Weltkriegsroman

Der Mann mit dem halben Gesicht

Erster Weltkrieg: Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916).
Schlacht um Verdun: Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916). © picture-alliance / AFP
Von Wolfgang Schneider · 11.11.2014
Soldaten, denen Kiefer, Mund, Nase weggeschossen wurden: Auch das gehört zur Realität des Ersten Weltkriegs. In seinem Roman "Wir sehen uns dort oben" erzählt Pierre Lemaitre von diesen Schattenseiten - in Form einer bitteren Gesellschaftskomödie.
Es gibt viele Kriegsromane, aber nur wenige Nachkriegsromane. Dabei ist Frieden oft die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Das gilt auf jeden Fall für Pierre Lemaitres 2013 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Wir sehen uns dort oben". Er beginnt im Herbst 1918, bei einer der letzten Schlachten an der Westfront. Jetzt schnell noch etwas Ruhm einheimsen als Startkapital für die Friedenszeit, denkt sich Leutnant Henri d'Aulnay-Pradelle und treibt seine Männer nach vorn, hilft ihrem sinnlosen Opfer nach mit der Pistole. Als der Soldat Albert Maillard bemerkt, dass gefallene Kameraden Einschüsse im Rücken haben, kann er sich nicht lange wundern – er wird von d'Aulnay-Pradelle attackiert und kurz darauf bei einem Granateinschlag verschüttet.
Ein anderer Soldat rettet knapp Alberts Leben, wird dabei jedoch selbst von einem Granatsplitter im Gesicht getroffen: Éduard Péricourt. Zu den erschütterndsten Dokumenten des Ersten Weltkriegs gehören die Fotographien von Ernst Friedrich, die grässlich entstellte Gesichtsverletzte zeigen, denen Kiefer, Mund, Nase weggeschossen wurden. Der Schmerz und das Schicksal dieser Überlebenden scheinen unausdenkbar. Lemaitre macht Édouard, den jungen Mann mit dem halben Gesicht, zu einer Hauptfigur.
Geschichte einer anrührenden Freundschaft
Obwohl sich der Roman bald als bittere Gesellschaftskomödie profiliert, wird zunächst eine anrührende Freundschaft geschildert: Unverbrüchlich hält Albert zu seinem Lebensretter, pflegt seine klaffende Kopfwunde, flößt ihm Essen durch die Speiseröhre ein, besorgt ihm Morphium, schützt ihn vor den Nachstellungen Pradelles, der die Mitwisser seiner Machenschaften ausschalten will, und verschafft ihm eine neue Identität. Denn als wandelndes Monster will Édouard nicht zu seiner Familie zurückkehren. Seit je war das Verhältnis zu seinem patriarchalischen Unternehmer-Vater gestört, der seinerseits den künstlerisch begabten und homosexuell veranlagten Sohn ablehnte.
Während in der Öffentlichkeit von den Helden des siegreichen Krieges schwadroniert wird, verelenden die ausgemusterten Kämpfer im Stillen. Albert arbeitet als Plakatträger und lebt mit Édouard in einer schäbigen Pariser Wohnung. Abhilfe verspricht erst ein großangelegter patriotischer Schwindel, zu dem sich der von Ängsten heimgesuchte Albert nur zögernd überreden lässt: Édouard entwirft kitschige Gefallenendenkmäler, an denen landesweit großer Bedarf besteht, und bald treffen dank Vorkasse Millionen auf dem Konto ihrer Scheinfirma ein.
Ein Roman mit Biss und lebendigen Figuren
Auch Henri d'Aulnay-Pradelle kommt unterdessen auf seine Kosten. Er macht ebenso glänzende wie makabre Geschäfte mit der Umbettung von Soldatenleichen. Außerdem heiratet er eine wohlhabende Frau: Édouards Schwester. Nicht nur durch diese etwas gewaltsame Verknüpfung führt der Roman die Wege der drei Hauptfiguren immer wieder zusammen – bis zum spektakulären Kollaps aller Lügengebäude.
Die Anständigen und Schäbigen sind in Lemaitres düsterer Gesellschaftssatire scharf konturiert, insbesondere Pradelle erweist sich immer von neuem als Mistkerl von Format. Solche Stereotypen – arme Frontschweine gegen adligen Offiziersfiesling – sind aber kein Einwand gegen den Roman. Denn auch wenn man die sozialkritischen Intentionen Lemaitres bald begriffen hat, freut man sich auf jeden weiteren Auftritt Pradelles. Trotz einiger Längen: Dieser Roman hat Biss und lebendige Figuren, die Lektüre ist ein großes Vergnügen.

Pierre Lemaitre: Wir sehen uns dort oben
Roman. Aus dem Französischen von Antje Peter
Klett-Cotta, Stuttgart 2014
522 Seiten, 22,95 Euro