Weltraumforschung

Der wahre Entdecker der Ausdehnung des Universums

Der europäische Raumtransporter "Georges Lemaître" soll in der Nacht zum 30.07.2014 mit Nachschub zur Internationalen Raumstation ISS starten. Foto: David Ducros/ESA
Späte Anerkennung: Der europäische Raumtransporter "Georges Lemaître" wurde nach dem wahren Entdecker der Kosmosausdehnung benannt. © picture alliance / dpa / David Ducros/ESA
Von Dirk Lorenzen · 20.06.2016
Der belgische Priester und Astronom Georges Lemaître erkannte als erster, dass sich der Kosmos ausdehnt. Doch seine wegweisende Entdeckung fand kaum Beachtung. Ein anderer erntete zwei Jahre später die Lorbeeren für diese Erkenntnis.
"Keine wissenschaftliche Entdeckung ist nach ihrem tatsächlichen Entdecker benannt."
Diese These des US-amerikanischen Soziologen Robert Merton passt perfekt zu der Erkenntnis, dass sich das Universum ausdehnt. Diese Entdeckung wird in jedem Lehrbuch dem Astronomen Edwin Hubble zugeschrieben, der mit einem Großteleskop in Kalifornien den Himmel vermessen hat – tatsächlich aber gelang sie dem Belgier Georges Lemaître.
Lemaître, geboren 1894 in Charleroi, hatte eine bemerkenswerte Doppelkarriere eingeschlagen: als katholischer Priester und als Astrophysiker. In den 1920er-Jahren beschäftigte er sich mit den Gleichungen der Einstein'schen Allgemeinen Relativitätstheorie und den rätselhaften Beobachtungsdaten einiger Kollegen, nach denen sich die meisten Objekte im Kosmos von uns fortbewegen.
"Die Abkehr der extragalaktischen Nebel ist ein kosmologischer Effekt aufgrund der Ausdehnung des Universums. Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Nebel entfernen, ist proportional zu ihrer Entfernung."

Entdeckung von Lemaître fand kaum Beachtung

Georges Lemaître hatte erkannt, dass die Nebel, heute sagen die Astronomen: Galaxien, sich von uns wegbewegen, weil sich der Kosmos als Ganzes ausdehnt. So wie Rosinen in einem aufgehenden Hefeteig mitgerissen werden, ziehen im expandierenden Universum auch die Galaxien von uns fort – und zwar um so schneller, je weiter sie von uns entfernt sind.
Dieser Zusammenhang heißt heute jedoch nicht Lemaître-, sondern Hubble-Gesetz. Die Entdeckung des Belgiers fand kaum Beachtung, weil seine Arbeit auf Französisch und in einer nahezu unbekannten Zeitschrift erschienen war.
Edwin Hubble kam erst zwei Jahre später zu seinem Befund – allerdings unter weltweiter Beachtung. Daraufhin wurde Lemaître gebeten, er möge seine epochale Arbeit noch einmal auf Englisch veröffentlichen. In jener Übersetzung aber fehlen genau die entscheidenden Absätze, in denen er die Ausdehnung des Kosmos herleitet.
Bis vor wenigen Jahren war unklar, wer die Übersetzung angefertigt hatte. Manche witterten Verrat. Womöglich hatte der Übersetzer Lemaitres Text zensiert, um Hubbles Priorität gegenüber dem belgischen Geistlichen zu sichern, der manchen in der Wissenschaftswelt eher als Exot galt. Doch es war viel banaler, wie ein Brief Lemaîtres zeigt:
"Sehr geehrter Herr Doktor Smart, es ist mir eine große Ehre, meine Arbeit in den Monatlichen Notizen der Königlichen Astronomischen Gesellschaft publizieren zu dürfen. Meine Übersetzung des Artikels liegt bei. Ich finde es nicht ratsam, meine damalige vorläufige Diskussion der Galaxienbewegungen erneut abzudrucken. Das ist offensichtlich nicht mehr von Interesse."

Im Schatten von Hubble

Georges Lemaître selbst hat sich um den Ruhm gebracht. Nach Hubbles Beobachtungen hatte es heftige Diskussionen unter den Astronomen in aller Welt gegeben – und schließlich war sogar der anfangs sehr skeptische Albert Einstein überzeugt. Da schienen Lemaître seine vier Jahre zurückliegenden Äußerungen kaum mehr relevant. Vielleicht lag es auch daran, dass er längst viel weiter war. Denn nur Monate später veröffentlichte Georges Lemaître die nächste Sensation.
"Das Universum ist aus einem dichten Zustand hervorgegangen und verdünnt sich seitdem immer mehr. Am Anfang des Kosmos war alle Materie in einem Ur-Atom kondensiert, das dann zerfallen ist und damit die Ausdehnung ausgelöst hat."
Bis dahin hatten alle Forscher angenommen, der Kosmos habe schon immer existiert und irgendwann mit der Ausdehnung begonnen. Doch Lemaître hat die Expansion des Kosmos einfach zurückgerechnet. Das All wurde immer kleiner, bis Raum, Zeit und Materie schließlich in einem einzigen Atom, einem "kosmischen Ei", konzentriert gewesen sein müssen. Diese Idee hat sich schnell durchgesetzt – heute gehen fast alle Astronomen davon aus, dass das Universum im Urknall begonnen hat.
"Als Priester gefällt mir die Idee, dass das Universum einen Anfang hatte, also mal erschaffen wurde, natürlich etwas besser."
So äußerte sich Georges Lemaître Jahrzehnte später augenzwinkernd gegenüber einem Kollegen. Bis zu seinem Tod am 20. Juni 1966 war er in der Wissenschaftswelt hoch geachtet – doch inzwischen ist er nur noch Experten ein Begriff. Auch die NASA hat 1990 das Hubble-Weltraumteleskop gestartet, um die Ausdehnung des Weltalls präzise zu vermessen. Historisch korrekt gewesen wäre der Name Lemaître-Teleskop.
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