Wenn die alten Eltern sterben

Von Barbara Dobrick · 19.03.2008
Nach dem Tod der Eltern beginnt für viele Söhne und Töchter eine Zeitreise besonderer Art. Die eigene Kindheit wird belebt mit allem Schönen und Schrecklichen. Die damit verbundenen Gefühle können heftig und vielschichtig sein.
Bruno: " Meine Mutter rief eines Abends an und teilte mir das mit, dass mein Vater eben ganz plötzlich, praktisch von einer Minute auf die andere, gestorben ist. Und meine erste Reaktion war völlige Fassungslosigkeit. Ich konnte es irgendwie gar nicht kapieren, und hab einfach erst mal geheult wie ein Schlosshund. Ich habe bestimmt eine Stunde gebraucht, um überhaupt zu kapieren, was eigentlich los ist, obwohl es letztlich eben doch nicht überraschend war. Überraschend war der Zeitpunkt, aber nicht die Tatsache als solche. Das war für mich dann schon eine Überraschung, diese Reaktion hätte ich mir nicht träumen lassen, denn eigentlich dachte ich, dass ich mich innerlich schon eigentlich darauf eingestellt hatte und damit abgefunden hatte, dass es so kommen würde. "

Sabine: " Und dann habe ich diese Nacht, als ich dann eben nach Hause gekommen war, bei meinem Vater geschlafen, und in dieser Nacht starb er. Wie ich dann meine Mutter geweckt habe und gesagt habe, der Vater ist tot, wie sie damit umgegangen ist. Jetzt kommen mir fast die Tränen, weil ich sie so toll fand. Ja, dass sie als Erstes auf dem Flur in den Spiegel guckte und sich kämmte und sagte: Der Vater hat mich nie unordentlich gesehen. Das soll auch jetzt nicht so sein. Dann haben wir beiden Frauen, der Tod war etwa nachts halb zwei, haben wir an dem Bett gesessen. Und für diese Stunden bin ich einfach ganz dankbar, ganz, ganz dankbar. Dieses Zeit lassen, einfach sitzenbleiben. Und das hat sie mir einfach vorgemacht. Und diese Stunden sind ganz kostbar für mich. Wir haben Zigarettchen geraucht. Geschwiegen. Geweint. Dann irgendwas erzählt. Es war ganz vertraut und ganz leise und ganz schön. "

Sebastian: " Das war für mich ausgesprochen schlimm. Mein Vater ist sehr plötzlich gestorben an einem Gehirnschlag. Ich bin nach Hause gekommen zum Mittagessen. Er lag im Schlafzimmer. Und dieses Bild von meinem Vater, als er da lag, habe ich noch sehr deutlich vor Augen, also mit diesem um den Kopf geschlungenen Handtuch, um den Kiefer festzuhalten. Und ich legte dann meinen Kopf auf seinen Körper und war ganz erschrocken, dass es ja in ihm noch sehr lebendig war. Also es gluckste so im Bauch. Ich hab mich erschrocken, bin dann rausgegangen. Und die Tatsache, dass mein Vater gestorben war, dass er nun tot war, für mich nicht mehr erreichbar war, ist mir erst während der Trauerfeier aufgefallen, als die Sargträger mit großen Hüten und einem Säbel an der Seite, als die rein kamen und den Sarg anhoben und raus trugen, da war für mich solche Situation, weiß ich noch, dass ich, glaube ich, das erste Mal wirklich hemmungslos in Tränen ausbrach ... "

Der Tod der alten Eltern ist das Normale, das zu Erwartende. Die Kinder sind längst erwachsen und leben ihr eigenes Leben. Und deshalb denken viele so wie Simone de Beauvoir dachte, bevor ihre eigene Mutter starb:

"Ich verstand nicht, dass man allen Ernstes um einen Angehörigen, einen alten Verwandten weinen kann, der über 70 Jahre alt ist. Wenn ich einer 50jährigen Frau begegnete, die verzweifelt war, weil sie eben ihre Mutter verloren hatte, hielt ich sie für neurotisch."

Als Simone de Beauvoir um ihre Mutter trauerte, erlebte sie, dass das keinesfalls neurotisch ist. Es ist normal, dass der Tod ihrer alten Eltern Söhne und Töchter tief berührt und lange beschäftigt. So wie einst Sigmund Freud. Nach dem Tod seines Vaters schrieb er:

"Auf irgendeinem der dunklen Wege hinter dem offiziellen Bewusstsein hat mich der Tod des Alten sehr ergriffen. Ich hatte ihn sehr geschätzt, sehr genau verstanden, und er hat viel in meinem Leben gemacht, mit der ihm eigenen Mischung von tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn. Er war lange ausgelebt, als er starb, aber im Innern ist wohl alles Frühere bei diesem Anlass aufgewacht. Ich habe nun ein recht entwurzeltes Gefühl."

"Alles Frühere" steht Sohn und Tochter vor Augen, und das bedeutet: Nach dem Tod der Eltern beginnt für viele eine Zeitreise besonderer Art. Die eigene Kindheit wird belebt mit allem Schönen und Schrecklichen. Die damit verbundenen Gefühle können heftig und vielschichtig sein.

Katharina: " Bei beiden Eltern überwog das Gefühl zunächst der Erleichterung. Also, da hab ich richtig mit zu tun gehabt. Das war ja nun gar nicht üblich. Und ich konnte gar nicht sagen, dass ich also groß Trauer trug. Da sind so viele Schwierigkeiten gewesen, so viele Enttäuschungen ständig. Da hab ich sehr mit mir gekämpft, mir das überhaupt zuzugestehen, dies Gefühl der Erleichterung. Das war sehr merkwürdig und schwierig für mich selber, dass ich der Norm nicht entsprach, jetzt also sehr traurig und verlassen mir vorzukommen, sondern ganz das Gegenteil zunächst, diese Eltern, die nicht Eltern waren, sondern eher Kinder waren, die nicht mehr am Bändel zu haben. Aber das Schöne war, dass ich das zulassen konnte eine ganze Weile, also bestimmt ein paar Monate, und dann doch eine Trauer kam, so ein herzliches Gefühl von Wärme. "

Die Äußerungen von Simone de Beauvoir und Sigmund Freud zeigen, dass sich die Trauergefühle im Verlauf der letzten einhundert Jahre nicht geändert haben. So groß die Unterschiede im individuellen Empfinden sein können, generell bleiben sie auch über Generationen hinweg gleich.

Eines hat sich im Laufe der Zeit jedoch deutlich verändert: Da, wo früher Konventionen den ehrlichen Ausdruck individueller Gefühle verboten, da wo Pietät Beisetzung und Trauer ritualisierte, ist heute die Freiheit entstanden, sich wahrhaftig zu äußern. Dabei wird deutlich, dass es beim Abschied von den Eltern um weit mehr geht als um Traurigkeit.

Trauer ist das von vielen erwartete Gefühl nach dem Tod der Eltern. Erleichterung zu verspüren, verstößt ebenso gegen Tabus wie Wut und Ablehnung. Allerdings sind widersprüchliche Gefühle nahe liegend, denn auch die Beziehungen waren ja widersprüchlich. Simone de Beauvoir, die sich vom Tod ihrer Mutter tief erschüttert fühlte, hat das treffend beschrieben:

"Unsere frühere Beziehung lebte also in ihrer doppelten Gestalt in mir weiter: als geliebte und zugleich verwünschte Abhängigkeit. Sie lebte in ihrer ganzen Stärke wieder auf, als Mamas Unfall, ihre Krankheit und ihr Tod die Routine durchbrachen, die sonst unsere Beziehungen bestimmte. …
Die "liebe kleine Mama", die sie in meinem zehnten Lebensjahr für mich war, unterscheidet sich nicht mehr von der feindseligen Frau, unter deren Druck meine Jugend stand. Als ich meine alte Mutter beweinte, beweinte ich alle beide. Das Traurige am Scheitern unserer gegenseitigen Beziehung, mit dem ich mich abgefunden zu haben glaubte, wurde mir wieder beklemmend deutlich."

Auch wenn Eltern-Kind-Beziehungen nicht als gescheitert betrachtet, sondern als überwiegend positiv empfunden werden, sind Hoffnungen unerfüllt geblieben.

Sebastian: " Es wird etwas hinausgetragen, was lange Zeiten in meinem Leben eine ganz, ganz wichtige Person war, unabhängig wie das Verhältnis war und welche Wünsche ich an meinen Vater hatte, die er nicht erfüllt hat oder nicht erfüllen konnte. All das, ja, vor allen Dingen auch die offen gebliebenen Wünsche, werden dann weggetragen. "

In der Trauer um die Eltern zeigt sich genau genommen oft vor allem Trauer um einen selbst. Das, was in der Beziehung zu Vater und Mutter gefehlt hat, wird nun unumstößlich. Es wird nie mehr gutzumachen sein. Die Trauer um "das Versäumte", wie Peter Weiss es nannte, packt viele Söhne und Töchter:

"Die Trauer, die mich überkam, galt nicht ihnen, denn sie kannte ich kaum, die Trauer galt dem Versäumten, das meine Kindheit und Jugend mit gähnender Leere umgeben hatte. Die Trauer galt der Erkenntnis eines gänzlich missglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte lang beieinander ausgeharrt hatten. Die Trauer galt dem Zuspät, das uns Geschwister am Grab überlagerte und das uns dann wieder auseinander trieb, ein jedes in sein eigenes Dasein."

Gerade dann, wenn die Beziehungen zu den Eltern als belastend empfunden wurden, gerade dann, wenn es nicht gelungen war, sich mit Vater und Mutter zu versöhnen und damit auch mit der eigenen Herkunft, ist es überraschend zu spüren, wie sehr man dennoch als längst Erwachsener an die Eltern gebunden geblieben ist.

Franziska: " Mit 36 Jahren habe ich mich plötzlich als Vollwaise gefühlt. Ich hatte überhaupt kein Zuhause mehr, auch dadurch, dass sie beide hintereinander so schnell gestorben sind. Ich hatte vorher immer noch das Gefühl, ich habe ein Zuhause, was ich doppelt hatte: eins, was ich mir selbst gemacht hatte, und eins, was die Eltern mir gestellt haben. Ob ich es angenommen habe oder nicht. Ich hatte es. Es war irgendwo da. Und es war eine Idee von Zuflucht, von Geborgenheit damit verbunden. Und die war auf einmal nicht mehr da. Ich fühlte mich wirklich ohne Zuhause und ohne ein Nest, wohin ich mich hätte flüchten können. Und ich habe ganz lange mich etwas kokett dann als Vollwaise bezeichnet, was natürlich auch komisch ist, wenn so Ende dreißig dann einer so jammervoll sagt: Und nun bin ich Vollwaise. Aber so habe ich mich gefühlt, verlassen. Und das ist so was, wo man so richtig noch mal ganz tief ins Kindsein zurückfällt und dann plötzlich merkt, nun ist man das Kind, was man vielleicht immer noch mal hätte sein wollen, um nach Haus zu fahren zu den Eltern, und da das zu finden, was man sucht, das gibt’s dann gar nicht mehr. Auch nicht mal mehr die Idee davon. "

Das Elternhaus ist und bleibt ein ganz besonderer Ort. Wenn die Eltern dort bis zu ihrem Ende gewohnt haben, wo man selbst aufgewachsen ist, geht dieser einzigartige Ort mit ihrem Tod meist verloren, der Platz, der oft auch eine Art Familienzentrale war, an dem sich Kinder und Enkel mit den Eltern zusammenfanden zu Festen und Feiern, wo sich Geschwister, Schwager und Schwägerinnen selbstverständlich trafen, auch wenn ihre Beziehungen sonst womöglich angespannt waren.

Sabine: " Der zentrale Punkt fiel auch weg, diese Treffen in Großfamilie, auch bei meinen Schwiegereltern, die immer so ein zentraler Anlaufpunkt gewesen sind auch in der Rhön. Nach dem Tod meines Mannes bin ich dann mal alleine in die Rhön gefahren und hab dann vom Hotel aus auf das Grundstück runtergeguckt des Hauses, wo ich über 20 Jahre immer wieder gewesen bin. Das hat mich erst mal aus den Angeln gehoben, weil ich daran gemerkt habe, dass das mein Leben war, wo ich bloß noch runtergeguckt hab, was wirklich bloß noch Erinnerung ist. "

Bevor alles zu Erinnerungen wird, stehen Sohn und Tochter vor der Aufgabe, die Wohnung, das Haus der Eltern zu räumen. Wie viel Zeit sie sich dafür nehmen und mit welchen Gefühlen sie es tun, sagt viel. Peter Weiss schrieb über den letzten Aufenthalt in seinem Elternhaus:

"In den folgenden Tagen vollzog sich die endgültige Auflösung der Familie. Eine Schändung und Zerstampfung fand statt, voll von Untertönen des Neids und der Habgier, obgleich wir nach außen hin einen freundlichen überlegenen Ton besten Einvernehmens zu wahren suchten. Auch für uns, obgleich wir uns längst davon entfernt hatten, besaßen alle diese angesammelten Dinge ihren Wert, und plötzlich war mit jedem Ding eine Fülle von Erinnerungen verbunden. … Wir zogen und schoben an den Stühlen, Sofas und Tischen herum, gewaltsam brachen wir die Ordnung auseinander, die immer unangreifbar gewesen war, und bald glich das Haus einem Möbellager, und die Gegenstände, von der Hand unsrer Mutter ein Leben lang gehütet und gepflegt, lagen in verschiedenen Zimmern zu fünf großen Haufen geschichtet, teils um übernommen, teils um verkauft zu werden … Da war mir, als öffnete sich die Tür und meine Mutter erschiene, fassungslos in das geisterhafte Treiben ihrer Kinder starrend. In jedem von uns starb etwas in diesen Tagen, jetzt, nach der Plünderung, sahen wir, dass dieses Heim, aus dem wir ausgestoßen worden waren, doch eine Sicherheit für uns verkörpert hatte, und dass mit seinem Aufhören das letzte Symbol unserer Zusammengehörigkeit verschwand."

Die Sachen der Eltern zu räumen, zu verteilen, kann auch ganz anders empfunden werden: als notwendiger, aber auch hilfreicher Anlass zur Besinnung.

Franziska: " Ich habe es als Abschluss empfunden, den Haushalt auflösen zu können und so die Geschichte, meine Lebensgeschichte dabei noch mal aufrollen zu können und die Geschichte dieses Hauses, dieses Haushaltes, gerade weil meine Eltern eben ja auch gar nichts weggeschmissen, weggeworfen haben, war alles noch da, und es war eine geschichtliche Aufarbeitung, und die fand ich ganz wichtig und die hat mir auch sehr geholfen bestimmt. "

Die Eltern sind begraben, das Elternhaus ist aufgelöst. Die formalen Dinge sind geregelt. Die Umwelt erwartet, dass Sohn und Tochter zur Tagesordnung übergehen, sich ihrer Arbeit, ihren Ehepartnern, ihren Kindern, ihren Freunden widmen wie zuvor. Aber vielen ist das längst noch nicht möglich.

Sebastian: " Meine Mutter war die letzte in meiner Familie - Vater, Großmutter waren tot -, und plötzlich hatte ich so, wenn ich das Gefühl beschreibe, so etwas wie, es ist keiner mehr hinter mir, also keiner, der mir Rückendeckung gibt oder auf den ich mich berufen kann oder wo auch, wie auch immer, so ein Zugehörigkeitsgefühl ist. Ich war plötzlich in dem Bewusstsein, ich bin jetzt alleine in der Welt, und da ist nichts mehr hinter mir, also kein Schutzschild im Rücken. Das hat mich sehr beschäftigt damals. Es hat mich auch für eine Weile arbeitsunfähig gemacht, also ich hab im Studium nur noch das gemacht, was ich unbedingt machen musste. Aber ansonsten war ich, zumindest in meinem gesamten Verständnis von mir, sehr geschwächt. "

Katharina: " Der stärkste Eindruck nach dem Tod beider Eltern ist eine gewisse Verlorenheit. Also: Es ist alles weg da oben, hab ich immer so das Gefühl. Und jetzt bin ich da so hoch- und nachgewachsen. Ja, ein Einsamkeitsgefühl ist das einerseits, verloren, betroffen, also auch verwirrend, irritierend, erst mal so wieder sich zu sammeln, ja, wo steht man jetzt? Jetzt sind die weg, weg. Du bist doch dein ganzes Leben, egal wie schwierig und kompliziert und belastend das Verhältnis war, aber irgendwie lebst du doch in Bezug von Anfang an. Und jetzt ist dieser Bezug weg. Also für mich ist das eine gewisse Ratlosigkeit auch und eine Situation, wo ich mich neu orientieren muss. "

Ein Kind ist ohne Mutter, ohne Vater existentiell bedroht. Es braucht Eltern, es braucht zuverlässige Erwachsene zum Überleben. Je älter das Kind wird, umso stärker verinnerlicht es die Eltern und trägt sie so als Sicherheit in sich. Das erlaubt dem Kind, sich ohne allzu große Angst von den Eltern zu entfernen, seinen Radius immer mehr zu vergrößern, bis es eines Tages ganz fortgehen kann, um sein eigenes Leben zu führen. Der Tod der Eltern zeigt, wie zentral die in früher Kindheit von ihnen verkörperte Sicherheit für das Selbstgefühl bleibt. Mit dem Tod der Eltern scheint vielen Söhnen und Töchtern ihre eigene Sicherheit fragwürdig. Das führt in Ängste, in Wut, in Schwäche und womöglich auch in Scham.

Sabine: " Was mich vor allen Dingen auch an mir selber irritiert hatte, ich hatte ja eine eigene Familie. Ich hatte mein ganz eigenes Leben mit meinen Kindern, mit meinem Mann, dass mich der Tod einer Mutter, die auch gar nicht täglich präsent war, gegenwärtig war, dass mich das so vom Hocker reißen würde, also dass da so eine große Irritation von keiner sagt mehr zu mir Sabinchen. Keiner öffnet die Tür für mich und ich bin generell willkommen. Die Freude ist einfach da, weil ich da bin, dieses uneingeschränkte Vertrauen oder bei jemandem Zuhause zu sein, zu ihm zu gehören ohne Zweifel haben daran, damit musste ich erst klar kommen, dass mich das so irritieren würde, obwohl ich mich in meiner eigenen kleinen jungen Familie sehr gut gefühlt habe. Da habe ich lange Zeit gebraucht. Und das hat mich sehr zerfetzt auch. Dann eben auch dieses merkwürdige Gefühl, du hast mich alleine gelassen. Auch mit Wut, dass sie mich alleine gelassen hat. Also völlig aberwitzig. Es war mir, glaube ich, auch ziemlich schnell klar. Ich bin ein erwachsener Mensch, und mein Blick ist nur immer mal zurückgegangen. "

Nach dem Tod des zweiten Elternteils gibt es keine elterliche Instanz mehr. Plötzlich scheint Halt zu fehlen, scheint die eigene Identität unsicher zu sein.

Davon erzählt auch ein Traum, den der amerikanische Schriftsteller Philip Roth nach dem Tod seines Vaters hatte. Er träumte sich auf einem großen Schiff, eine Art Kriegsschiff, dass manövrierunfähig auf den Strand zu trieb. Es gab keine Besatzung, nur andere Kinder, und alle warteten offenbar auf ihre Evakuierung.

"Ich erwachte, verzweifelt und verschreckt und traurig – und da verstand ich, dass es nicht darum ging, dass mein Vater an Bord des Schiffes war, sondern dass mein Vater das Schiff war. Und evakuiert zu werden war physiologisch eben das: ausgetrieben, hinausgeschleudert, geboren zu werden."

Das klingt höchst beunruhigend. Und tatsächlich ängstigt manche Söhne und Töchter die endgültige Trennung von den Eltern zutiefst. So wie einst den Komponisten George Bizet:

"Nachts fühle ich manchmal schreckliche Qualen. Ich träume, ich müsste mich in einen Sessel werfen, und sehe dann meine Mutter ins Zimmer treten. Sie bekreuzigt sich, stellt sich neben mich und legt mir die Hand aufs Herz. Dadurch verschlimmern sich die Qualen; ich meine zu ersticken, und mir scheint, dass ihre auf mir so schwer lastende Hand die wahre Ursache meiner Qualen sei."

Der Tod der Eltern belebt nicht nur existentielle Ängste der frühen Kindheit, er macht auch die eigene Endlichkeit auf besondere Weise spürbar. Wenn Vater und Muter nicht mehr leben, fühlen Sohn und Tochter, dass sie vermutlich die nächsten sein werden, die ihnen folgen müssen. Die Begrenztheit des eigenen Lebens wird konkreter.

Katharina: " Wovor man so fassungslos steht, ist, dass es absolut und radikal zu Ende ist, auch für sich selber dann. Das weiß man ja dann. Das geht einem ja fast in den Körper, dass das dann auch eines Tages wirklich, zumindest für diese Existenz, ganz, ganz zu Ende ist und aufhört. Das ist eine ganz, ganz wichtige Sache: Dies Gefühl, deine Zeit ist bemessen, auch die ganze Sinnfrage, wie hast du dein Leben bisher geführt, wie willst du es weiterführen. Auch diese Traurigkeit, die damit verbunden ist, mit diesem Thema nicht, nicht, gar nicht mehr sein. Die verhilft mir aber auch zu einer größeren Intensität zu leben. Da kommt so ganz, ganz starkes Glücksgefühl auch noch zu leben. Nicht mehr nur zu leben, sondern eben noch zu leben, wenn man das so stark empfunden hat. Und diese Intensität möchte ich nicht missen. "

Je eindeutiger, je geklärter die Beziehungen zu den Eltern waren, umso eindeutiger sind auch die Gefühle beim endgültigen Abschied von ihnen.

Bruno: " Es war mehr eine Art von Bilanz meiner Beziehung zu meinem Vater, also dass mir das noch mal so durch den Kopf gegangen. Im Grunde ist das eine Sache, die für mich schon lange vorher abgeschlossen war, eben weil er, bedingt durch sein Alter und seine Krankheit, einfach zunehmend eingeschränkt war und sich da eigentlich gar nichts Neues mehr ergeben hat. Und meine Bilanz meiner Beziehung zu ihm, die war eigentlich schon fertig. Ich hab sie nur noch mal rekapituliert. Das Verhältnis zu meinem Vater eigentlich war vom Grundgefühl her positiv und für mein Empfinden schon lange vor seinem Tod abgeschlossen. Da gab es keine neue Entwicklung mehr und keine offenen Fragen. "

Wenn die Beziehungen zu den Eltern geklärt waren, fällt es leichter, von sich selbst abzusehen und tatsächlich um die Toten zu trauern, das heißt, ihr Leben und ihr Lebensende zu bedenken.

Bruno: " Diese Trauer, diese starke Trauer, die eigentlich alles andere so völlig verdrängt hat, das ist eine Sache, die nicht lange anhält, die wie alle ganz intensiven Gefühle, glaube ich, nicht lange anhalten können einfach. In dem Maße, wie der wirklich starke Schmerz nachlässt, da kommen halt mehr so die intellektuellen Seiten der ganzen Geschichte der Reaktion darauf zum Tragen. Das war dann schon eigentlich eher so, wie ich mir das vorgestellt hatte, eben eine gewisse Erleichterung, dass mein Vater letztlich einen, wie man so sagt, gnädigen Tod gehabt hat ohne eigentliches Siechtum, ohne Krankenlager und Abhängigkeit von anderen Personen."

Befinden sich Sohn oder Tochter noch mitten in der Auseinandersetzung mit ihren Eltern, fällt es ihnen nach dem Tod von Vater und Mutter besonders schwer, Ruhe und Klarheit zu gewinnen.

Franziska: " Wir waren uns ja überhaupt schon lange nicht mehr gut. Wir konnten nichts miteinander anfangen, und meine Mutter, glaube ich, hat gemeint, dass ich ihr böse bin. Und ich fand, sie hat sich ziemlich unmöglich verhalten. Und als sie dann gestorben war, habe ich mich natürlich immer gefragt, was hätte ich anders machen können, was hätte ich anders machen sollen. Was habe ich verkehrt gemacht. Vor allen Dingen habe ich festgestellt, dass ich sie ja mit dem Tod auch überhaupt in keiner Weise losgeworden bin. Was anders geworden ist, ist dass letztlich ihre Hilfe oder ihr Widerstand oder ihr Bösesein, nichts hilft mir mehr, sondern sie ist einfach nicht mehr da. Sie ist kein Gegner mehr. Ich muss mich jetzt ganz alleine mit ihr auseinandersetzen. Und ich war nachher sehr schuldbewusst, weil ich mir einige Vorwürfe gemacht habe. Wenn, dann habe ich eigentlich immer nur gedacht, sie hat sich aus dem Staub gemacht, sie hat mich damit allein sitzen lassen. "

Nach dem Tod der Eltern wird deutlich, wie weit ihre Kinder mit der Aufgabe gekommen sind, die grundlegenden Eltern-Kind-Konflikte zu klären und sich innerlich zu lösen. Zum seelischen Erwachsenwerden gehört es auch, sich die elterlichen Erwartungen entweder zu eigen zu machen oder abzuweisen, eigenen Lebensentwürfen zu folgen.

An den Biografien von Künstlern ist manchmal gut zu erkennen, dass der Tod der Eltern ein Einschnitt ist, der nicht nur mit Ängsten, Schmerz und Schuldgefühlen, sondern auch mit neuen Möglichkeiten, mit größerer Freiheit verbunden ist. Gut dokumentierte Beispiele finden wir in der Familie Mann. Der Vater von Heinrich und Thomas Mann wollte noch über seinen Tod hinaus über die Söhne bestimmen und verfügte in seinem Testament:

"Den Vormündern mache ich die Einwirkung auf eine praktische Erziehung meiner Kinder zur Pflicht. Soweit sie es können, ist den Neigungen meines ältesten Sohnes zu einer s.g. literarischen Thätigkeit entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Thätigkeit in dieser Richtung fehlen ihm m.E. die Vorbedingnisse: genügendes Studium und umfassende Kenntnisse. Der Hintergrund seiner Neigungen ist träumerisches Sichgehenlassen und Rücksichtslosigkeit gegen andere, vielleicht aus Mangel an Nachdenken."

So drastisch und direkt versuchen Eltern nur selten, Einfluss auf ihre Kinder zu nehmen. Aber auch die unausgesprochenen Lebensaufträge haben bekanntlich Wirkung und können Tabus und Skrupel erzeugen. Golo Mann, der jüngste Sohn von Thomas Mann, war 46 Jahre alt, als sein Vater starb. Es ist bedrückend zu lesen, dass er seinen Vater als monumentale Last empfand, die seine eigenen Lebensentwürfe zu erdrücken drohte:

"Dass ich im Grunde ja doch zum Schriftsteller bestimmt war, sei es auch nur zum historisierenden, ein wenig philosophierenden, verbarg ich mir lange Zeit; unbewusst wohl darum, weil ich meinem Bruder Klaus nicht ins Gehege kommen und weil ich den Tod meines Vaters abwarten wollte."

Der Tod der Eltern setzt eine Zäsur. Die Zeitreise zurück in die eigene Kindheit durch verwirrende, durch schöne und schreckliche Gefühle verändert. Sie lässt womöglich Hindernisse erkennen, die sich in dauerhaften Schuld- oder Hassgefühlen zeigen können. Dann ist es womöglich nötig, einen Lotsen an Bord zu nehmen, der dabei hilft, die Hindernisse aufzulösen. Die meisten aber bewältigen die Reise gut allein und spüren irgendwann, dass sie unterwegs unabhängiger und reifer geworden sind. Es gibt zwar keine "Rückendeckung" durch die Eltern mehr, aber auch keine Verpflichtungen ihnen gegenüber.

Sebastian: " Mit dem Tod meiner Mutter bin ich auch aus der gesamten Familienkonstellation befreit worden. Wenn das so bewusst wird oder auch gespürt wird nach dem Prozess des Schmerzes und auch der Angst, die da zuerst war, so sich alleine zu fühlen, dann ist das der Weg, der also letztlich dazu geführt hat, dass ich jetzt auch sagen kann, das war eine Befreiung. Diese Erfahrung hat mein Rückgrat gestärkt. Ich bin für das, was ich tue und was jetzt ist, wirklich alleine verantwortlich. Und es hat nichts mehr mit meinen Eltern zu tun. Das war sicherlich auch schon vordem nicht mehr, nur die Empfindung, die dazugehört, die war neu. Und das meine ich, ist so eine Stärkung gewesen. "

Die Stärke, die sich in der Fähigkeit zur Unabhängigkeit erweist, führt auch zu liebevollen und dankbaren Gefühlen jenen gegenüber, die einen so tief geprägt haben, den Eltern. So können sich verwirrende und peinigende Trauerschmerzen verwandeln in das Gefühl weitreichender Verbundenheit.

Philip Roth hat es nach dem Tod seines Vaters so ausgedrückt:

"Es war nicht so, dass ich nicht verstanden hatte, dass die Verbindung mit ihm verwickelt und tief war – was ich nicht gewusst hatte, war, wie tief tief sein kann."