Salman Rushdie: "Sprachen der Wahrheit"

Ein fesselndes Selbstporträt

05:52 Minuten
Das Buchcover "Sprachen der Wahrheit" von Salman Rushdie ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Raum für Ambivalenzen: In Essays aus zwei Jahrzehnten zeichnet der Schriftsteller Salman Rushdie seinen intellektuellen Werdegang nach. © Deutschlandradio / C. Bertelsmann Verlag
Von Maike Albath · 08.07.2021
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Salman Rushdies Essays liefern einen tiefen Einblick in seine Werkstatt, seine ästhetischen Reflexionen und politischen Überzeugungen. Seine Erfahrung, durch die Fatwa zum Tode verurteilt gewesen zu sein, schwingt beständig mit.
Erst als er das indische Englisch wieder im Ohr hatte und seinem Helden Saleem das Wort erteilte, wurde Salman Rushdie zum Schriftsteller. Auf einmal strömten die Geschichten seiner Kindheit mit ihren unzähligen Verzweigungen aus ihm heraus, auf einmal war ihm die vielköpfige Verwandtschaft gegenwärtig, auf einmal konnte er erzählen.
Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, englischer Internatsschüler und Cambridge-Absolvent, eroberte sich seine Herkunft zurück und entdeckte den Quell seiner Kreativität.

Autobiografische Erfahrungen und fantastische Elemente

Das Ergebnis war der überbordende Roman "Mitternachtskinder" (1981), den er mit 34 Jahren veröffentlichte. Dass er dabei autobiografische Erfahrungen umschmolz, Dinge hinzuerfand und fantastische Elemente einfügte, verstand sich von selbst.
Es hängt auch mit seinem Begriff von Literatur zusammen: Griechische Mythologie und Philosophie, indische Götter, Märchen aus Tausendundeiner Nacht und Autoren wie Shakespeare, Philip Roth oder Italo Calvino stehen für Rushdie gleichberechtigt nebeneinander und verbinden sich zu vielfältigen "Alles-Romanen", wie Henry James diese Art des sich die Welt einverleibenden Erzählens bezeichnete.
Durch die Lektüre Philip Roths, der in seinen Romanen jiddische Ausdrücke verwendet, lernte er, dass das Englische "eingelegt werden konnte wie Chutney", und begann, sich die indisch-englischen Begriffe zunutze zu machen. Auf einmal gewann seine Sprache eine andere sinnliche Qualität.

Werbetexte für Luftschokolade

Aber Rushdie schildert in seinem neuen Essayband "Sprachen der Wahrheit" auch die Niederungen seines Werdegangs: wie er als Zwölfjähriger wegen seiner Unsportlichkeit gehänselt wurde und sich erst durch seinen Zorn und seine geschliffene Intelligenz Respekt verschaffte.
Oder wie er sich als Halbtagskraft für Werbetexte durchschlug und Luftschokolade mit Sprüchen wie "the bubbliest milk chocolate you can buy: adorabubble" anpries, die ihm jahrelang auf Londoner Doppeldeckerbussen begegneten.
Die Texte, zu denen auch Vorträge für Universitätsabsolventen, bewegende Nachrufe für seine Freunde Christopher Hitchens und Harold Pinter sowie ein Protokoll seiner Covid-Erkrankung gehören, liefern einen Einblick in Rushdies Werkstatt, seine ästhetischen Reflexionen und politischen Überzeugungen. Gleichzeitig sind sie ein fesselndes Selbstporträt des Autors, der viel von sich preisgibt.

Skepsis als größte Tugend

Nichts ist ihm verhasster als einfache Wahrheiten, Skepsis sei die größte Tugend. Die Monotheismen bezeichnet Rushdie als "unnachgiebige Polizisten der Seele", während die vielen Götter anderer Religionen Raum für Ambivalenzen böten. Seine Erfahrung, durch die Fatwa zum Tode verurteilt gewesen zu sein, schwingt beständig mit.
Ein größeres gesellschaftliches Veränderungspotenzial als Covid-19 traut Rushdie der Black-Lives-Matter-Bewegung zu. Vor allem appelliert er an alle, die schreiben: Es liegt in unserer Verantwortung, "den Glauben unserer Leser an die Wirklichkeit, an die Wahrheit" wieder herzustellen.

Salman Rushdie: "Sprachen der Wahrheit. Texte 2003 – 2020"
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Herting und Bernhard Robben
C. Bertelsmann Verlag, München 2021
480 Seiten, 26 Euro

Lesen Sie auch unser Interview mit Salman Rushdie über sein neues Buch.

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