Weniger Menschen, mehr Möglichkeiten

21.03.2007
Der Soziologe Karl-Otto Hondrich nennt den demografischen Alterungsprozess einen "Glücksfall" für unsere Gesellschaft. Auf ökonomischer, sozialer und kultureller Ebene argumentiert er gegen die gegenwärtig gängigen Untergangsszenarien und entzaubert oft genannte Vorbilder: Die angeblich vorbildhaften französischen Geburtenraten etwa gehen mit immenser Jugendarbeitslosigkeit einher.
Niemand bestreit, dass in allen hoch entwickelten Gesellschaften, in allen Wohlfahrtsstaaten also, die Geburtenraten zurückgehen und zugleich die Lebenserwartung steigt. Mithin "altern" und "schrumpfen" diese Gesellschaften.

Die gängige Schlussfolgerung aus diesen Befunden ist: Das Altern und Schrumpfen stürzt die betroffenen Regionen in Krisen. Wirtschaftlich, denn es fehlen Arbeitskräfte, nicht zuletzt junge, innovative, wissenschaftlich ausgebildete, und es fehlen Konsumenten. Kulturell, denn es drängen Einwanderer aus weniger entwickelten Regionen mit hohen Geburtenraten nach, und es kommt zu Konflikten. Sozialpolitisch, denn von den Jungen, primär Produktiven, muss übermäßig viel auf die Alten, primär Konsumtiven, umverteilt werden.

Der im Januar dieses Jahres verstorbene Soziologe Karl-Otto Hondrich bezieht zu all dem eine Gegenposition. In seinem Buch "Weniger sind mehr" versucht er den Nachweis, dass die demografische Entwicklung keinerlei Anlass zur Sorge bietet, ja, dass sie "ein Glücksfall" ist.

Hondrich hat zwei Argumente.

Erstens: Die Anpassungsfähigkeit moderner Gesellschaften macht sie weitgehend unabhängig von "natürlichen" Vorgaben. Es schrumpfen also gar nicht die Gesellschaften, es schrumpft nur die Zahl ihrer Mitglieder. Die soziale Entwicklung selber sei davon aber nicht unmittelbar betroffen.

Und zweitens: Es geschieht nicht aufgrund moralischen Zerfalls oder mangelnder Einsicht, dass die Familien in modernen Gesellschaften kleiner werden und die Zahl der Alleinlebenden und Kinderlosen zunimmt. Sondern es folgt einer gewissen sozialen Vernunft. Die Wirtschaft lebt beispielsweise auf Kosten der großen Familien. Am liebsten hat sie junge Leute, die keine Kinder haben. Das steigert ihre Produktivität. Aber auch die Bildung lebt auf Kosten von Kindern, denn lange Ausbildungszeiten führen dazu, dass viele junge Leute die Entscheidung für Kinder hinausschieben.

Technik und Spezialisierung machen es dabei möglich, dass weniger Menschen mehr leisten. Zwischen der Bevölkerungszahl und dem wirtschaftlichem Leistungsniveau gebe es nur den einen Zusammenhang: Dass alle Nationen, deren Bevölkerung wächst, ökonomisch daniederliegen. Die angeblich vorbildhaften französischen Geburtenraten gehen mit immenser Jugendarbeitslosigkeit einher. Den fehlenden Konsum der Jungen, so Hondrich, werden die immer älter werdenden Alten ausgleichen, etwa durch zusätzliche Nachfrage nach medizinischen Leistungen.

Vom sozialpolitischen Problem meint er, dass es durch Anpassung der Leistungen und neue Solidaritäten gelöst werde. Das Rentensystem wird nicht untergehen, wir werden einfach nur weniger wohlhabend sein als früher. Doppelverdienertum wird zur Pflicht. Und die Aufwendungen für Schulen und Universitäten werden in Richtung Gesundheit und Alterssicherung umgeschichtet.

Außerdem sage die Zahl der Kinder nichts über die Qualität ihres Aufwachsens aus. Im Gegenteil, meint Hondrich, weniger Kinder erführen mehren Zuwendung. Zur Familie würden irgendwann auch nahe Freunde gezählt: Erweiterung der Solidargemeinschaft durch Verwandtenwahl – mangels Kinder rücken einem gewissermaßen die Tanten, Großeltern und Nachbarn näher.

Und schließlich die Sache mit den Einwanderern: Für Hondrich stellen sie kein kulturelles Problem dar, sondern ein arbeitsmarktpolitisches. Der Islam und Großfamilien sind danach für Einwanderer nur so lange interessant, wie man ihnen die Integration in Beschäftigung nur verheißt, aber nicht ermöglicht. Wir müssten uns also um unsere Kultur weniger Sorgen machen, wenn wir die Teilnahme an ihr attraktiver machen würden. Außerdem, meint Hondrich, unterschätzen wir das Ausmaß, in dem sich die Zugewanderten bereits "verwestlicht" haben.

Soll man das nun alles glauben? Hondrich sammelt viele bedenkenswerte Argumente gegen demografische Untergangs-Szenarien. Und er weist zu Recht darauf hin, dass der Verzicht auf Kinder ein gesellschaftlicher Trend ist, den man nicht einfach durch Ökonomisierung oder Moralisierung aufhalten kann. Als Kritik der Talkshow-Soziologie ist sein Buch sehr lesenswert.

Aber Hondrich fühlte sich offenbar auch verpflichtet, dem oft besinnungslosen Pessimismus seiner Kontrahenten einen ebenso entschlossenen Optimismus entgegenzusetzen. Das hat seinen intellektuellen Preis. Die Gleichung "weniger Kinder, mehr Zuwendung für sie" etwa leuchtet nur ganz abstrakt ein. Und auch der Befund, die Renten seien sicher, nur eben auf viel niedrigerem Niveau, ist ein bisschen nonchalant angesichts dessen, was das für die Betroffenen bedeuten kann. Das Gleiche muss man auch von der etwas arglosen Beschreibung der zugewanderten Unterschichten und ihrer Sozio-Demografie sagen.

Die Evolution wird’s schon richten – diese Aussage durchzieht den ganzen Text. Wer würde sie bestreiten wollen? Aber ob sie es gut richten wird, das ist nach wie vor eine offene Frage.


Rezensiert von Jürgen Kaube

Karl Otto Hondrich: Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2007
280 Seiten. 19,90 Euro