Weltmusik

Als der Pop das Laufen lernte

Von Uwe Golz · 09.12.2013
In der Norddeutschen Tiefebene liegt ein Nest mit verrückten Plattenmachern. Ihr Chef ist Richard Weize. Der aktuellste Streich seines - weltweit für seine Archivarbeit berühmten - Labels Bear Family ist die 44 CDs umfassende Box "Black Europe".
Mit so einer Box kann kein Geld gemacht werden, aber das kümmert bei Bear Family im niedersächsischen Hambergen so richtig niemanden. Nun wäre es im wahrsten Sinn des Wortes ein Leichtes gewesen. Einfach nur die 1244 Titel (alle vor 1927 erschienen) schön verteilt auf CDs zu pressen, dann rein in die Kiste und raus in die Läden. Wäre es gewesen, aber leicht gemacht hat man es sich nie bei den Bären. So ein altruistisches Projekt kostet eine Menge Vorarbeit, eine Menge Schweiß, eine Menge Zeit – in etwa fünf Jahre in vielen verstaubten Archiven - und vor allem braucht es eine gewisse Extravaganz.
Angestoßen wurde "Black Europe" unter anderen von dem deutschen Jazz-Historiker Dr. Rainer Lotz, der sich schon lange mit dem frühen Wirken schwarzer Musiker in Europa beschäftigt. In Richard Weize fand er den geneigten Partner. Ihnen zur Seite standen Wissenschaftler aus Großbritannien und den Niederlanden, die zusammentrugen, was zu finden war. Insgesamt sichtete man rund 2000 Tonaufnahmen, rettete was jetzt zu hören ist und machte sich dann an die bibliographische Arbeit. Denn das ist Tradition bei Bear Family. Keine Box ohne in die Tiefe gehendes Begleitbuch, im Fall von "Black Europe" wurden es dann zwei mit insgesamt 600 Seiten und etwa 1000 Bildern und Fotografien.
Reingreifen in die Fülle des Angebots
Wer diese Box öffnet, weiß gar nicht, wo er beginnen soll. Bei großen Namen wie Josephine Baker? Oder ist die chronologische Vorgehensweise die richtige und mit der Nummer 1 beginnen? Da erwartet uns der um 1865 geborene Silas Seth Weeks, der einzige professionelle, schwarze Mandolinenspieler des 19. Jahrhunderts. Oder soll man einfach mal reingreifen in die Fülle des Angebots? Also dreht sich dann als Erstes die Nummer 6, weil da eben The Savoy Quartet seinen Einstand gibt und die kennt man, weil irgendwann ist man über ihre Aufnahmen von "Swanee" aus dem Jahr 1919 auf Youtube gestolpert.
The Savoy Quartet hat übrigens seinen Namen vom Ort ihres Wirkens, dem Londoner Savoy Hotel, in dem es zwischen 1915 und 1920 die Hausband war. Und nachdem die Frage "Where Did Robinson Crusoe Go With Friday On Saturday Night?" geklärt ist, geht es weiter mit CD 24. Hier erwarten das Ohr Klänge der Pariser Weltausstellung von 1900 und Musik der Griots - Musikethnologie der frühen Jahre also, einst auf Wachswalzen gebannt. Dass hier überhaupt noch was zu hören ist, verdanken wir den guten Restaurateuren der Bärenfamilie. Und apropos "frühe Jahre" - bereits auf der CD 23 sind die ersten Aufnahmen einer gewissen Josephine Baker zu genießen. Jener Dame, die dann mit Bananenröckchen den Pariser Herren der swingenden 20er den Kopf verdrehte.
Jazzfans werden ihre Freude an CD 38 und 39 haben, lässt hier doch Josiah Ransome-Kuti, Großvater des berühmten Afrobeat-Gründers und Saxofonisten Fela Anikulapo Kuti, erahnen, von wem sein Enkel das Musikerblut geerbt hat. Der Großvater liefert allerdings nur die Wurzeln, Jazz war nicht seine Sache, bei ihm standen patriotische Lieder und religiöse Themen im Vordergrund.
Doch genug der Aufzählung. Kann man so einem Projekt wirklich Kritik entgegenbringen? Im Prinzip nicht. Zwar ist nicht alles neu und einiges wurde bereits auf Platte oder CD veröffentlicht. Aber allein die Fülle des zusammengetragenen Materials verdient eine Verbeugung - und in so geschlossener Form hat man die schwarze Musik in Europa noch nie verfolgen können. Diese Box ist ein Meilenstein in der Geschichte jener Musik, die wir heute so gerne und oft auch schnöde einfach als Schlager oder Pop bezeichnen. Hier liegen die Wurzeln unserer Unterhaltungsmusik, hier hat alles begonnen. Und ob nun Jazzfan oder Weltmusiker, Freak oder Wissenschaftler: Wir können diesen Verrückten in der Norddeutschen Tiefebene nur dankbar sein, dass sie so eine Macke haben. Diese Art von Macken braucht nicht nur die Musikwelt. So ein Projekt hilft; hilft Menschen zu verstehen, ihre Kultur und baut Vorurteile ab, ohne den erhobenen Zeigefinger des Oberlehrers.
Black Europe: Schwarze Musik in Europa zwischen 1880 und 1927
Label: Bear Family