Weniger Kriege, weniger Völkermorde

09.11.2011
Die Welt wird immer friedlicher, behauptet der Harvard-Psychologe Steven Pinker in seinem 1200-Seiten Buch über die Geschichte der Gewalt. Im Interview spricht er über sinkende Opferzahlen, gescheiterte Staaten und die Wahrscheinlichkeit für künftige Kriege.
Frank Meyer: Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Gewalt, und es gibt nicht Wenige, die meinen, die Menschheitsgeschichte ist ein Kreislauf, ein Zyklus von immer wieder neu ausbrechenden Gewalteruptionen. Das ist falsch, sagt der Evolutionspsychologe Steven Pinker, Professor in Harvard und einer der maßgeblichen amerikanischen Intellektuellen.

Er hat ein 1200 Seiten mächtiges Buch vorgelegt, in dem er zu beweisen versucht, dass die Gewalt in der Menschheitsgeschichte immer mehr zurückgeht, und dass wir in einer der friedlichsten Epochen der Menschheit leben. Ich habe vor der Sendung mit Steven Pinker gesprochen und ihn zuerst gefragt: Man denkt bei Ihrer These sofort an die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, an den Völkermord an den Juden, an die vielen anderen Völkermorde im 20. Jahrhundert – dieses blutige Jahrhundert soll eines der friedlichsten der Geschichte sein?

Steven Pinker: Nicht insgesamt im 20. Jahrhundert, aber zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat in Europa die Gewalt deutlich nachgelassen, in den letzten 30 Jahren nicht nur in Europa, sondern auch in Asien, und das war ein Rückgang an Gewalt, der in der Menschheitsgeschichte ohne Beispiel ist. Es gibt deutlich weniger Kriege zwischen Staaten, es gibt aber auch deutlich weniger Völkermorde, selbst wenn man die Völkermorde in Ruanda und in Bosnien mit einrechnet. Und vor dem 20. Jahrhundert hat es sehr viel mehr Völkermorde gegeben. Also zu sagen, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert Völkermorde ist, ist ein Mythos. Es hat in allen Epochen der Geschichte Völkermorde gegeben, und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg, hat es eindeutig einen Rückgang an Kriegen und Völkermorden gegeben, das heißt also, nicht das 20. Jahrhundert insgesamt, aber die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist deutlich gewaltfreier gewesen.

Meyer: Es gibt ja auch die Vorstellung, dass Gewalt in der Menschheitsgeschichte in immer neuen Zyklen ausbricht, immer neue Höhepunkte findet. Und wenn Sie selbst sagen, das frühe 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war eine Zeit ganz besonderer Gewalt in der Menschheitsgeschichte – kann man dann noch von einem Rückgang der Gewalt sprechen im Blick auf die ganze Geschichte?

Pinker: Krieg tritt nicht in Zyklen auf, das ist eine Illusion. Es gibt eine gewisse Zufälligkeit, es gibt plötzliche Schocks gewissermaßen, aber es gibt keine periodisch wiederkehrenden Kriegszyklen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir alle Rekorde gebrochen in puncto weniger Kriege zwischen den Großmächten, aber auch in Westeuropa. Und wir haben jetzt nicht nur viele Jahre ohne Krieg erlebt, sondern wir können auch beobachten, dass sich die Staaten immer weniger auf Kriege vorbereiten. Wenn man einmal die Größe des Militärs gemessen an der Bevölkerungszahl ansieht, muss man sagen: Wir haben heute weniger Soldaten. Die Staaten bereiten sich eben nicht mehr direkt auf Kriege vor, und Kriege werden auch immer weniger als politische Optionen diskutiert. Das heißt also, wie von Clausewitz gesagt hat, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, ist heute nicht mehr so zu beobachten. Auch in der Bevölkerung gibt es eine immer ablehnendere Haltung gegenüber Kriegen. Das heißt also: Wir haben zum einen viele Jahre ohne Krieg erlebt, auf der anderen Seite inzwischen auch eine veränderte Einstellung zum Thema Krieg, und das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit eines Krieges deutlich gesunken ist, auch wenn sie natürlich noch nicht bei null liegt.

Meyer: Aber weil Sie die Gegenwart ansprechen: Es gab ja tatsächlich mit dem Ende der Block-Konfrontation vor 20 Jahren die Hoffnung, dass ein friedlicheres Zeitalter eintritt. Dann gab es aber die Kriege auf dem Balkan, es gab die beiden Kriege im Irak, es gibt bis heute den Krieg in Afghanistan, es gibt Kriege und Bürgerkriege in Afrika, und wenn man gerade schaut auf den Krieg gegen den Terror nach dem 11. September, da hat man doch den Eindruck, dass der Krieg als Mittel der Politik geradezu zurückgekehrt ist, also zumindest im Blick auf die amerikanische Politik.

Pinker: Diese Liste, die Sie gerade aufgezählt haben, zeigt ganz deutlich, dass die Zahl der Kriege noch nicht bei null angelangt ist, aber wenn man sich die Zahlen ansieht, kann man trotzdem sehen: Sie nehmen nicht zu, sondern sie sinken, und zwar sinken sowohl die Zahlen der Kriege als auch die Zahlen der Toten in diesen Kriegen. Im Irakkrieg selbst gab es einige tausend Tote, im folgenden Bürgerkrieg ungefähr 150.000 Todesopfer – in Vietnam lag die Zahl aber bei drei Millionen, ganz zu schweigen vom Zweiten Weltkrieg. Der Terrorismus hat seinen Höhepunkt nicht am 11. September erlebt, sondern in den 70er- und 80er-Jahren in Europa, in Irland, und in Lateinamerika. Damals gab es sehr viel mehr Todesopfer als bei den terroristischen Anschlägen in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts.

Meyer: Wenn wir jetzt Ihrer These folgen, dass die Gewalt zurückgeht – gibt es dann so etwas wie einen Umschlagpunkt, wo sich das Paradigma ändert, weg von der Gewalt? Sie schreiben in Ihrem Buch von einer humanitären Revolution, die es in der Geschichte gegeben habe, was etwa das ist, was wir auch unter Aufklärung meinen. Ist die Aufklärung in der europäischen Geschichte, ist das der entscheidende Abschied von der Gewalt?

Pinker: Ich glaube nicht, dass es eine endgültige und vollständige Abkehr von der Gewalt gegeben hat, aber es ist zumindest möglich, die Gewalt zu reduzieren und auch gewisse Kategorien der Gewalt abzuschaffen. Nehmen wir zum Beispiel Menschenopfer, die wurden früher überall auf der Welt praktiziert, wurden dann überall abgeschafft, und dabei wird es sicherlich auch bleiben. Das Gleiche gilt für die legale Sklaverei, die war eine Zeit lang überall rechtmäßig, wurde abgeschafft und wird inzwischen nicht mehr legal praktiziert. Ich denke, nach dem Zweiten Weltkrieg hat es eine Art zweite humanitäre Revolution gegeben, und zwar in Bezug auf die Todesstrafe. Die Todesstrafe wurde immer weniger durchgeführt, und es ist gar nicht mal so utopisch und unrealistisch, davon auszugehen, dass vielleicht in 50 Jahren auch in den USA und in China die Todesstrafe nicht mehr vollstreckt wird.

Wir können auch sehen, dass Gewalt von Staaten wie zum Beispiel in Form von Sklaverei abgeschafft wird, aber eben auch in Form von Menschenopfern, und wir können davon ausgehen, dass Ähnliches auch mit Kriegen geschehen kann, dass eines Tages Kriege als ein Akt der Barbarei erkannt und verboten werden. Das gilt nicht in gleichem Maße für Morde, für Bürgerkriege, für terroristische Anschläge, denn das sind individuelle Handlungen und nicht politisch gesteuerte Taten. Aber auch diese Vorfälle können reduziert werden, und es kann also dazu kommen, dass die institutionalisierten Kategorien der Gewalt verschwinden.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Evolutionspsychologen Steven Pinker über sein Buch "Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit" und über seine These, die Anwendung von Gewalt würde in der menschlichen Geschichte immer mehr zurückgehen. Wenn wir noch mal genauer auf den Menschen selbst schauen, Sie sind ja Psychologe und das ist ja Ihr eigentliches Metier: Ist Ihre Vorstellung, dass der Mensch im Kern ein gewalttätiges Wesen ist, was eben die Geschichte immer wieder gezeigt hat, ... dass der Mensch heute immer besser eingezäunt wird durch das Gewaltmonopol des Staates, durch ein juristisches Korsett, durch die Moral – die Gewalt weitgehend negativ bewertet ist, das Gewalt-Tier Mensch heute so von außen bezähmt?

Pinker: Ja, das glaube ich auch. Ich denke einfach, wenn ein Staat keine Regierung mehr hat, wenn die Regierung zurücktritt, dann kommt es zu Gewalt und zu Anarchie. Das sehen wir in Staaten, in denen es keine Regierung mehr gibt, in den gescheiterten Staaten, zum Beispiel in Somalia haben wir das gesehen, oder auch in Gebieten, wo es noch keine Regierung gibt, weil Menschen zum ersten Mal dorthin gelangen, wie zum Beispiel damals im Wilden Westen. Wir sehen es auch in Regionen und in Ländern, in denen die Regierung nicht effizient arbeitet, in Ländern, in denen zum Beispiel mit Kokain und mit Heroin gedealt wird und die Institutionen nichts dagegen unternehmen. Dort können einzelne Menschen natürlich auch zur Gewalt greifen.

Es ist also sehr leicht, wieder in die Gewalt zurückzuverfallen. Ich erinnere mich da selber an eine Geschichte aus meiner Kindheit: Ich bin in Montreal aufgewachsen in Kanada, und diese Stadt gilt als sehr, sehr friedlich. An einem Tag hat einmal die Polizei gestreikt und es kam sofort zu Ausschreitungen, zu Vandalismus, zu Schießereien, und das ging so lange, bis die Polizei wieder ihre Aktivität aufgenommen hat und eingegriffen hat.

Meyer: Sie haben sich ja für Ihr Buch auch auseinandergesetzt mit psychologischen Experimenten, die untersucht haben: Wie gewaltbereit sind Menschen? Wie reagieren sie auf Situationen? Muss man also sagen, dass es so etwas wie eine innere Evolution des Menschen zu weniger Gewalt, dass es die gar nicht gibt, dass die Menschen gleich gewalttätig bleiben?

Pinker: Ich denke, das ist wirklich so, ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob der Mensch sich tatsächlich in dieser Hinsicht geändert hat. Wenn es um eine Verringerung der Gewalt geht, dann muss man sagen: Man konnte das in Jahrzehnten beobachten, sogar innerhalb weniger Jahre, das heißt also viel zu schnell, als dass man das durch die Darwinsche Evolutionstheorie erklären könnte.

Und ich meine: Wenn wir in der Lage sind, die Gewalt beziehungsweise den Rückgang der Gewalt in den jüngsten Jahren auch ohne Hinzuziehen irgendwelcher biologischen Veränderungen des Menschen zu erklären, dann können wir diese Erklärung ja auch auf die letzten Jahrhunderte anwenden. Ich denke, insgesamt stimmt es: Wir sind heute noch genauso gewaltbereit wie früher. Wenn man zum Beispiel ein Baby aus dem 12. Jahrhundert in die Zeitmaschine setzen könnte und in die Gegenwart verfrachten könnte oder genau in die umgekehrte Richtung, dann wäre das Ergebnis, diese Tendenz zur Gewaltbereitschaft, nach wie vor vorhanden.

Meyer: Der Evolutionspsychologie Steven Pinker, wir haben über sein Buch "Gewalt" gesprochen, auf Deutsch erschienen im S. Fischer Verlag, mit fast 1200 Seiten, zum Preis von 26 Euro gibt es dieses Buch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.