"Wenn er glücklich ist, dann singt er"

Ursula von der Leyen im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 18.08.2011
Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen (CDU), sieht Deutschland angesichts der wachsenden Zahl von Alzheimer-Kranken vor großen Herausforderungen. Das Land brauche ein Netz der Hilfe - auch für die Angehörigen. Derzeit gebe es 1,4 Millionen Erkrankte, zwei Drittel von ihnen würden zu Hause gepflegt.
Stephan Karkowsky: Gegen Alzheimer gibt es nach wie vor keine Kur, und womöglich wird es nie eine geben. Deshalb fordern erste Mediziner nun ein Umdenken. Statt alle Kraft in die Suche nach einem Heilmittel zu stecken, sollte die Gesellschaft sich stärker dem Umgang mit den Erkrankten widmen. Diesen Umgang kennt Bundesarbeits- und -sozialministerin Ursula von der Leyen aus nahezu täglicher Erfahrung. Sie wohnt nämlich mit ihrer Familie bei ihrem Alzheimer-kranken Vater Ernst Albrecht. Frau von der Leyen, guten Morgen!

Ursula von der Leyen: Guten Morgen!

Karkowsky: Wie geht es Ihrem Vater?

von der Leyen: Er selber sagt, dass es ihm gut geht, dass er zufrieden ist, dass er ein gutes Leben hatte – das sind oft Sätze, die kommen – und deshalb, subjektiv geht es ihm gut. Objektiv ist seine Welt natürlich ganz klein geworden, sehr beschränkt auf den Lebensraum, wo wir sind, also das Zuhause, auf die Tiere, die da sind und den Rhythmus von Tag und Nacht, einfache Gespräche, aber unterm Strich würde ich doch sagen: Es geht ihm gut.

Karkowsky: Erkennt er seine Familie noch?

von der Leyen: Er erkennt mich sehr gut und freut sich immer, wenn ich komme, zeigt mir auch immer Bilder in der Zeitung, die er von mir sieht, die sammelt er, die findet er toll. Er erkennt meinen Mann, wenn er zu Hause ist. Bei den Kindern weiß er, dass die Kinder zu uns gehören, aber ich glaube, er könnte nicht so ohne Weiteres sagen, wie jedes Kind heißt oder was es jetzt gerade macht. Es ist schon oft da so, dass wenn zum Beispiel meine Kinder aus dem Studium nach Hause kommen, dann fragt er auch dann doch indirekt nach: Und wer bist du?

Karkowsky: Manch ein Mediziner möchte Alzheimer gar nicht mehr Krankheit nennen, stattdessen sollten wir Demenz als Teil des Alterungsprozesses akzeptieren lernen, der Oberhausener Palliativmediziner Christoph Gerhard etwa. Er sagt hier im "Radiofeuilleton":

Christoph Gerhard: Ich denke, dass in der Diagnoseaufklärung viele Weichen gestellt werden. Wenn die Angehörigen und der Patient selber das, was da passiert, als eine Niederlage und eine Katastrophe betrachten, also sozusagen nach dem Motto, ich kann jetzt nichts mehr, mein Gehirn geht kaputt, dann werden sich die Betroffenen zurückziehen.

Wenn die Betroffenen aber sozusagen merken, das ist was, was nicht nur mir passiert, sondern vielen anderen auch, merken, da bleibt mir aber auch noch ganz viel, da geht nicht nur was kaputt, sondern da sind auch andere Dinge, wie zum Beispiel Emotionalität, die übermäßig stark entwickelt werden, dann können sie ihre Ressourcen, die Angehörigen die Ressourcen sehen und es gelingt ein wertschätzender Umgang.

Karkowsky: Alzheimer-Patienten wertschätzend behandeln, das ist sicher ein richtiges Ziel, aber wie gelingt das in der Praxis, wie gelingt es Ihnen?

von der Leyen: Ja, ich muss zunächst einmal zu diesem Einspieler sagen, der Palliativmediziner hat recht. Er erinnere noch vor acht Jahren: Mein Vater ging selbstständig zum Arzt, weil er merkte, irgendwas stimmt nicht mehr, und bekam die Diagnose Alzheimer und erzählte uns Kindern davon. Das war für uns alle ein Schock. Und ich habe auch als ausgebildete Ärztin ein Zerrbild vor Augen gehabt, eine Horrorvorstellung vor dem Alzheimer, und hab ihn dann auch sehr misstrauisch beobachtet, über lange Wochen und Monate, was sich jetzt verändert, was jetzt schlechter wird.

Im Nachhinein bereue ich das zutiefst. Das ist jetzt acht Jahre her und ich habe inzwischen gelernt, dass es ein ganz langsamer Prozess ist, wo er sich verändert, aber dass seine Grundmuster, also seine Grundfreundlichkeit, sehr viel deutlicher zum Vorschein kommt. Und wir gehen eben einfach anders miteinander um. Es geht nicht so schnell, er kann sehr stark Freude, aber auch Trauer empfinden, obwohl ihm die Worte fehlen, um das zu äußern, und er reagiert sehr stark eben auf diesen wertschätzenden Umgang, also sich ihm zuwenden, ihm zuhören, vor allem die alten Lieblingsgeschichten oder Lieblingsorte immer wieder im Alltag auch hervorholen, dann ist er ganz glücklich. Er wiederholt dann immer diese Dinge, und wenn er glücklich ist, dann singt er zum Beispiel. Ich weiß immer, dass, wenn er glücklich ist, wenn er singt, dass es gerade gut geht und dass er sich wohlfühlt.

Als Angehörige muss man vor allem lernen, dass der Alzheimer-Kranke nicht mehr auf die Gefühle des anderen reagieren kann. Man läuft am Anfang, vor allem wenn man Konflikte hat und Auseinandersetzungen, und die hat man, weil man auch zum Teil schützend ihn begrenzen muss, dann läuft man wie gegen eine Gummiwand. Das ist wahnsinnig anstrengend, und man muss lernen, sich darauf einzustellen, dass der Alzheimer-Kranke nicht mehr so reagiert, wie man es gewöhnt war, in Anführungsstrichen "auf Augenhöhe", sondern anders. Also seine eigene innere Welt hat, in der er zum Teil eingeschlossen ist. Aber wenn man immer wieder sich ihm nähert über die alten Geschichten, die alten Muster und über Freundlichkeit und Zuwendung, dann findet man den Weg zu ihnen und dann sind sie wie gesagt glücklich, übrigens auch ruhiger, und dann gehen die Tage und die Nächte besser.

Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" Bundesarbeits- und -sozialministerin Ursula von der Leyen, wir reden über Alzheimer. Die Öffentlichkeit schaut gerne auf prominente Alzheimer-Patienten. Vielleicht ist es ja auch so, wenn ich weiß, dass jemand wie Ronald Reagan Alzheimer hatte oder Margaret Thatcher Alzheimer hat, dann hilft das womöglich, die eigene Scham über die Symptome der Krankheit zu überwinden. Bevor Sie die Krankheit Ihres Vaters öffentlich gemacht haben, mussten Sie da auch so etwas wie ein Schamgefühl überwinden?

von der Leyen: Oh ja. Wir haben mehrere Jahre … Ich habe versucht, das schlicht und einfach zu verdecken, und es waren eigentlich die peinlichen Situationen, die es auch wahnsinnig schwer gemacht haben. Mein Vater ist natürlich sehr bekannt und war damals ganz viel noch unterwegs – übrigens Alzheimer-Kranke brauchen Kontakte, sie brauchen die anderen, man muss sie in Gesellschaft bringen –, also war er gerne auch in Gesellschaft, aber er machte natürlich Sachen, die ungewöhnlich sind.

Er stand auf manchmal bei Veranstaltungen, ging ans Mikrofon und hielt eine Rede. Die war in sich gar nicht so schlecht dann, aber sie war völlig am Thema vorbei. Es waren die alten Muster, die er kannte, also eine große Rede über Europa zum Beispiel, die er dann bei einer ganz normalen Preisverleihung plötzlich gehalten hat, und dann haben sich natürlich im Publikum die Leute gewunden, weil es ihnen einerseits peinlich war und keiner wusste, wie man damit umgehen soll.

Aber es sind auch Kleinigkeiten. Mein Vater hat natürlich viele Menschen zum Teil angezogen, die ihn dann auch ausgenutzt haben – also die gesamte Glücksspielindustrie mit dem Thema Alzheimer und Ältere, das ist ein ganz, ganz großes, schwieriges Feld, die ausnutzen die Gutgläubigkeit und die wissen, dass Ältere und vor allen Dingen Menschen mit einer beginnenden Demenz eigentlich nicht mehr genau unterscheiden können, wen kenne ich, wem kann ich vertrauen und wer ist ein Fremder. Also es ging sowohl um ihn schützen als auch deutlich machen, er hat jetzt den Alzheimer und deshalb versteht einfach, dass er so ist, wie er ist.

Und nachdem ich das öffentlich gemacht habe, mir davor auch viele Gedanken gemacht habe und nicht sicher war, ob das richtig ist, nachdem das so war, war der Umgang viel entspannter mit ihm. Er geht nach wie vor überall gerne hin, der Lebensraum ist kleiner geworden, aber alle tolerieren seine Art zu sein und freuen sich, dass er so freundlich ist und manchmal eben seine kleinen sonderbaren Sachen macht, aber dann schmunzeln wir gemeinsam darüber und es ist nicht mehr die Scham da.

Karkowsky: Das ist nun drei Jahre her, dass Sie in dieser Talkshow saßen bei Beckmann, und da haben ja nicht alle gesagt, das ist jetzt gut, was die Frau von der Leyen da macht. Manche haben auch mit Kritik geantwortet. Hat Ihr Vater das eigentlich wahrgenommen?

von der Leyen: Nein, das hat er nicht, weil er eben da viele gar nicht, er nimmt gar keine öffentliche Diskussion mehr wahr und hat deshalb auch, nimmt nicht teil an diesen öffentlichen Debatten mehr, damals auch schon nicht. Für ihn war zum Teil schwierig zu verstehen, dass ihm Worte, Namen, Orte, Zusammenhänge fehlen und dass das ein Teil einer Krankheit ist – wie man sie nun nennt, das sei dahingestellt –, weil er sich subjektiv gut fühlt, das muss ich immer wieder sagen.

Und je weiter der Alzheimer fortschreitet, desto mehr ist er der Meinung – und das ist ja eigentlich was Schönes –, dass es ihm gut geht, dass er manchmal Namen vergisst, aber dass sonst eigentlich alles in Ordnung ist.

Karkowsky: Sie haben in früheren Gesprächen betont, wie hilfreich es sei, eine so große Familie zu haben, wie Ihr Vater sie hat, weil sich dann die Hilfe auch leichter verteilen lässt natürlich. Dazu noch das große Haus, in dem man sich nicht ständig begegnen muss, es gibt eine Pflegekraft und natürlich wissen Sie auch, dass die wenigsten dieses Glück tatsächlich haben im Alter. Haben Sie den Eindruck, der Staat tut genug, um Alzheimer-Patienten und ihren Angehörigen das Leben zu erleichtern?

von der Leyen: Nein, wir sind erst am Anfang, dass wir ahnen, was mit der Alzheimer-Erkrankung, die im Augenblick 1,4 Millionen Menschen und ihre Angehörigen betrifft, auf uns zukommt. Die Alzheimer-Erkrankung wird ja auch als Angehörigenkrankheit bezeichnet, weil die Angehörigen so unendlich eng dabei sind. Und die Dinge, die ich gelernt habe, sind erstens: Jeder braucht Hilfe – auch das übrigens eine Scham, die man überwinden muss, dass man zugibt, ich halte das nicht aus rund um die Uhr.

Jeder braucht Hilfe, um mit der steten Wiederholung, die bei Alzheimer-Kranken da ist – sie können unglaublich penetrant sein, sie können immer wieder das Gleiche machen, sie können auch unruhig sein und fordernd und anstrengend –, um damit fertig zu werden und die Geduld und die Gelassenheit zu haben, damit umzugehen.

Zweitens, wenn andere Menschen mit in der Pflege drin sind, hilft es einfach, sich auszutauschen und über Dinge eben nicht zu verzweifeln, sondern dann vielleicht zu lachen und die humorvollen Seiten zu erleben. Da haben mir meine Kinder sehr, sehr viel geholfen. Ich glaube in Zukunft, dass wir bei der Alzheimer-Erkrankung, da geht es gar nicht so sehr um Pflege, wo morgens und abends ein Pflegedienst kommt und wäscht und bettet, darum geht es nicht, das können die Alzheimer-Kranken oft, sondern man braucht eine niederschwellige Betreuung, manchmal rund um die Uhr, und vor allen Dingen die liebevolle Zuwendung.

Das heißt, wir werden Betreuungsstrukturen brauchen, sowohl in den Häusern, in den Familien selber, um die Angehörigen zu entlasten, aber auch das, was Tageskliniken sind oder Tagesgemeinschaftsstätten sind, um Angehörige zu entlasten. Wir werden sehr viel mehr ehrenamtliche Strukturen auch aufbauen müssen. Ich erlebe bei meinem Vater, dass die alten Freunde enorm hilfreich sind und einfach aus Treue kommen und dann mal einen Vormittag da sind. Und das hilft schon. Sie schaffen das dann emotional und uns hilft es enorm.

Und wir werden sehr viel stärker einfach ein Netz an Beratung, an Hilfe in den ganz banalen Dingen – was passiert, wenn der Alzheimer-Kranke nicht mehr Auto fahren darf, wie schaffe ich das? Was passiert, wenn er geschäftsunfähig ist, wie mache ich das? Das sind ganz praktische Dinge, da muss viel mehr Information fließen. Und ich glaube, wir stehen am Anfang einer Entwicklung, ein Netz der Hilfe um Alzheimer-Kranke und ihre Angehörigen zu knüpfen. Dann können sie es schaffen, die Pflege zu Hause – zwei Drittel der Alzheimer-Kranken werden zu Hause gepflegt –, aber wir sind noch nicht weit genug.

Karkowsky: Vielen Dank an Bundesarbeits- und -sozialministerin Ursula von der Leyen, die mit uns über das Thema Alzheimer gesprochen hat.


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