Wenn das Lächeln unerwidert bleibt

Beate Herpertz-Dahlmann im Gespräch mit Katrin Heise · 20.08.2009
Beate Herpertz-Dahlmann, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Aachen, über Krankheitsbild und Heilungschancen des Asperger-Syndroms.
Katrin Heise: Leben mit dem Asperger-Syndrom. Kristin Rabe hat die Betroffene Katrin porträtiert. Ein Interview, das – wie man sich es sicherlich vorstellen kann – sehr schwer zu führen war, denn eins der größten Probleme für Autisten und das Asperger-Syndrom, das ist eine Form des Autismus, das größte Problem für diese Patienten ist das menschliche Miteinander, das Agieren in der Öffentlichkeit. Ich begrüße jetzt Beate Herpertz-Dahlmann. Sie ist Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Aachen. Schönen guten Tag!

Beate Herpertz-Dahlmann: Guten Tag, Frau Heise!

Heise: Frau Herpertz-Dahlmann, was heißt das eigentlich, menschliche Regungen nicht deuten können?

Herpertz-Dahlmann: Das ist genau das Problem, was Menschen mit Asperger-Autismus, aber auch mit anderen Formen des Autismus haben. Das fängt schon damit an, dass Kinder, die an einer solchen autistischen Störung leiden, den Gesichtsausdruck von einem anderen Menschen nicht deuten können. Das heißt, sie können nicht erkennen, ob ihr Gegenüber zum Beispiel traurig ist, ob er glücklich ist, ob er sich freut. Und mir hat ein Junge, der an einer solchen Störung leidet, mal gesagt, er fühlt sich so, als wäre er ständig im Ausland. Er kann einfach nicht verstehen, was mit den anderen Menschen ist. Und Sie können sich sicherlich vorstellen, dass das natürlich auch das Alltagsleben – wir sind nun mal soziale Wesen als Menschen – auch sehr behindert.

Heise: Wie bekommen Sie denn einen Draht zu diesen Kindern?

Herpertz-Dahlmann: Es ist zu Anfang sicherlich sehr wichtig, sich auch auf die speziellen Interessen eines solchen Kindes, eines solchen Menschen einzustellen. Man kann aber auch denjenigen sehr deutlich klarmachen, dass man jetzt zum Beispiel über eine bestimmte Sache, die vielleicht nicht gerade in die Sonderinteressen desjenigen fallen, sprechen möchte, und das geht dann eigentlich auch recht gut. Also wenn diese Menschen einem vertrauen, wenn sie verstanden haben, dass man zum Beispiel auch ihre persönlichen Nöte, ihre Bedürfnisse versteht, also zum Beispiel auch akzeptiert, wenn sie sich mal zurückziehen müssen, wenn sie bei einem bestimmten Zeitverlauf, wie das jetzt bei der gerade geschilderten Patientin war, nachgehen müssen, wenn man so etwas berücksichtigt, dann geht es eigentlich relativ gut. Und ich hab viele Patienten, zu denen ich auch eine sehr langjährige Beziehung habe. Was man nicht verlangen kann, ist, dass diese Patienten zum Beispiel sich selbst in einen einfühlen – also zum Beispiel fragen würden "Wie geht es Ihnen?" oder "Sie schauen irgendwie so unglücklich drein". Diese Reaktion kann man nicht erwarten.

Heise: Wie sind eigentlich die ersten Anzeichen, woran erkennt man das Asperger-Syndrom?

Herpertz-Dahlmann: Vielleicht sagen wir besser, wie erkennt man das autistische Syndrom. Wir bemühen uns im Moment in Deutschland, das sehr, sehr früh zu erkennen, also möglichst schon so bei Zwei- bis Dreijährigen. Wenn Eltern erfahren sind, also zum Beispiel schon ein Geschwisterkind haben, was gesund ist, dann merken die Eltern, dass zum Beispiel das Kind, der Säugling nicht die Hände hochhebt, um aus dem Bett aufgenommen zu werden, dass zum Beispiel dieses Lächeln, was uns ja alle sehr freut, wenn ein sechs Wochen, sieben Wochen alter Säugling anfängt, mit einem zu lachen, wenn man es anlächelt, dass dieses Lächeln eben nicht erfolgt, dass die Sprachentwicklung sehr stark verzögert ist, dass oft auch Stereotypien auftreten, das heißt, dass das Kind immer und immer wieder die gleichen Sachen macht. Das sind Merkmale, die einfach sehr früh dieses Desinteresse, was ein autistischer Mensch an der menschlichen Umwelt hat, zeigen können.

Heise: Sie haben jetzt von dem Desinteresse an der menschlichen Umwelt gesprochen, das Asperger-Syndrom, das zeichnet sich ja noch dadurch aus – wir haben’s eben auch in dem Beitrag gehört –, dass da aber ein Einzelinteresse ganz, ganz groß geschrieben wird. Bei der beschriebenen Katrin waren es eben diese Nummernschilder, die Faszination der Zahlen. Was hat’s mit diesen – Sie haben es Sonderbegabungen genannt –, was hat’s mit diesen sogenannten Sonderbegabungen eigentlich auf sich, welche Funktion haben die?

Herpertz-Dahlmann: Also es ist so, dass eben diese Menschen, die diese Störung haben, wir nennen es Sonderinteressen, und zum Teil kann dieses Sonderinteresse auch eine Sonderbegabung sein, haben, das heißt, dass diese Menschen sich für eine bestimmte Sache ganz extrem interessieren. Ich sag Ihnen ein paar Beispiele. Zum Beispiel kenne ich einen Patienten, der den Alkoholgehalt von sämtlichen Bieren auswendig weiß, einen anderen, der zum Beispiel alle Höhen von den wesentlichen Bergen in Europa auswendig weiß und die auch sofort nach der entsprechenden Höhe ordnen kann. Die Funktion ist, dass sozusagen das Interesse sich einfach dieser dinglichen Umwelt, wie wir sagen, viel mehr zuwendet als eben der menschlichen, der sozialen Umwelt. Und wir wissen auch, dass dem eben zugrunde eine Hirnfunktionsstörung liegt, wir wissen also sehr genau, das ist nicht etwas, was durch Erziehung bedingt ist, sondern das beruht auf einer Hirnfunktionsstörung. Und diese Hirnfunktionsstörung bedingt eben, dass man Detaildinge, also Zahlen, Fakten, sehr viel besser behalten kann als eben die oft recht komplexen Abläufe, die mit anderen Menschen zu tun haben.

Heise: Unser Thema im Rahmen unserer Woche über das Gedächtnis ist das Asperger-Syndrom. Beate Herpertz-Dahlmann ist meine Gesprächspartnerin hier im Deutschlandradio Kultur. Frau Herpertz-Dahlmann, wie können Sie denn jetzt diesen Kindern helfen, im Alltag zurechtzukommen, denn da hat ja zum Beispiel, was Sie eben aufgezählt haben, das Wissen über den Alkoholgehalt jeder Biersorte oder so, wenig Platz und auch wenig Bedeutung?

Herpertz-Dahlmann: Richtig, das ist auch genau das Problem. Also man sagt oder man weiß sehr genau, dass eben – um noch mal auf das Gedächtnis zurückzukommen – dieses gute Gedächtnis für Fakten oder Zahlen auf Kosten von anderen Gedächtnisfunktionen geht. Also wir wissen zum Beispiel, dass diese Menschen sich an eigene Erlebnisse, an Erfahrungen, die sie mit anderen Menschen gemacht haben, sehr viel schlechter erinnern können, als das eben jetzt gesunde Kinder oder gesunde Menschen tun. Ihre Frage, wie hilft man: Diese Frage ist gar nicht so einfach und letztendlich haben wir da auch noch nicht die wirklich hilfreiche Therapiemethode gefunden. Man versucht einfach, wenn man dieses Problem erkannt hat, sehr, sehr früh diesen Kindern beizubringen, auf sozusagen soziale Reize zu reagieren. Also um das praktisch auszudrücken, würde man zum Beispiel mit einem Kind, mit einem Vier- oder Fünfjährigen, der einen Asperger-Autismus hat, anhand von Bildern zum Beispiel üben, welchen Gesichtsausdruck zeigt der Mensch auf dem Bild. Und man würde sogar hingehen und versuchen, dass der Mensch, der den Autismus hat, auch selber versucht, mit einer entsprechenden Mimik zu antworten, weil es nicht nur so ist, dass die Patienten selber die Mimik bei anderen Menschen schlecht erkennen können, oft ist es auch für einen Gesunden da recht schwer, die Mimik bei einem autistischen Menschen zu deuten, weil die oft nicht so ausgeprägt ist, wie wir das zum Beispiel eben normalerweise kennen.

Heise: Ja, wie Sie das auch schon beschrieben haben, der Säugling lächelt eben nicht.

Herpertz-Dahlmann: Genau.

Heise: Können Sie eigentlich bei Ihren Trainings oder bei Ihren Therapien auch diese Spezialinteressen nutzen, die die Kinder ja haben?

Herpertz-Dahlmann: Also manchmal bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn man es negativ ausdrückt, muss man natürlich bedenken, dass diese Sonderinteressen sehr viel Energie nehmen, andere Dinge zu lernen. Also wenn ich den ganzen Tag zum Beispiel mich dafür interessiere, wie der Alkoholgehalt eines Bieres ist, werde ich andere Dinge nicht lernen. Und wir hatten zum Beispiel einen Patienten, der sich geweigert hat, englisch zu lernen, der aber sich sehr für Waschmaschinen interessierte. Und letztendlich war die einzige Möglichkeit, ihm ein Buch auf Englisch über Waschmaschinen zu schenken, um ihn dazu zu bringen, englisch zu lernen. Also hier versuchen wir uns manchmal, diese Sonderinteressen zunutze zu machen, um aber letztendlich die Patienten auf andere Interessen zu bringen, denn diese Eingeschränktheit macht im Grunde genommen natürlich auch einen wirklichen Lernfortschritt sehr schwer.

Heise: Aber es ist schon möglich – ich meine, im Beitrag haben wir’s ja auch gehört –, dass diese Menschen ihr Leben später allein im Griff haben?

Herpertz-Dahlmann: Durchaus. Also viele Menschen mit Asperger-Autismus sind in bestimmten Bereichen, also gerade auch im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, sehr begabt, und wenn sie dann oft einen Arbeitgeber finden, der zum Beispiel diese guten Fähigkeiten sieht, aber der ihnen einen Platz lässt, wo sie auch ihre Eigenarten ein Stück weit leben können, wo sie nicht zu sehr sagen wir mal in ein soziales Kommunikationsnetz eingebunden sind, dann geht das oft recht gut.