Wenn das Leben zum Kunstwerk wird

07.11.2011
Eine spannende Beziehung: die Fluxuskünstlerin und der Komponist der modernen Klassik - Karlheinz Stockhausen und Mary Bauermeister. Erst war sie seine Muse, dann Ehefrau und Mutter zweier seiner Kinder. Jetzt hat sie ein Buch über ihr Leben mit dem Komponisten geschrieben.
Er war eine treibende Kraft der Neuen Musik, mit "Licht" schrieb er das wohl umfangreichste Bühnenwerk überhaupt, und dabei hatte Karlheinz Stockhausen (1928-2007) noch Zeit für ein Privatleben. Genauer gesagt: für mehrere. Mary Bauermeister (geboren 1934), langjährige Muse, zweite Ehefrau und Mutter von zweien seiner sechs Kinder, erinnert sich in diesem Buch an ihr Leben mit dem Komponisten. Schnell wird deutlich, dass der Meister der seriellen Musik kein Freund der seriellen Monogamie war. In puncto Frauen hielt er sich eher an die Prinzipien der klassischen Polyphonie: viele Stimmen auf einmal. Und so sagte er seiner Gattin Doris 1957 keinesfalls Adieu, als die jüngere Mary auf den Plan und schrittweise in sein Leben trat - eine Malerin, in deren Kölner Atelier John Cage, Nam June Paik und Christo ihre ersten Happenings veranstalteten.

"Insgeheim bat er wohl Gott um die Erlaubnis zu dieser Erweiterung des Ehebundes": Eine offene "ménage à trois" ist Stockhausens Modell zu Beginn der 1960er-Jahre; es funktioniert halbwegs, wobei Bauermeister eigene wie gesellschaftliche Vorbehalte gegen diese Lebensform anschaulich schildert. Später siegt die Konvention, Stockhausen lässt sich von seiner ersten Frau scheiden und ist mit Mary Bauermeister von 1967 bis 1973 verheiratet - zumindest auf dem Papier. Die Frage "Wer mit wem?" stellt sich hier nicht, die Antwortet lautet ohnehin "Er mit allen". Wie ein Wanderprediger schreitet denn auch Stockhausens Kollege Pierre Boulez durch dieses Buch und fordert, ein Künstler dürfe nur für sein Werk leben. Das Paar Bauermeister - Stockhausen allerdings war nicht bereit, eine Grenze zwischen Werk und Leben anzuerkennen.

Karlheinz Stockhausen machte Mary Bauermeister nicht nur zum Thema seiner Musik, sondern holte sich von ihr auch esoterische Anregungen und nicht zuletzt praktische Hilfe: Das Design des "Licht"-Zyklus geht auf ihre Entwürfe zurück. Der penible Komponist und die anarchische Malerin ergänzten sich perfekt, weswegen Bauermeister ihren Partner auch auf Augenhöhe schildern kann. Kein Vergleich zu Alma Mahler-Werfel, die in ihrer klassischen Künstlerwitwen-Autobiographie kein Verständnis für das zeigt, was ihre berühmten Gatten und Liebhaber taten, wenn sie ihr einmal nicht zu Füßen lagen.

Bauermeisters Bericht scheint gelegentlich zur Verklärung zu tendieren, allerdings muss Stockhausens Leben und das Zusammenleben mit ihm wirklich märchenhafte Züge gehabt haben. Im schnellen Wechsel finden wir das Künstlerduo an immer neuen Orten wieder, stets öffnen sich ihm Türen zu außergewöhnlichen Persönlichkeiten sowie zahlreichen Berühmtheiten, von Leonard Bernstein bis zu Marc Chagall. Auf einer Wanderung in der nordamerikanischen Wildnis begegnet das hohe Paar der Avantgarde allerdings auch einem ästhetisch nicht aufgeschlossenen Braunbären - klar, dass Karlheinz sein "Mariechen" rettet!

Die Abwesenheit jeglicher Häme macht dieses Buch so liebenswürdig. Bauermeister singt ein Loblied auf ihren Ex-Partner, ohne die Schattenseiten der turbulenten Beziehung zu verschweigen. Diese unverblümte und frische Erzählung ist nicht nur Sittengemälde und Künstlerporträt - sie vermittelt im besten Sinne das, was der darin mehrfach auftretende Zen-Meister Daisetzu Suzuki einfordert: Authentizität.

Besprochen von Olaf Wilhelmer

Mary Bauermeister: Ich hänge im Triolengitter. Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen
Bertelsmann, München 2011
334 Seiten, 21,99 Euro
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