Weltflucht bei Twitter

Leben zwischen realer und virtueller Welt

Eine Frau spielt auf ihrem Smartphone Pokémon Go.
Eine Frau spielt auf ihrem Smartphone Pokémon Go. © dpa / picture alliance / Daniel Karmann
Von Christian Conradi  · 01.08.2016
Wer sich medial beim Kurznachrichtendienst Twitter austobt, der betreibt eine Art Weltflucht - das kann unser Autor Christian Conradi an sich selbst beobachten. Wie funktioniert diese Form des digitalen Eskapismus?
"Was?! Pokemon Go hat schon über 75 Millionen Downloads? Das steht hier zumindest in meinem Twitter-Stream. Den Artikel muss ich mir mal genauer anschauen."
Eigentlich sollte ich ja arbeiten… aber diese öffentliche Kurznachrichtenflut bei reist mich immer wieder raus und mit. Fluch und Segen zugleich ist das.
"Youtuber Unge fragt sich, ob er noch Veganer ist, wenn er einen Fisch-Pokemon fängt und postet dazu ein Foto aus dem Supermarkt. 3000 Leuten gefällt das. Naja. Fishing for Likes, würd’ ich mal sagen."
Ich verfolge den Hashtag #PokemonGO. Im Sekundentakt prasseln dutzende neue Tweets auf mich ein. Das erweckt den Anschein, als würde sich die Welt ausschließlich um diese halb-virtuellen Fantasie-Wesen drehen, die man draußen auf der Straße per Smartphone-App fangen kann. Vielleicht ist das ja auch so.
"Bei Twitter sind auch unzählige Youtube-Clips eingebunden, die Leute beim Pokemon jagen zeigen."

Verschmelzung mit der realen Welt

Aha, das ist ja interessant. Die Washington Post dokumentiert bei Twitter Massenpaniken und Unfälle, die durch Pokemon Go verursacht werden. Die Wired twittert, dass das Spiel dabei helfen kann, Sozialphobie zu bekämpfen. Aber man schaut doch beim Spiel nur auf’s Handy und nicht auf andere Leute. Hmm. Pokemon Go als Beleg der entgültigen Verschmelzung zwischen Online- und Offlinewelt. Eigentlich auch ein schönes Beitragsthema.
Und da ist es schon passiert, ich wurde mal wieder völlig reingesogen in das Twitter-Paralleluniversum - diesmal war es der Pokemon-Hype. Ein paar Minuten später wird es wieder irgendein anderes Thema sein. Die Aufmerksamkeitsspanne beim selektiven Newsticker ist bekanntermaßen gering. Am vergangenen Freitag kaperte zum Beispiel der SysAdmin Day meinen Kanal - Ein inoffizieller Feiertag der Systemadministratoren.
"Oh Mann… Der SysAdmin-Song wird bei dem Thema auch jedes Jahr immer wieder auf’s neue rausgekramt. Manchmal hat Twitter auch echt was sehr rituell-langweiliges."

Werkzeug für digitalen Eskapismus

Meine gefilterte Weltsicht wird durch die Nachrichten und Empfehlungen von ein paar Hundert Menschen, denen ich bei Twitter folge, bestimmt. Die Filter Bubble. Der US-amerikanische Politologe und Unternehmer Eli Pariser hatte diesen Effekt bereits im Jahr 2011 in seinem gleichnamigen Buch beschrieben.
Ausschnitt Ted-Vortrag Eli Pariser: "Ihre Filterblase ist Ihr ganz persönliches einzigartiges Informationsuniversum, in dem Sie online leben. Und was in Ihrer Filterblase ist, hängt davon ab, wer Sie sind und was Sie tun."
"Wie wir im Internet entmündigt werden." - lautet der Untertitel der deutschen Übersetzung von Parisers Buch. Die Kritik ist mehr oder weniger verhallt. Die Filter Bubble ist längst der Status Quo. Egal ob Google, Youtube, Facebook oder Twitter. Algorithmen und die digitale Kopie unseres ganz persönlichen sozialen Netzwerks öffnen uns Tore in neue Informationswelten. Ein Werkzeug für digitalen Eskapismus und für professionalisierte Prokrastination. Das kann überfordern und nerven aber auch eine willkommene Abwechselung zur massenmedial bestückten und redaktionell sortierten Weltsicht sein.
"Gibt’s eigentlich Pokémon Go noch? Ich schaue mal bei Twitter nach.
Ja. Puh, na dann ist ja alles gut."
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