"Weniger häufig, aber gründlicher an Nationalsozialismus erinnern"

Moderation: Hanns Ostermann · 13.03.2008
Zum Kinostart des vieldiskutierten Films <papaya:addon addon="d53447f5fcd08d70e2f9158d31e5db71" article="188287" text="&quot;Die Welle&quot;" alternative_text="&quot;Die Welle&quot;" /> hat der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik den Umgang mit dem Thema Holocaust kritisiert. "Es wird in der Tat relativ oft über den Nationalsozialismus gesprochen und an ihn erinnert, ohne dass dem ein entsprechend intensives Lernprogramm gegenübersteht", sagte er.
Hanns Ostermann: Ein pädagogisches Experiment, das außer Kontrolle gerät. Im Rahmen einer Projektwoche zum Thema Staatsstrukturen formt ein ambitionierter Lehrer aus seinen Schülern eine eingeschworene Gemeinschaft. Sie tragen nur noch einheitliche Kleidung, unterstützen sich gegenseitig in der Gruppe, grenzen aber Andersdenkende aus und scheuen sogar Gewalt nicht. Heute kommt der schon im Vorfeld viel diskutierte Film "Die Welle" in die deutschen Kinos, ein Streifen über die Verführbarkeit des Menschen, über den Erfolg einer totalitären Organisation. Ihm liegt das gleichnamige Buch zugrunde, das sich wiederum auf Geschehnisse bezieht, die sich im Herbst 1967 an einer Highschool in Kalifornien ereignet hatten. Seinerzeit wollte ein Lehrer demonstrieren, wie es zum Nationalsozialismus kommen konnte. Über das Thema Gruppenzwang, Manipulation und Autorität möchte ich reden mit Professor Micha Brumlik. Er ist Professor für Erziehungswissenschaften und Leiter des Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung des Holocaust in Frankfurt am Main. Guten Morgen, Herr Brumlik!

Micha Brumlik: Guten Morgen!

Ostermann: Ein Film ist ein Film, könnte so ein Experiment auch im richtigen Leben im aufgeklärten Deutschland des Jahres 2008 noch funktionieren?

Brumlik: Wenn man das richtig inszeniert und die Leute, die zu so etwas verführt werden sollen, auch lange genug isoliert, wäre das durchaus möglich, sofern diese jungen Leute nicht von einer sehr prinzipiengeleiteten Gewissensbildung durchdrungen sind.

Ostermann: Richtig inszeniert bedeutet was?

Brumlik: Nun, ich glaube, dass es dazu tatsächlich einer bestimmten länger währenden Isolation bedarf. Diese Menschen müssen dann unter sich bleiben. Es müssen weitestgehend die Kontakte zur Außenwelt zum Austausch mit anderen abgeschnitten sein, das heißt, die jungen Leute werden in so etwas wie eine kollektive, gemeinsame Psychose, ohne weitere Erfahrungsmöglichkeiten getrieben.

Ostermann: Wie passt das zusammen mit den frustrierten jungen Leuten, die zu kurz gekommen sind oder sich zu kurz gekommen fühlen, die empfänglich waren für starke Worte, schlichte Theorien, die gibt es ja auch im Hartz-IV-Deutschland, und die sind doch eigentlich nicht isoliert? Oder passt das doch zusammen?

Brumlik: Die sind sozial natürlich isoliert, die sind in ihren Kiezen, in ihren Subkulturen, ich spreche ausdrücklich nicht von Parallelgesellschaften, abgeschnitten und bekräftigen sich in ihrer Ohnmacht wechselseitig einer nicht vorhandenen Überlegenheit, die sie dann schließlich dazu führt, gegen Andersaussehende Gewalt auszuüben, unter Umständen.

Ostermann: Was bringen jetzt solche Simulationen, machen sie junge Leute immun gegen Verführer oder vielleicht auch misstrauischer?

Brumlik: Misstrauischer vielleicht, ich glaube, dass solche Filme darauf aufmerksam machen können, welchen psychischen Zwängen und Mechanismen Menschen unter Umständen unterliegen können, und es ist gut, rechtzeitig darauf hingewiesen zu haben.

Ostermann: Autoritäten, das sollte man ja grundsätzlich sagen, sind per se nichts Schlechtes. Ab wann wird es gefährlich?

Brumlik: Ich glaube, Autoritäten sind vor allem dann nützlich, wenn sie wirklich aus der Sache heraus begründet sind. Wenn es nur um persönliche Eindrücke, um Faszination und Anziehungskraft einer einzelnen Person geht, in der die Inhalte, die sie vermittelt, nicht mehr überprüft werden, dann wird es gefährlich.

Ostermann: Nun ist ja ein Ziel dieses Films auch, die jungen Leute immun, oder die jungen Leute bei uns heute immun zu machen gegen Verführer von rechts und links. Der Film ist ein Mittel. Aber Sie als Erziehungswissenschaftler, was würden Sie raten?

Brumik: Ich finde es wichtig, dass junge Leute sowohl zu Hause als auch in der Familie, als auch in der Schule an partnerschaftliche, demokratische Umgangsweisen gewöhnt werden, dass sie so viel Einfühlungsvermögen erwerben, dass sie die persönliche, körperliche und seelische Integrität von anderen respektieren können, und dass sie in der Lage sind, zu schlagwortartig vorgetragenen Vorschlägen kritische Rückfragen zu stellen.

Ostermann: Wird das heute schon praktiziert, in der Schule beispielsweise als entscheidender Stelle der Erziehung oder in den Familien?

Brumlik: In vielen Mittelschichtfamilien ist das ausweislich der Jugendstudien, etwas der Shell-Studien durchaus der Fall. Dort, wo ein demokratisch-partnerschaftlicher Erziehungsstil geübt wird, der auch Rückfragen von Kindern an die Eltern erlaubt, scheint das der Fall zu sein. Nach den Studien sind mindestens ein Viertel der in Deutschland lebenden Jugendlichen in dieser Form erzogen worden.

Ostermann: Es wird ja im Zusammenhang mit diesem Film und gerade auch bei den Protagonisten, bei den Schauspielern und dem Regisseur darüber gesprochen, dass man in den Schulen zum Teil widersprüchliche Erfahrungen gemacht hat. Dem einen oder anderen kommt das ständige Wiederholen der Zeit des Nationalsozialismus, um das platt zu sagen, es hängt dem einen oder anderen zum Hals raus. Aber trotzdem, vermute ich doch, darf man darauf nicht verzichten?

Brumlik: Darauf darf man nicht verzichten, aber man muss es richtig anfangen. Ich glaube, dass wir vor Erfolgen im Paradox stehen. Es wird in der Tat relativ oft über den Nationalsozialismus gesprochen und an ihn erinnert, ohne dass dem ein entsprechend intensives Lernprogramm gegenübersteht. Mir persönlich wäre es lieber, wenn weniger häufig an so etwas erinnert würde, aber dafür dann wirklich gründlicher. Und ohnehin, grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass das eine Thematik ist, die man Jugendlichen unter 14 Jahren nicht zumuten sollte.

Ostermann: Professor Micha Brumlik, Professor für Erziehungswissenschaften und Leiter des Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung des Holocaust in Frankfurt am Main. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
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