausdurchsuchung machen, wenn ein Pfarrer immer Jugendliche in seine Wohnung gelassen hat, wenn er sie in die Sauna eingeladen hat oder Ähnliches. Ich habe das erlebt, in Krefeld gab es einen Fall, da hat ein Pfarrer 50.000 Bilder von nackten Jungen, die er selbst produziert hat, in seiner Wohnung gehabt. Die wurden dann erst durch die Polizei gefunden, weil dort eine betroffene Mutter sich an die Polizei gewendet hatte und nicht an den Bischof.

Timm: Das heißt, eine große Rolle spielt auch der Umstand, dass die Kirche sich als ein vom Rechtsstaat getrenntes Paralleluniversum begreift?

Wensierski: Es ist ein bisschen eine kleine Parallelwelt, also, das Kirchenrecht wird für sich selbst beansprucht, es werden auch Kirchenstrafen gegen die möglichen Täter in Aussicht genommen, aber das sind oft Verfahren, die über Jahre dauern und dabei kommen in der Regel die Opfer zu kurz. Also ich habe es oft erlebt – ich habe mich in den letzten acht Jahren öfter mit Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche beschäftigen müssen, kaum in der evangelischen übrigens –, ich habe es oft erlebt, dass die Opfer sich beklagen, dass der Bischof oder einer seiner Vertreter gar nicht oder viel zu spät erst zum Gespräch vorbeikommen, sich wirklich darum kümmern. Das mag in den letzten Jahren vielleicht etwas besser geworden sein, aber das war jahrzehntelang ein absolutes Versäumnis. Es gab sogar oft Situationen, wo diejenigen, die sich gemeldet haben und den Pfarrer beschuldigt haben, in der Kirchengemeinde gemobbt wurden. Es gab eine Spaltung in der Gemeinde, und diejenigen, die das zur Anzeige gebracht haben, waren in einer unerträglichen Situation. Manche haben sogar das Dorf verlassen müssen, in dem solche Vorfälle waren, und die Kirche hat sie da nicht geschützt, die Opfer. Die Täter kamen eigentlich immer gut weg und es ist so, dass Sie bei vielen Tätern einfach eine Spur verfolgen können wirklich von einer Station zur anderen, wo sie versetzt worden sind.

Timm: Herr Wensierski, Sie haben den Missbrauch von Kindern in Kinderheimen durch christliche Geistliche untersucht, großes Thema in den westdeutschen konfessionellen Kinderheimen in den 50ern bis in die 70er. Gibt es da Parallelen zu dem, was wir heute diskutieren?

Wensierski: Ja, natürlich. Natürlich gibt es Parallelen. Es gibt ja ... Genauso wie in Irland und Amerika waren es auch dort Menschen, die sich jetzt erstmals, nach 30, 40 Jahren gewagt haben, darüber zu sprechen, weil sie so tief verletzt worden sind in kirchlichen Erziehungsinstitutionen, und das haben wir hier in Deutschland ja auch gehabt. Das waren hier 800.000 Kinder und Jugendliche in den 30 Jahren, 50er-, 60er-, 70er-Jahren in Erziehungsheimen, und die Hälfte dieser Heime war in katholischer Hand. Und es gibt sehr viele Berichte von auch sexuellem Missbrauch in diesen Heimen, teils wirklich sehr brutaler Missbrauch, was die Kirche inzwischen ja zugegeben hat, dadurch, dass die Opfer jetzt angefangen haben zu sprechen, es ... zumindest, dass in diesen Heimen also auch ein Regime der Gewalt geherrscht hat, in denen die Kinder gedemütigt, geschlagen, erniedrigt wurden, eingesperrt wurden, zur Arbeit gezwungen wurden. Was sie noch nicht gemacht hat, ist, wirklich mal den Hinweisen nach sexuellem Missbrauch nachzugehen. Da wird allzu schnell die Achsel gezuckt und gesagt, na ja, das ist ja alles verjährt und da müssen wir uns eigentlich nicht mehr drum kümmern. Und auch hier ist es so, dass die Opfer noch längst nicht befriedigend Antworten der Kirche gefunden haben oder Unterstützung auch der Kirche gefunden haben. Auch da sind noch, ich würde schon sagen, Hunderte von Opfern, denen noch nicht geholfen wurde und denen man die Hilfe, die man damals verweigert hat, heute unbedingt geben muss. Und das kommt zusammen mit den Fällen, die in den Internaten waren, in den Elitegymnasien. Es ist ... Seit zwei, drei Wochen, seitdem der Fall Canisius bekannt geworden ist, steht also kaum an einem Tag hier das Telefon still, dass sich nicht neue Leute auch aus der ganzen Bundesrepublik melden. Und ich weiß es auch von Kollegen in anderen Redaktionen, Fernsehredaktionen, Regionalredaktionen, von Zeitungen, die Leute melden sich und erzählen aus jener Institution, jener katholischen Institution oder einer anderen von neuen Missbrauchsfällen, die alle eins gemeinsam ist: Sie sind eigentlich alle verjährt.

Timm: Herr Wensierski, was könnte die Kirche denn eigentlich wirklich tun, denn ich meine, die vielfach angebotene geistliche Begleitung ist wahrscheinlich so ziemlich das Letzte, was die Opfer brauchen?

Wensierski: Ich meine, es ist jetzt wirklich der Zeitpunkt da, wo die katholische Kirche wirklich mal den Dingen ganz gründlich nachgehen muss und wirklich transparent sein muss, also auch die Akten öffnen muss, also, für die Anwälte der Opfer zum Beispiel die Akten öffnen muss. Man muss doch wissen... Wissen Sie, Missbrauch gibt es in vielen Institutionen, das ist richtig. Aber hier wird es jetzt deutlich, dass eine Institution systematisch, über Jahre und Jahrzehnte – und das ist in Irland übrigens auch deutlich geworden vor wenigen Monaten –, über Jahre und Jahrzehnte vertuscht und verschwiegen hat. Das heißt, eine der wichtigsten Erkenntnisse ist doch, dass diese Täter ein Umfeld brauchen. Sonst würden sie diese Taten nicht so lange über so einen Zeitraum ausüben können. Und dieses Umfeld war die katholische Kirche in diesem Fall, und da muss das Umfeld offengelegt werden, transparent gemacht werden, es muss wirklich hinterfragt werden: Was hat es mit unserer Sexualmoral zu tun? Was hat es mit unserer hierarchischen, autoritären, nicht transparenten, undemokratischen Institution zu tun? Wie gehen wir mit Kritik um? Wie haben wir Kinder ernst genommen, und so weiter? Wie gehen wir mit Kritik von außen um? Da gibt es doch Defizite ohne Ende, und da muss mal ehrlich jetzt rangegangen werden, wenn man da wirklich Lehren aus der Vergangenheit und auch aus der jüngsten Gegenwart ziehen will. Denn es gibt auch immer noch, bis in die jüngste Zeit – ich habe gerade erst Anfang Januar über einen Fall im Bistum Aachen berichtet, wo auch Vieles im Argen nach wie vor liegt –, gibt es immer noch Beispiele, dass da nicht genügend Konsequenzen gezogen worden sind.

Timm: Peter Wensierski, nun will man das ja, gerade von katholischer Seite hat man das angekündigt: Wir wollen nichts mehr unter den Teppich kehren. Der Rektor des Canisius-Kollegs ist den Weg in die Öffentlichkeit gegangen, der Papst hat die irischen Bischöfe abgekanzelt, nächste Woche macht die Bischofskonferenz solche Verbrechen zum Thema. Neue Wege sind angekündigt. Jetzt frage ich mal ganz religiös: Glauben Sie dran?

Wensierski: Wir werden das nächste Woche da schon ganz direkt sehen können – wenn Bischof Zollitsch, der Chef der deutschen Katholiken, am Anfang oder auch am Ende am Mittwoch Nachmittag, nach dieser Bischofskonferenz, Rede und Antwort stehen wird –, was sie denn nun beschlossen haben, ob sie nur ein bisschen kosmetische Reparaturen an ihren bestehenden Leitlinien, die ja immer noch auf eine stark kircheninterne Klärung und Vorklärung setzen, ob sie da nur ein paar Korrekturen dran vornehmen, oder ob es wirklich zu einem grundlegenden Kurswechsel mal kommt. Auch das würde bedeuten, dass man wirklich systematisch mal überall in allen Bistümern in die Personalakten geht, nach Hinweisen sucht, dass man Kommissionen ransetzt und zwar wirklich mit unabhängigen Leuten, auch von außerhalb. Gucken Sie mal, in Irland hat es eine Regierungskommission gegeben mit einer Richterin, die hat über längere Zeit Zugang zu allen Kirchenakten gehabt und dann festgestellt am Ende in ihrem Bericht: Jawohl, es war ein System des Verschleierns und Vertuschens. Seit Wochen treten die Bischöfe deshalb zurück, weil die Kirche sich sozusagen da schuldig gemacht hat. Und ich könnte mir vorstellen, dass auch in Deutschland so was wie eine unabhängige Kommission, die von außen mal auch bei geöffneten Kirchenakten den Dingen nachgeht, zu sehr viel besseren Ergebnissen kommt als wenn immer nur die Institution selbst sich mit sich selbst beschäftigt.

Timm: Der Journalist und Buchautor Peter Wensierski, er beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema Missbrauch in der Kirche. Vielen Dank fürs Gespräch!