Weihnachten

    Die Schönheit des Glaubens

    Eine geschnitzte Christkindfigur.
    Eine geschnitzte Christusfigur als Kind © picture alliance / dpa/ Tobias Hase
    Moderation: Philipp Gessler · 24.12.2014
    Religion ist manchmal mit Hässlichkeit und Gewalt verbunden. Gibt es trotzdem eine Schönheit des Glaubens? Das fragen wir den Benediktiner-Mönch Pater Anselm Grün und Islam-Professor Ahmad Milad Karimi - zwei recht unterschiedliche Männer, die sich im Glauben aber ganz nahe sind.

    Hier können Sie die zweite Stunde der Sendung nachhören: Heiligabend-Sendung 2. Stunde

    Philipp Gessler: Herzlich willkommen, liebe Hörerinnen und Hörer, ich begrüße Sie zu dieser Sendung an Heiligabend kurz vor Weihnachten. Unsere Sendung hat begonnen mit der Kantate "Gottes Engel weichen nie" von Johann Sebastian Bach. Ein schöner Einstieg in unsere Sendung, und es soll eine schöne Sendung werden über Schönheit – eine besondere Sendung auf jeden Fall, vor allem weil der Ort und die Gesprächspartner außergewöhnlich sind. In den kommenden zwei Stunden – wunderbar unterbrochen von Musik, die die Gesprächspartner selber ausgesucht haben – hören Sie ein Gespräch zweier herausragender Gelehrter in Deutschland. Pater Anselm Grün, den Sie bestimmt kennen, geboren 1945 im unterfränkischen Junkershausen, ein Benediktinerpater, der mit seinen Büchern weltweit eine Millionenauflage erreicht hat. Gerade hat er ein neues Buch geschrieben, es heißt "Schönheit – Eine neue Spiritualität der Lebensfreude". Schönen Tag, Pater Anselm!
    Anselm Grün: Guten Tag!
    Gessler: Und Professor Ahmad Milad Karimi, geboren 1979 im afghanischen Kabul, Professor für islamische Philosophie und Mystik und Koranübersetzer. Einer der originellsten und klügsten islamischen Stimmen hierzulande. Er hat den Koran übersetzt als poetisches Werk auch. Sein letztes Buch, das auch eine Autobiografie ist, hat den wunderbaren Titel: "Osama bin Laden schläft bei den Fischen". Untertitel: "Warum ich gerne Muslim bin und wieso Marlon Brando viel damit zu tun hat". In diesem Buch geht es viel um die Schönheit des Koran und des Islam. Schönen Tag, Professor Karimi!
    Ahmad Milad Karimi: Schönen guten Tag!
    Gessler: Mein Name ist Philipp Gessler, ich will die Sendung moderieren. Eine besondere Sendung ist dies, hab ich gesagt, auch wegen des Ortes. Wir sind in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach im Fränkischen, nicht allzu weit von Würzburg – ein eindrucksvoller Bau, ein riesiger Bau, ein richtiger Komplex, und seit nunmehr 50 Jahren die Heimat von Pater Anselm Grün. Pater Anselm und Professor Karimi werden sich in den kommenden zwei Stunden über die Schönheit des Glaubens unterhalten. Schönheit des Glaubens, darin liegt ja für manche eine kleine Provokation, denn in den vergangenen Monaten haben wir in den Nachrichten fast jeden Tag vor allem die hässlichen Seiten des Glaubens mitbekommen. Darüber müssen wir auch reden. Zunächst aber an Sie, Pater Anselm, die erste Frage, angeknüpft an die von Ihnen ausgewählte Eingangsmusik von Johann Sebastian Bach: Sie nennen ja in Ihrem neuesten Buch über die Schönheit die Musik ein Tor zum Himmel – braucht denn der Glaube eigentlich Musik?
    Pater Anselm: "Der Glaube braucht Musik"
    Pater Anselm: Ja, der Glaube braucht Musik. Ich denke, Glaube braucht nicht nur Worte, sondern auch Musik, die tiefer geht als Worte. Und Musik war schon seit Urzeiten immer ein Ort der Transzendenz, wo ich über mich hinausschaue. Und der Begründer der Musiktheorie, Pythagoras, der griechische Philosoph, meint ja, die Musik tut den Menschen gut, weil sie die Schwingungen im Menschen in Ordnung bringt. Und Schönheit, so sagt ja auch Thomas von Aquin, hat zwei Aspekte: Claritas, das Glänzende, das ist das Schauen, und consonancia, das Zusammenklingen. Also die Musik ist schön, wenn sie zusammenklingt, und die schöne Musik kann auch heilsam sein für den Menschen. Mozart sagt, man soll sogar einen bösen Menschen eine gute Musik, eine schöne Musik unterlegen, die Schönheit besiegt das Böse und verwandelt das Böse. Und Johann Sebastian Bach hat ja auch seine Passionen, das Leid, in einer schönen Musik komponiert. Das heißt, das Schöne kann auch das Leid verwandeln. Und das ist für mich ganz wichtig: die verwandelnde und heilende Kraft der Schönheit. Dostojewski sagt ja, Schönheit wird die Welt retten, wird die Welt heilen, und das ist für mich ein wichtiger Aspekt. Dazu gehört auch die Musik.
    Gessler: Wäre denn das Christentum überhaupt ohne Musik denkbar?
    Pater Anselm: Nein, schon die Juden haben natürlich im Tempel gesungen, und die Christen haben diese Gesänge am Anfang übernommen, aber dann Ambrosius, der Bischof von Mailand, hat ja vor allem die Christen durch Musik zum Glauben geführt, und die Heiden waren begeistert von dieser wunderbaren Musik, indem man Hymnen gesungen hat. Und schon Paulus sagt, singt dem Herrn Lieder und Hymnen. Also wenn ich Gott loben will, muss ich das im Singen tun, das kann ich nicht allein im Sprechen tun. Und loben hängt ja auch mit leben zusammen – wer nicht lobt, der lebt nicht wirklich. Sinclair Lewis sagte einmal: Der Snob, der kritisiert an allem herum, loben ist nichts anderes als hörbar gewordene Gesundheit. Also wer lobt, der ist auch innerlich gesund. Und ich denke, das Christentum hat in der ganzen Zeit immer gesungen. Wir singen ja den Choral, der seit dem sechsten Jahrhundert üblich war, und das ist für uns heute noch eine heilige Musik. Ein Wissenschaftler meint, ein Choral ist die Kunst, im Singen das Schweigen hörbar zu machen.
    Benediktinerpater Anselm Grün, aufgenommen vor der Abtei Münsterschwarzach bei Würzburg
    Benediktinerpater Anselm Grün, aufgenommen vor der Abtei Münsterschwarzach bei Würzburg© dpa / picture alliance / David Ebener
    Gessler: Professor Karimi, der Islam hat ja zumindest am Anfang – oder zum Teil gibt es diese Richtung ja heute noch – hat etwas Schwierigkeiten mit der Musik gehabt, zumindest mit der Musik, mit Musikinstrumenten, da gibt es Richtungen, die das vertreten, dass das nicht ganz passt zum Islam. Sind das Randerscheinungen oder wie würden Sie das sehen?
    Karimi: Ja, in der Tat, das sind nur Randerscheinungen, und es gab immer schon einen großen Streit, ob das überhaupt Sinn macht für eine derartig musikalische Religion. Und theologisch hat es sich zum Glück durchgesetzt, weil es auch plausibel ist, dass die Musik eine ganz eigene Erfahrung des Göttlichen ist. Al Asadi, der große Denker des Islam, sagte einmal: Wenn man im rechten Herzen Musik hört, dann wird der Glaube intensiviert. Oder was Sie gerade gesagt haben, das ist bereits schon angeklungen: Musik ist so etwas wie das Knarren der Pforten des Paradieses. Im Grunde genommen, durch die Musikalität wird einem gerade das Übersinnliche, das Transzendentale in der Welt gewahr. Insofern ist die Kraft des Musikalischen derartig durchdringend, dass kein äußerliches Verbot so etwas aufhalten kann.
    Gessler: Nun ist ja das Besondere am Islam auch, dass das heilige Buch, der Koran, im Grunde selbst eine Art Gesang ist. Kann man das so sagen?
    Karimi: Ja, in der Tat. Also mit der Offenbarung des Koran wird, wenn Sie so wollen, das Absolute ästhetisch. Es wird sinnlich wahrnehmbar. Und der Koran als Medium für diese Offenbarung Gottes ist Rezitation, ist Mündlichkeit, ist oral vermittelt. Aber diese Oralität ist einfach nicht nur das Gesprochene, sondern das rhythmisch Gesprochene, das Melodische, das Klangvolle, was auch für Memorien sehr leicht ist und dennoch auch erhebt, heilt und tröstet, beschwingt im Grunde genommen. Also wer glaubt, der kann fliegen, und das kann man im Akt der Rezitation des Koran erleben.
    Gessler: Wenn Sie den Koran rezitieren, kommen Sie dann auch in eine Art Gesang? In Ihrem Buch "Osama bin Laden" beschreiben Sie ja, wie Sie zum Beispiel Ihrem jungen Sohn auch vorsingen, aber es ist eine andere Art von Vorsingen im Koran, es ist eben rezitieren.
    Karimi: Genau, vielleicht der Begriff Rezitation bringt es nicht richtig zum Begriff. Der Koran will anmutig zur Sprache gebracht werden, also mit Anmut, mit Stil, mit Freude im Grunde genommen, und das ist musikalisch. Es ist wirklich nicht einfach trocken vorgelesen oder rezitiert, wie man ein Gedicht vorträgt, sondern wenn Sie einen Vergleich haben wollen, wenn Sie Homer vortragen, das ist ganz anders, als wenn man einfach nur einen Prosatext von Aristoteles lesen würde. Das hat Klang, das hat Rhythmus, das hat Reim – der Koran ist durch und durch gereimt. Es ist auch Bruch da, es ist kurz und knapp, und durch diese Haltung der Vermittlung ist das Herz berührt. Also ich bin berührt von der Rezitation des Koran.
    Gessler: Sie sind ja geflohen aus Afghanistan als Kriegsflüchtling mit Ihrer Familie, Sie sind im Grunde im Krieg aufgewachsen und haben dann über Moskau zum Teil in den Händen von Menschenschmugglern Ihren Weg gefunden mit Ihrer Familie nach Deutschland. In all diesen schrecklichen Erfahrungen, war Ihnen da der Koran und der Glaube eine Stütze?
    Karimi: "Glaube ist ja auch etwas ganz Verrücktes"
    Karimi: Ja, in der Tat, also so verstehe ich auch Dostojewski, warum er sagt, dass die Schönheit die Welt erlöst. Ich fand immer wieder mich in einer Situation der Verzweiflung, in einer ausweglosen Situation, in der ich nicht mehr über mich verfügen durfte. Und gerade in diesem Moment, in diesem Moment, in dem alles ausweglos ist, in dem man einfach verloren scheint, war dennoch ein Halt da. Ich hab mich immer in der ewigen Hand getragen gefühlt. Wenn Sie so wollen, der Glaube ist ja auch etwas ganz Verrücktes, also eigentlich darf es so etwas gar nicht geben, weil es einfach weder logisch nachvollziehbar ist oder sonst irgendetwas, aber da scheint der Glaube doch von etwas zu reden, was Pater Anselm auch vorhin kurz erwähnte, nämlich das tiefer geht, das nicht begrifflich einholbar ist, das unbegrifflich Unmittelbare. Und so etwas war mir in meiner eigenen Biografie immer gegenwärtig. So fühlte ich mich auch in jeder Stunde von dem, den es gar nicht geben darf, aber es ihn doch gibt, getragen und heilsam geführt.
    Gessler: Wir reden über die Schönheit des Glaubens. Es ist eine ganze große Frage, aber können Sie, Pater Anselm, beschreiben, was die Schönheit des Glaubens ausmacht?
    Pater Anselm: Ich würde nicht sagen, dass der Glaube schön ist, sondern dass der Glaube das Schöne uns offenbar macht. Glauben heißt ja sehen. Also gerade Im Johannesevangelium ist Glauben tiefer sehen und eben die Schönheit Gottes sehen, und Gott ist das Urschöne, so sagt schon Platon, und im Johannesevangelium geht es immer um die Heiligkeit Gottes und die Heiligkeit Jesu. Und das Paradoxe ist eben, dass diese Schönheit einmal in der Sprache auch zum Ausdruck kommt, und die Sprache des Johannesevangelium ist auch eine schöne Sprache, und diese Schönheit offenbart sich gerade im Menschlichen. Das Kind in der Krippe, wo die Schönheit Gottes im Kind offenbar wird, aber dann auch am Kreuz, wo das Paradoxe ist, dass in diesem geschundenen Leib Jesu Gottes Herrlichkeit aufleuchtet, eine Herrlichkeit, die eben eine Schönheit, die tiefer ist als die äußere Schönheit, wie wir in unseren Schönheitsidealen das zum Ausdruck bringen.
    Schön, das deutsche Wort schön, kommt ja von schauen. Wenn ich etwas liebevoll anschaue, dann ist das schön. Viele versuchen ja heute, äußere Schönheitsideale zu verfolgen, aber wenn ich mich selber liebevoll anschaue, dann bin ich schön. Und der Glaube ist so dieses liebevolle Anschauen der Wirklichkeit, dass ich in allem Gottes Liebe und Gottes Schönheit erkenne – in den Menschen, in den Worten, in der Natur und eben auch im Gottesdienst, die Liturgie soll ja auch schön sein, dass die Schönheit Gottes sichtbar wird in der Kunst, in der Malerei, aber auch in der Musik, auch in den Zeremonien, in Riten, der Liturgie, und wenn diese Schönheit Gottes zum Ausdruck kommt, dann tut es der Seele gut. Und Glaube ist eben für mich die Fähigkeit, das Schöne zu sehen, und dieser Glaube ist über die Konfessionen und Religionen hinaus, weil Gottes Schönheit ist für alle sichtbar. Darüber kann man dann auch nicht streiten, sondern das Schöne sieht man und sehen wir gemeinsam. Wir deuten es vielleicht anders, aber es ist die Schönheit Gottes, die uns in der Musik, in der Natur, im Menschen, im Wort, in allem begegnet.
    Gessler: Pater Anselm, Sie haben sich bereit gefunden, uns etwas zu lesen aus Ihrem Buch über die Schönheit. Wenn ich Sie bitten darf!
    Pater Anselm: Ich möchte gern einen Abschnitt lesen über die Schönheit bei Simone Weil. Das ist eine französische Jüdin, die sich sehr eingesetzt hat für die Arbeiter, die sozial engagiert waren. Also für sie ist das Schöne sicher keine Flucht in eine heile Welt, sondern die Erfahrung des Schönen war für sie lebensnotwendig, um in dieser Situation der Arbeiter überleben zu können:
    Simone Weil war eine sehr empfindsame Frau. Offen für die Nöte der Menschen, offen für die philosophischen und theologischen Fragen, die den Menschen umtreiben. In ihrem Einsatz für junge Menschen aus dem Arbeitermilieu ist ihr die Frage nach dem Schönen wichtig. Sie möchte den Menschen einen Sinn für das Schöne vermitteln. Sinn für das Schöne zu haben, bedeutet für sie, einmal ein Gespür für die religiöse Dimension der Schöpfung zu bekommen. Und sie vertraut darauf, dass das Schöne zu allen Menschen spricht. Da gibt es keinen Unterschied zwischen gebildet und ungebildet, zwischen religiösen und nicht religiösen Menschen. Gerade den Arbeitern mit ihren oft menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen gibt das Schöne, das sie in der Natur und sich selbst spüren, ihre Würde wieder, und es schenkt ihnen einen Ruhepunkt mitten in den Anstrengungen des Lebens.
    Ich möchte nur einige ihrer Gedanken über das Schöne meditieren. Die Schönheit der Welt ist für Simone Weil Sichtbarwerden des Göttlichen und Ausdruck der göttlichen Inkarnation. Sie schreibt: Die Schönheit ist der Beweis dafür, dass Inkarnation möglich ist. Sie sieht die Liebe Gottes als Grund dafür, dass er sich uns in dieser Welt als Schönheit zeigt. Sie schreibt: Die Liebe ist aus Liebe in Form der Schönheit auf diese Welt herabgestiegen. So sieht sie die Schönheit vor allem in Jesus Christus verkörpert. Sie nennt die Schönheit Christi zärtliches Lächeln für uns durch den Stoff hindurch. In der Schönheit eines Menschen, in der Schönheit der Schöpfung dürften wir also Jesu zärtliches Lächeln erkennen. Jesus lächelt uns zu, in der Schönheit nimmt er Beziehung zu uns auf, eine liebende und lächelnde Beziehung. Für Simone Weil ist daher eine Spiritualität der Schönheit immer eine inkarnatorische und zugleich christologische Spiritualität. Die Schönheit in der Welt zeigt, dass Gott sich schon immer im Fleisch, im Stoff offenbart. Die Inkarnation Jesus Christus ist gleichsam der Höhepunkt der Offenbarung von Gottes Schönheit im Stoff. Da wird Gottes Schönheit in diesem Menschen Jesus verdichtet und strahlt in einem bisher nicht bekannten Glanz in dieser Welt auf.
    Das Schöne ist nicht einigen Ästheten vorbehalten, alle Menschen nehmen das Schöne wahr. Weil schreibt: Das Wesentliche ist, dass das Wort Schönheit zu allen Menschen spricht. Daher ist Spiritualität der Schönheit eine ökumenische Spiritualität. Alle Religionen sprechen vom Schönen. Indem Menschen aller Religionen vom Schönen in der Welt berührt werden, werden sie letztlich von Gott berührt. So ist das Schöne ein Ansatzpunkt, über Gott und Gotteserfahrung zu sprechen, ohne den Menschen dogmatische Sätze beweisen zu müssen. Im Gespür für das Schöne sind wir auf dem gemeinsamen Weg zu Gott, der Urschönheit, die sich im Schönen uns allen zeigt.
    Es braucht aber auch die richtige Haltung dem Schönen gegenüber. Da ist einmal die Fähigkeit, das Schöne wahrzunehmen, es zu bestaunen. Zum anderen braucht es die Haltung des Lassens. Simone schreibt: Das Schöne, das, was man nicht verändern will - und: Schönheit, eine Frucht, die man anschaut, ohne die Hand nach ihr auszustrecken. Meister Eckhart nennt die Haltung, die wir gegenüber der Schönheit einnehmen sollen, Gelassenheit. Es ist die Haltung, die Dinge zu lassen, wie sie sind, sie nicht ständig verändern oder beurteilen zu wollen. Die Fähigkeit, mit dem Schönen in Berührung zu treten, ist für Simone Weil aber letztlich die übernatürliche Liebe. Sie schreibt: Es ist die gleiche Fähigkeit der Seele, nämlich die übernatürliche Liebe, die mit dem Schönen und mit Gott in Berührung steht. Die übernatürliche Liebe ist in uns das Organ der Bindung an das Schöne. Und der Sinn für die Wirklichkeit des Universums ist in uns und mithin für seine Schönheit identisch. Das Dasein in seiner Fülle und die Schönheit verschmelzen miteinander.
    Gessler: Vielen Dank, Pater Anselm.
    Wir reden über die Schönheit heute, aber natürlich, wenn wir über die Schönheit in den Religionen reden, kommen wir automatisch auch zu der anderen Seite der Religionen, eben das, was hässlich ist an den Religionen oder am Glauben. Professor Karimi, Sie haben den Koran übersetzt, was ja eine Riesenaufgabe ist, auch als ein ästhetisches Werk, ja nicht nur als ein religiöses, sondern eben auch als ein Stück Poesie, als ein poetisches Wunder. Finden Sie eigentlich auch hässliche Seiten im Koran?
    Gibt es hässliche Seiten im Koran?
    Karimi: Nein, eigentlich ganz und gar nicht. Der Koran scheint gerade etwas zu sein, das einen dazu verleitet, Schönes hervorzubringen. Und insofern ist selbst ein Urteil über den Koran immer schwierig, und hässlich kann die Offenbarung Gottes ja kaum sein, weil es die Offenbarung Gottes ist, und davon gehen wir Muslime aus. Insofern, meines Erachtens wird man auch nicht sagen können, ob der Glaube hässlich oder schön ist, wie auch Pater Anselm sagte, sondern der Glaube macht schön. Man kann aber dennoch die Hässlichkeit, die man hervorbringt, religiös deuten, religiös rechtfertigen.
    Das gilt im Übrigen für alle Weltreligionen. Man kann mit dem Evangelium Krieg führen, wie auch mit der Tora und auch im Namen des Koran und im Namen Gottes. Das kann man machen, aber das ist falsch. Und das ist nicht, weil ich das falsch finde oder weil wir so friedvolle Menschen sind – das sind wir ohnehin –, sondern weil das einfach mit der Gesamtkomposition der Sache nicht stimmig ist. Auch wenn Sie hier von Musikalität und Stimmigkeit und Harmonie sprechen, dann ist das ja so etwas wie: Egal, was ich im Namen dieses Glaubens formuliere, denke, urteile, eigentlich muss das in Verantwortung vor diesem Glauben sein, und dies muss stimmig sein. Insofern, diese Stimmigkeit ist verloren, ist gebrochen, wenn das Hässliche damit für schön und für gut erklärt wird. Und das wird gemacht, aber das hat keinen Halt in der Religion.
    Der Islamwissenschaftler und Philosoph Milad Karimi
    Der Islamwissenschaftler und Philosoph Milad Karimi© Peter Grewer
    Gessler: Warum erleben wir dennoch im Augenblick – man muss ja leider das Stichwort Islamischer Staat da nennen –, warum erleben wir im Augenblick diese hässliche Seite des Islam so stark? Was läuft da schief?
    Karimi: Ja, das ist eine schwierige Frage: Was läuft da schief? Vielleicht ist einfach die Fragestellung ein bisschen zu überdenken, was aber sicherlich vernünftig ist, wie Sie fragen. Es ist nicht die hässliche Seite des Islam, sondern das ist eine hässliche Seite unserer Wirklichkeit, die islamisch begründet wird. Es sind ja diese Menschen, die sich als, ja, Verfechter eines islamischen Staates verstehen, was im Übrigen ein Widerspruch in sich ist in der Religion: Es gibt überhaupt und gab es nie religiös fundiert einen religiösen Staat. Sondern das sind Menschen, die eigentlich von Grund auf ja nicht religiös sind, sondern sie sind Terroristen oder wie man sie auch nennen mag, und ihr Terror wird nun religiös begründet und nicht umgekehrt, dass sie religiöse Menschen sind und von der Religion her zum Terror übergehen, sondern einfach machtbesessene, fehlgeleitete Menschen. Die tun mir irgendwie auch leid. Gerne hätte ich Ihnen eine Vorlesung über islamische Glaubenslehre gegeben, weil - also das ist einfach schade. Ihnen geht so viel Gutes, Wertvolles verloren, auch allen Quellen des Lebens und der Schöpfung, dass das niemals begründbar ist.
    Insofern würde ich das eher so verstehen, dass das Ganze ja auch, obwohl es nur unter dem kleinen Deckmantel Islam verstanden wird, dass es viel größer ist. Es ist eine ökonomische Angelegenheit, es ist eine globale Angelegenheit, es ist eine politische Angelegenheit. Man muss darüber nachdenken, wie kommen sie zu diesen Waffen, wer finanziert sie, welche politischen Interessen sind am Werke. Und es ist viel verflochtener, sehr unüberschaubarer als einfach das Ganze reduktionistisch auf die Religion des Islam zu führen, was aber nicht heißt, dass ich jetzt eine Apologie betreibe. Also auch wir Muslime müssen darüber nachdenken, was wir machen können, damit das auch nicht einsichtig wird, warum das im Namen des Islam gemacht wird. Die letzten Debatten sehen Sie, überall wird erneut jetzt darüber nachgedacht, ob doch nicht Gewalt ein Wesensmerkmal des Islam sei. Und darin sehe ich, dass wir unsere Arbeit nicht gut machen, also nicht gut genug, dass man überhaupt darauf kommt. Natürlich wurden auch im Namen des Christentums Kriege geführt, aber ich bitte Sie, das ist doch ... man kann das machen, aber Jesus ist Liebe, seine Botschaft ist Liebe.
    Gessler: Genau das wäre die Frage. Das Christentum hat ja auch ein unglaubliches Sündenregister in den letzten 2.000 Jahren angehäuft, oft im Namen des Glaubens, und noch heute erleben wir schreckliche Dinge – man braucht nur an den Missbrauchskandal zu denken, der mitten in der Kirche stattfindet. Wie erklären Sie sich, dass eine Religion, die doch eigentlich das Friedliche, die Liebe und die Sanftmut auf ihrem Banner hat durch Jesus, eben diese Verirrungen haben kann?
    Die Verirrungen des Christentums
    Pater Anselm: Die Verirrungen hängen immer mit Angst zusammen – Angst vor der eigenen Wahrheit, vor der eigenen Wirklichkeit. Der eigentlich religiöse Weg ist, dass ich meine ganze Wirklichkeit Gott hinhalte und sie von Gott verwandeln lasse. Aber wenn ich nicht bereit bin, meine Wirklichkeit anzuschauen, meine Aggressivität, meine Minderwertigkeit, dann agiere ich sie aus. Und das Gefährlichste ist, das, was Sie auch gesagt haben, wenn mein Ausagieren dann religiös überhöht wird, dann wird es eigentlich unfehlbar, und dann fühle ich mich noch gut, wenn ich andere töte im Namen Gottes, aber das ist wirklich eine Verfälschung des Glaubens. Die Lateiner sagen ja, "Corruptio optimi pessima", wenn das Beste – und der Glaube ist sicher das Beste, was die Menschen haben –, wenn das verfälscht ist, ist es das Schlimmste, was passieren kann. Weil gegen eine religiöse Begründung von Gewalt und Unrecht ist schwer anzugehen, weil die Leute dann verblendet sind. Aber es hängt immer mit der Angst zusammen, dass man sich der eigenen Wahrheit nicht stellt.
    Ein früherer Mönch sagt: Wer sich selbst erkennt, der urteilt nicht über andere. Aber zum Beispiel auch diese Terroristen, die sagen, alle Ungläubigen müssten ausgerottet werden, die haben Angst vor ihrem eigenen Unglauben. Weil sie in der eigenen Seele ungläubig sind, hängen sie sich an einen Glauben, den sie aber nicht haben, und töten im Namen dieses Glaubens andere. Und wichtig wäre, sich der Wahrheit zu stellen. Und wer sich der Wahrheit stellt, der tiefen Wahrheit, dann können die Menschen miteinander umgehen, dann müssen sie den anderen nicht beweisen, du musst genauso sehen wie ich, sondern Gott ist jenseits unserer Bilder, keiner hat die Wahrheit in sich, denn Gott ist die Wahrheit. Und wir haben nur Worte über Gott, sowohl im Islam wie im Christentum, und es ist wichtig, gemeinsam auf das Geheimnis zu schauen, und die Schönheit ist eben auch das Geheimnis Gottes. Und wenn wir gemeinsam auf die Schönheit schauen, dann können wir uns nicht gegenseitig umbringen.
    Und im Christentum war es natürlich aber auch mit Macht verbunden. Die Spanier und Portugiesen haben natürlich dann – in Südamerika, da war ja ganz viel Macht mit im Spiel und natürlich evangelische und katholische Glaubenskriege –, aber das war immer aus Angst, aber Gott sei Dank sind wir darüber hinweg. Momentan werden im Namen des Glaubens zumindest keine Kriege mehr geführt, allerdings gibt es durchaus auch immer noch Tendenzen, fundamentalistische Kreise im Christentum, die auch die anderen verurteilen, das ist nicht gläubig. Das ist auch genauso die gleiche Angst vor dem Unglauben im eigenen Herzen, die man dann auf die anderen projiziert.
    Karimi: Ja, in diesem Sinne wäre dann auch ... die Verfehlung der Menschen, also Isis oder so jemand, besteht ja gerade darin, und das ist ihre eigene Tragödie, wie Sie auch so schön beschreiben, dass sie durch ihre Verachtung der Menschen und der Schöpfung im Grunde den Schöpfer verachten. Wer einen Menschen enthauptet als das Geschöpf Gottes, der begeht Gottesmord. Und insofern sind sie eigentlich Mörder Gottes. Sie sind diejenigen, die im tiefsten Herzen den Unglauben, wie Sie so schön sagen, tragen, indem sie ständig gerade das leugnen, was sie am meisten in den Mund nehmen, nämlich Gott, also die Leugnung eines Menschen, einer Würde eines Menschen. Im Koran ist das so schön formuliert: Wer eine Seele tötet, hat die ganze Menschheit getötet, aber wer eine Seele rettet, hat die ganze Menschheit gerettet. Also wenn mir das mein Glauben vermittelt, dann ist das gerade Halt und Mut zu der eigenen Wahrheit und Wirklichkeit, wie Sie so schön benennen.
    Gessler: Sie hören heute am Heiligabend ein Gespräch und Musik zum Heiligen Abend, und wir haben hier zwei wunderbare Gäste, nämlich Pater Anselm Grün und Professor Karimi. Wir haben über die schönen Seiten des Glaubens gesprochen und auch natürlich über die hässlichen Seiten des Glaubens. Weil das ja ein ökumenisches Gespräch ist, wollte ich gerne auch darauf kommen: Was ist denn eigentlich schön an dem Glauben des anderen, was gefällt Ihnen da besonders? Pater Anselm, viel Streit zwischen den Religionen entsteht ja gerade deshalb, weil man die Schönheit der anderen Religionen nicht erkennt. Was gefällt Ihnen zum Beispiel am Islam?
    Pater Anselm: "Ich liebe die mystische Seite des Islam"
    Pater Anselm: Ich liebe natürlich die mystische Seite, sowohl am Christentum wie am Islam, deswegen, die Sufis, die liebe ich sehr, und auch die Texte zum Beispiel von Rumi, die kann ich als Christ genauso lesen. Wenn Rumi davon schreibt, dass unser Atem Gottes Liebesduft ist, das kann ich genauso nachvollziehen, oder die Derwische, die da in Ekstase tanzen. Also ich denke, wenn wir die mystische Seite sehen im Glauben des anderen, dann sind wir uns ähnlich.
    Die Mystiker haben sich nie bekämpft, weil die Mystiker gehen von Erfahrungen aus und nicht von Rechthaberei. Und das ist, glaube ich, ganz wichtig, dass wir von der Erfahrung ausgehen, und die Erfahrung des anderen achte ich. Und wenn der andere mir seine Erfahrungen beschreibt, dann achte ich dich, und zugleich sehe ich sie als Spiegel – da hab ich eine ähnlich Erfahrung gemacht, die würde ich vielleicht in meinem Glauben anders deuten –, aber in der Tiefe sind die Erfahrungen sehr ähnlich. Und gerade Rumi betont ja vor allem auch die Liebe Gottes, die Güte und Barmherzigkeit Gottes, und Barmherzigkeit ist ja auch ein Grundwort des Christentums. Jesus sagt im Lukasevangelium: Seid barmherzig wie auch der himmlische Vater barmherzig ist. Also ich denke, in diesen Worten, in diesen Haltungen treffen sich die Religionen, und das finde ich dann schön. Und schön finde ich auch die Konsequenz des Betens – sie beten ja fünfmal, wir Mönche beten auch fünfmal am Tag, also da haben wir durchaus etwas gemeinsam. Und dass wir auch mit dem Leib beten, auch wir Mönche beten mit dem Leib, Gebärden, mit Verbeugungen, Verneigungen, dass der ganze Mensch von Gott erfüllt wird und verwandelt wird, das ist für mich auch wichtig.
    Gessler: Gerade das, sagen wir, Körperliche des Gebets im Islam hat ja etwas Faszinierendes. Man wirft sich nieder, man ist Schulter an Schulter und hat trotzdem mit der Unterwerfung gleichzeitig ein Gefühl der Gemeinschaft, der Solidarität. Ist das einigermaßen richtig beschrieben?
    Karimi: Ja, wunderbar genau so. Und es ist auch ein ästhetischer Akt. Wissen Sie, auch in der Moschee ist es sehr schön, weil man die Schuhe auszieht. Die sind barfuß, die fühlen den Boden, und es ist nicht nur der Boden, auf dem man trampelt, sondern das ist auch der Boden, auf dem ich meinem ganzen Körper hinwende, auch mit meiner Stirn und mit meinem Kopf und mit meinen Armen, und zugleich meine Mitbrüder, Mitschwestern Arm in Arm, alle spüre, eigentlich alles Ablenkungen von dem Ewigen. Und gerade in diese vermeintliche Ablenkung, dass man sich als eine Einheit fühlt – alle Menschen gehören zusammen, alle sind Brüder und Geschwister –, wenden wir uns gemeinsam als eine Einheit dem, der all das uns geschenkt hat, zu. Und wenn das Gebet ist, dann ist das eine ganzheitliche Handlung. Daher wunderbar beschrieben.
    Gessler: Die Betonung des Friedlichen beim Christentum ist doch etwas, was auf jeden Fall schon Mohammed fasziniert hat, weswegen eben er Jesus als einen der Propheten gesehen hat.
    Karimi: Ja, in der Tat, und viel mehr. Wenn Sie mich fragen, was ist schön an dieser Religion, das ist über das Friedliche hinaus. Ich hab mich auch ein bisschen schwergetan mit der Theologie des Christentums, weil gerade die Betonung auf Trinität und Christologie etwas ist, was wir Muslime kaum verstehen. Aber genau das wollte ich verstehen. Das heißt, ich hab mir Leid zugefügt und immer in der ersten Reihe gesessen und versucht, Anselm von Canterbury zu lesen, und zu hören, wie das geht. Und irgendwann, trotz allem, was in mir ist und dagegen widerstrebt, ich hab die Schönheit entdeckt – die Schönheit von dieser Zerbrechlichkeit Jesu Christi am Kreuz, dass Gott Mensch wird, das ist ein unübertrefflicher Gedanke zunächst einmal. Also das kann man kaum übertreffen, dass der erhabene Gott, der vollkommene Gott, der transzendent absolute Gott so zerbrechlich wird, so unvollkommen und bedürftig, und dennoch nicht verloren, sondern in dieser Bedürftigkeit und Verlorenheit auch seine Herrlichkeit noch ausstrahlt, dass wir uns in seinem Lichte noch geborgen fühlen. Das ist die höchste Botschaft der Liebe. Und ich liebe am Christentum die Christen vor allem. Also sie sind diejenigen, die mir diese Liebe und Schönheit auch zeigen – in ihrer Zuwendung zu Gott, durch Jesus Christus. Und das spreche ich als jemand, der gerade nicht diesen Glauben hat, aber dennoch fasziniert ist von der Schönheit dieser erfüllten Gemeinde. Das ist für mich auch ein Spiegel für mich, ich erkenne mich im Christentum wieder. Sehe Differenzen, aber sehe auch Herausforderungen, auch Anziehungskräfte.
    Die Anziehungskraft des Christentums
    Gessler: Da werden Sie wahrscheinlich Probleme kriegen von muslimischen Verbänden, die sagten, Sie haben zu viel Sympathie für das Christentum.
    Karimi: Ich glaube kaum, ich glaube nicht, nein, nein, ich glaube kaum, dass gerade diese Verbände, die vielleicht nicht so einen Ruf haben, wie sie eigentlich verdienen mögen, machen sehr viel mit den christlichen Gemeinden. Sie sind immer eingeladen auch an Kirchentagen, sind vertreten, machen Kooperationen, Tagungen, das würde ich nicht sagen, aber ich glaube, diejenigen werden etwas zurückschrecken, die sich noch nie in einer Kirche befunden haben, sie noch nie ein Buch über das Christentum gelesen haben, auch noch nie einen Christen gefragt haben, wie glaubst du eigentlich und warum tust du das.
    Die gibt es leider, und das sind die, die radikal sind und ihren eigenen Glauben auch verfehlen. Ich finde, dass gerade, wenn Sie den Koran aufschlagen, der Koran lädt sie ein und befiehlt ihnen, sich mit den anderen großen Religionen zu befassen, sonst würden sie eigene Religiosität kaum begreifen, weil man gerade als Muslim sich ja auch nicht getrennt sieht, sondern als ein Glied einer bestimmten Kette von Gotteserfahrungen, Prophetenerfahrungen, und da spielt auch Jesus eine ganz – und vor allem Maria – eine ganz besondere Rolle.
    Gessler: Die Poesie, die man im Koran liest, wenn man ihn denn hören kann und lesen kann, die findet man ja in der Bibel nicht unbedingt oder nicht so häufig, also vielleicht in den Psalmen oder bestimmt in den Psalmen, auch im Hohe Lied, aber dann wird es, was Poesie angeht, doch etwas dünn, oder? Wie würden Sie das sehen?
    Pater Anselm: Gut, die Bibel hat natürlich sehr verschiedene Formen. Sie hat mehr geschichtliche Beschreibungen, natürlich im Alten Testament die ganzen Kriegsbeschreibungen – mit denen tun wir uns heute schwer, aber schon innerhalb der Bibel hat man die ja symbolisch gesehen, dass die Feinde nicht die Ägypter sind oder die anderen, sondern innere Feinde, die mich gefangen halten, oder Ägypten, das Bild für die innere Gefangenschaft, dass wir von Fehlhaltungen, von Lebensmustern gefangen sind.
    In der Bibel, gerade im Neuen Testament, gibt es wunderbare Texte. Ich denke, Jesus selber, auch ein Poet, die Gleichnisse sind voller Poesie, wie er die Bauern beschreibt und die Welt beschreibt. Jesus war auch Ästhet, der hatte einen Sinn für Schönheit. Dann Lukas hat eine wunderschöne Sprache, und Lukas gilt halt nicht umsonst als der Maler, der so beschreiben kann, dass ein Bild entsteht, dass man das Schöne dieses Bildes sehen kann. Der verlorene Sohn oder die Emmausjünger oder der Samariter, das liest man und sieht etwas. Deswegen haben die Künstler vor allem ja das Lukasevangelium als Quelle genommen, oder jetzt die Weihnachtsgeschichte verdanken wir ja Lukas. Und er beschreibt sie so schön wie ein Triptychon, wie ein Bild mit verschiedenen Facetten, dieses Schöne ist schon da.
    Manche Theologen haben zu wenig Sinn für das Schöne gehabt und mehr für die Dogmatik, und sie haben sich dann vor allem auf die Paulusbriefe verlegt, vor allem evangelische Theologen, und die haben dann sehr abstrakt darüber geschrieben, und in theoretischen Diskussionen, da spürt man dann oft nicht mehr so die Schönheit. Oder Johannes, das ist eine wunderschöne Sprache, oder auch der Titusbrief – Jesus Christus ist die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, die Humanitas in Jesus Christus, das sind wunderbare Bilder. Aber ich denke, wir sollten eben gerade auch die Schönheit der Sprache und die Schönheit der Bibel neu entdecken, uns nicht sofort stoßen an den geschichtlichen Berichten, wo es ja auch grausame Dinge gibt, aber die muss man eben auch deuten.
    Wie müssten sich Christentum und Islam ändern?
    Gessler: Herzlich willkommen, liebe Hörerinnen und Hörer, zu der zweiten Stunde dieses Gesprächs mit Musik zum Heiligen Abend. Wir sprechen hier mit Pater Anselm Grün, Benediktinerpater und ein Bestsellerautor, mit einer Millionenauflage weltweit, und mit Professor Ahmad Milad Karimi, geboren 1979 in Kabul, Professor für islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster. Wir haben in der ersten Stunde geredet über die Schönheit der Religion oder des Glaubens, wir haben viel über Musik geredet, auch über die Schönheit in der jeweils anderen Religion, also im Islam und im Christentum, und natürlich auch über die hässlichen Seiten. Bei den hässlichen Seiten schließt sich eigentlich eine Frage an, nämlich die Frage: Wie müssten sich eigentlich Christentum und Islam ändern? Professor Karimi, deswegen die erste Frage an Sie: Einige Gelehrte meinen ja, der Islam müsse durch eine Art Aufklärung gehen und sich reformieren. Finden Sie, das stimmt?
    Karimi: Nein. Nein, einfach ganz und gar nicht, weil wenn das stimmen würde, hätten wir ein ganz großes Problem. Denn zunächst würde man ja voraussetzen, dass die Muslime eigentlich in einer vollkommen anderen Welt leben, also die hätten nie was von der Aufklärung gehört. Also wie wollen Sie jetzt mich aufklären – ich meine, die Aufklärungstexte habe ich gelesen, die kann ich schon fast auswendig –, wie soll ich jetzt sonst noch besser meinen Verstand gebrauchen.
    Die Frage ist aber berechtigt, wenn man damit meint, dass auch die Religiosität sich kommunikabel machen muss, dass wir einfach nicht von Mythen und Dogmen ausgehen, die in keiner Weise verständlich sind, sondern nur im Kreise der Gläubigen, dann ist das in der Tat wahr. Das würde auch die Bestrebungen der islamischen Tradition auch wiedergeben, da sie immer wieder versucht sind, bereits ab dem achten Jahrhundert in unterschiedlichen Formen zu zeigen, worin besteht die Vernünftigkeit dessen, wie kann man das eigentlich begreifen. Und insofern ist das schon wahr, dass die Religion sich auch verändern muss. Auch das Verständnis der Religion und Religiosität muss sich verändern, und zwar nicht, weil ich das fordere, weil ich ein Anhänger der Aufklärung bin – oder Reformator wäre, Gott bewahre, Angesichts von Ihnen würde ich das nie in Anspruch nehmen –, sondern weil der Islam ja den Anspruch erhebt, eine lebendige Religion zu sein. Und alles, was lebt, muss sich verändern.
    Eine statische Religion, ein statisches Verständnis ist ein totes Verständnis und blind für die Lebenswirklichkeit. Wir leben nicht mehr im achten, siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel – selbst dort haben sich Lebensumstände verändert. Das heißt, wenn Religion überhaupt Menschen erreichen will, und zwar Universalanspruch der Religionen gibt es ja, dann müssen diese Religionen auch schauen, wo die Menschen leben, welche Bedürfnisse sie haben, wie man sie einfangen kann. Das heißt nicht, dass die Religion ein Werkzeug der Beliebigkeit und Willkür werden soll, ganz und gar nicht. Es gibt Fundamente, die wir achten und bewahren, auch das ist Religiosität, aber gerade wenn wir von der Wahrheit sprechen, die wir nicht haben, und dann daran teilhaben, dann haben wir eine große Bandbreite an Veränderungsmöglichkeiten, Verständnismöglichkeiten, Pluralität. Das ist gefördert und gefordert.
    Gessler: Und sehen Sie diese Bewegungen? Also gerade in Deutschland ist es ja faszinierend, dass die islamischen theologischen Zentren tatsächlich – so scheint es – eine doch neue Lesart des Islam lehren, und man wird sehen, welche Früchte das in Zukunft haben wird. Hat denn diese islamische Theologie, die hier in Deutschland betrieben wird – sie ist ja noch relativ jung mit diesen islamischen Zentren –, hat die denn eine weltweite Ausstrahlung?
    Karimi: Ja, in der Tat. Wir haben eine weltweite – also wir stecken noch in den Kinderschuhen, daher darf ich kaum darüber reden, aber die Zielsetzung ist ja so, dass wir versuchen, gerade in einem europäischen Kontext uns als Muslime unserer Religion zu verstehen und zu interpretieren, mit aller Verantwortung. Und da sehe ich, und das ist vielleicht etwas kontraintuitiv, dass die Erneuerung des Islam nicht darin besteht, dass ich fortschreite und mich von meiner Tradition trenne, sondern die höchste Form der Erneuerung ist, sich zu besinnen auf das Eigentliche. Also wenn Pater Anselm sagt, wir müssen einfach die Bibel neu lesen, wir müssen uns offenhalten, das, was da gesagt wird, das ist ja gerade das Neue. Also schauen Sie, wenn man das Johannesevangelium auf Deutsch liest, da werden Sie ja kaum Politizität entdecken, wenn Sie es aber im Original lesen, wie das klingt, wie das komponiert ist, das ist beschwingend. Gerade den Anfang vom Johannes-Prolog, wenn Sie das im Altgriechischen lesen, das ist Wahnsinn. Und genau dieser Wahnsinn, der da steckt, dieser Rausch, diese Sprache, diese Politizität, das gilt zu entdecken und darin die Religiosität auch so zu begreifen. So sehe ich die Erneuerung. Also ich bin unglaublich traditionell – und dadurch erneuerbar.
    Der Weg zu einer neuen Kirche
    Gessler: Nun ist ja die katholische Kirche auch vor einer Erneuerung, kann man sagen, durch Papst Franziskus vor allem, hat man den Eindruck, der etwas Radikales fordert, nämlich dass die Kirche, die ja gerade hier in Deutschland doch ziemlich reich ist – weltweit vielleicht nicht, aber hier in Deutschland schon –, dass sie eine Kirche der Armen sein soll. Sehen Sie auch diese Radikalität und ist die deutsche Kirche, die eben so reich ist, überhaupt dazu fähig?
    Pater Anselm: Gut, es gibt zwei Bereiche, wo die Kirche sich erneuern muss. Das eine, was Papst Franziskus sicher sagt, die Kirche und Jesus war immer auf der Seite der Armen und der Ausgestoßenen, und ich denke, die Kirche hat das in Afrika, in Lateinamerika ja auch immer sehr, sehr gut vorgelebt. In Deutschland ist sicher die Gefahr, dass wir zu satt geworden sind. Ich denke, das ist die Sensibilität für die Armen, für die Ausgestoßenen, dass Leben geteilt wird: Das ist sicher ein Punkt der Erneuerung, dass es eben nicht nur darum geht, eine große Kirche zu bauen oder dass die Kirche gut dasteht, sondern die Kirche ist im Dienst der Menschen, und das ist ja auch ein wichtiger Aspekt des Christentums: Stellvertretung. Wir werden nie die ganze Welt zu Christen machen, aber die Christen haben die Aufgabe, stellvertretend wie ein Sauerteig zu sein – Sauerteig der Hoffnung, Sauerteig des Friedens, Sauerteig eben der Liebe und eben der Hoffnung, gerade für die Armen.
    Und der zweite Aspekt: Der Bereich, wo sie sich erneuern sollen, ist sicher auch die mystische Seite der Kirche. Die ist in den letzten 50 Jahren sicher neu entdeckt worden, aber viele Menschen sehnen sich nach spirituellen Erfahrungen. Die Kirche hat ganz viel geleistet im Umgang im sozialen Bereich, aber sie hat manchmal diese spirituelle Dimension, gerade die mystische Dimension etwas vergessen. Das war sicher ein Nachteil der Aufklärung. Die Aufklärung hat den Vorteil gehabt, dass die Kirche mit der Vernunft, also dass Glaube und Vernunft zusammenkommen, aber die Gefahr war, dass das typisch Religiöse in den Hintergrund trat. Ein Kirchenhistoriker sagt, nach der Aufklärung war die Kirche nur noch eine moralische Verbesserungsanstalt, und man hat Glauben dann nur noch mit Moral gleichgesetzt, und das ist zu wenig.
    Glaube ist eben mehr, ist eine Erfahrung, und gerade wenn wir von Schönheit sprechen: Das Schöne kann ich nur erfahren, und dann kann's mich verwandeln. Und die verwandelnde Kraft des Glaubens, die heilende Kraft des Glaubens, die ist mir auch ganz wichtig und die entspricht ja auch einer tiefen Sehnsucht der Menschen, wie kann der Mensch heil werden, und da ist der Glaube ein ganz entscheidender Weg. Und gerade Jesus hat ja die Kranken geheilt, und wie können wir diese therapeutische Dimension des Glaubens den Menschen von heute so vermitteln – den Reichtum auch der christlichen Tradition, der Riten, der Liturgie, des Kirchenjahres. C. G. Jung nennt das Kirchenjahr ein therapeutisches System. Wenn wir das richtig feiern, dann tut's der Seele gut, dann ist das wie so ein Heilungsprozess, der jedes Jahr neu gefeiert wird. Also diese Dimension neu zu entdecken, das wäre sicher wichtig.
    Gessler: Professor Karimi hat uns ebenso wie Pater Anselm Grün auch etwas mitgebracht, was er lesen möchte aus seinem wunderbaren Buch "Osama bin Laden schläft bei den Fischen". Professor Karimi!
    Karimi: Ja, sehr gerne. Ich werde einfach etwas aus einem Kapitel dieses Buches vorlesen:
    Einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Muslime sein. "Warum sollen wir Gott danken, dass wir eine Mutter und einen Vater haben?", fragt der Lehrer mit ernster Stimme. Ein Schüler steht auf und antwortet: "Ich weiß es nicht, denn ich habe weder eine Mutter noch einen Vater." Ohne darauf einzugehen, fragt der Lehrer einen anderen Schüler, er möge Dinge benennen, die schön sind. Dieser antwortet ohne zu zögern, wohl in Anspielung auf die Sure 91 des Koran: "Mond, Sonne, Blume, Spiel." "Zähle nun ein paar hässliche Dinge auf." Die Schüler lachen plötzlich. Mit strahlenden Augen antwortet der Junge: "Hand, Fuß, Kopf." Der Lehrer bleibt unbeeindruckt und fordert einen anderen Schüler auf, einen Satz an die Tafel zu schreiben, in dem das Wort "Haus" vorkomme. Dieser etwas älter wirkende Schüler schreibt: Das Haus ist schwarz. Der Schüler weiß, wovon er spricht. Vergänglichkeit und Leid sind diesen Menschen ins Gesicht geschrieben.
    "Das Haus ist schwarz" ist der Titel eines preisgekrönten Filmes von der Dichterin Forough Farrokhzad, der im Jahre 1962 realisiert wurde. Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts besucht die junge iranische Dichterin eine Leprastation in Tabris. Bei ihrem Besuch wird sie von einem Kamerateam begleitet. Der daraus entstandene 22-minütige Film bleibt der einzige, den sie inszeniert. 1964 gewinnt ihr Dokumentarfilm auf dem Filmfestival von Oberhausen den Großen Preis. Seitdem ich den Film "Das Haus ist schwarz" zum ersten Mal gesehen habe, konnte ich mich vor allem von einem bewegenden Moment nicht entfesseln: Der Vorbeter in der Moschee der Leprastation betet in aller Demut, indem er sich für all die Gnadengaben Gottes bedankt, die ihm erteilt wurden. Seine Hände, die er dabei nach oben streckt, sind beide verstümmelt, das Gesicht entstellt. Es ist noch nicht einmal ein Hauch von Ironie oder Zynismus zu spüren, im Gegenteil: So, wie er mit geschlossenen Augen auf dem Boden kniet und seinen Schöpfer preist, vergeht einem der Atem. Es gibt für ihn keine Heilung, kein Entkommen, die Hölle, die ihm umgibt, das ist er selbst, und er kniet vor Dankbarkeit für seine Existenz und lobpreist Gott dafür.
    Dass Forugh für ihren Film gerade Hiobs Wort in Erinnerung ruft, kommt nicht von ungefähr. Wenn der Glaube abgebildet werden könnte, dann wäre dafür keine andere Geste besser geeignet als das Bild dieses betenden Mannes voller Hingabe. Der Dichterin gelingt es, dem unverfälschten Glauben in seiner ganzen Reinheit eine Bühne zu bieten. In diesem Augenblick ist die Hölle, die ich persönlich einst im Krieg und in der Flucht erfuhr, vergessen. Seine Hingabe, sein Glaube ist verrückt. Dieser Glaube darf nicht sein, und doch findet er statt, er ist real. Dieser Islam macht verrückt, denn er nimmt uns den Schleier vom Gesicht, womit wir stets einen anderen spielen wollen. Muslim zu sein, heißt, sich in der Hölle daran zu erinnern, dass wir Menschen sind und selbst dort uns niederwerfen in der Hingabe an den einen Gott. Der Islam vereinnahmt nicht den Menschen, er lässt ihn als solchen erst frei. Wir werden als Mensch nicht geboren, so ließe sich die Kernbotschaft des Islam auf den Punkt bringen, sondern wir werden zu Menschen gemacht. Daran wird Mohammad bereits in der allerersten Offenbarung erinnert. Nicht jeder Mensch ist im spezifischen Sinne ein Muslim, dies ist auch nicht notwendig, aber jeder Muslim hat ein Mensch zu sein. Das ist aber ein Prozess und keine einfache Begebenheit. Das Religiöse, das Forugh ausgerechnet im Kerker der Lepra-Befallenen entdeckt, ist eine zutiefst menschliche Erfahrung: Vergänglichkeit.
    Gessler: Vielen Dank, Professor Karimi.
    Wir wollen jetzt über etwas reden, was auch das Fest der Liebe genannt wird, nämlich Weihnachten. Und Professor Karimi, das wäre eine Frage an Sie: Können Sie eigentlich mit diesem Fest etwas anfangen?
    Karimi: "Ich habe eine ganz bewegende Erfahrung mit Weihnachten"
    Karimi: Ja, in der Tat, und ich habe eine ganz bewegende Erfahrung mit Weihnachten. Als wir zum ersten Mal in Deutschland ankamen, das war so Ende Oktober 1993, und mein allererstes Weihnachtsfest wirklich war in diesem Containerlager, Asylanten-Flüchtlingslager. Wir wurden von einer Schulklasse besucht, die als Motto hatte, einfach zu zeigen, dass Menschen auch Engel sein können – die müssen nicht irgendwie Flügel haben –, und diese Schulklasse hat uns besucht, mit uns Weihnachten gefeiert, mit den Kindern. Die haben uns beschenkt und einige Kinder noch eingeladen zu der Schule, zu denen gehörte ich auch, so fünf Schüler, wie wir dann in der Schule Weihnachtssterne zusammen ausgeschnitten haben, miteinander gespielt haben, und ich sprach kein Wort Deutsch. Wir haben uns verständigt, wir haben gespielt, uns an den Händen gehalten. Und das ist eine ganz besondere Erfahrung, die ich eigentlich nie wieder vergessen werde.
    Für mich ist Weihnachten insofern etwas Religiös-Bewegendes auch, nicht nur, weil unser Prophet, Jesus an dem Tag geboren ist, sondern weil dies für mich auch ein Fest der Dankbarkeit ist, ein Fest der Menschlichkeit. Diese Menschen, die uns besucht haben, haben uns nicht mit Geld beschenkt, die haben uns keine großen Geschenke mitgebracht, sondern sie haben Zeit mitgebracht. Sie haben uns berührt, sie haben uns als Menschen angesehen, mit mir gespielt. Ich hab nichts von der Kultur verstanden, ich hatte noch nie Weihnachten gefeiert zuvor, aber es war etwas da. Und das, was diese Menschen getragen haben, also in sich getragen haben, haben sie vermittelt. Insofern ist Weihnachten eine ganz besondere Art, auch sich eine andere Religion wie das Christentum für Muslime zu vergegenwärtigen.
    Gessler: Es gibt ja auch durchaus, wenn man jetzt etwas theoretisch betrachtet, Anknüpfungspunkte von Weihnachten zu Ihrer eigenen Biografie. Maria und Josef finden keine Bleibe, und kurz danach – so sagen es zumindest die Evangelien – fliehen sie mit dem Jesuskind nach Ägypten. Sie sind Fremde, sie müssen fliehen, sie sind Flüchtlinge. Berührt Sie das auch, weil Sie selber ein Flüchtlingskind waren?
    Karimi: Ja, meines Erachtens, jeder Gläubige ist zutiefst ein Flüchtling. Er muss eben sich trennen von all dem, was vermeintlich uns hält. Es ist nicht unsere Nationalität, es ist nicht unsere Herkunft, unsere Hautfarbe, unser Geschlecht, unser Hab und Gut, sondern das, was die eigentliche Heimat ist, das ist dort, wo Liebe ist, das ist dort, wo wir uns wohlfühlen, wo wir in Frieden das sein können, wozu wir bestimmt sind. Insofern ist nicht nur gerade auch Jesus und seine Geschichte, auch Mohammad, er musste auch flüchten, das islamische Jahr beginnt mit seiner Flucht. Der Anfang des Islam ist, wenn Sie so wollen, die Flucht, die Entfesselung von seiner Stammesgesellschaft, von all dem, was ihn sonst ausgemacht hätte. Und vor allem wenn Sie im Koran Sure 19 anschauen, wie die Geburt von Jesu dort beschrieben ist – und ich würde mit Pater Anselm wetten, dass es sogar Lukas übertrifft –, und zwar die Weise, wie im Koran von Jesus und Maria da geschrieben wird, in dieser Rührung und Achtung, sucht seinesgleichen. Und wirklich eine der berührendsten Stellen im Koran, Maria als die einzige Frau, die namentlich im Koran im Übrigen erwähnt ist, das ist für Muslime gar nicht fremd.
    Gessler: Jetzt erleben wir ja, dass viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, und die Bereitschaft ist ambivalent. Es gibt Leute, die sagen, ja, wir wollen Flüchtlinge aufnehmen, nehmen sie zum Teil sogar zu Hause auf, und es gibt andererseits sogar Demonstrationen gegen Flüchtlinge, gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlandes. Ist das gerade zu Weihnachten nicht eine Schande, wenn man so was erlebt?
    Demonstrationen gegen Flüchtlinge - eine Schande
    Pater Anselm: Ja, ich denke, Weihnachten sagt uns Christen, dass wir eben auch Flüchtlinge aufnehmen sollen. Wir nehmen im Kloster auch 22 Flüchtlinge aus Syrien auf, die zu uns kommen und bei uns wohnen werden. Gut, diese Demonstrationen sind ein Ausdruck von Angst, und natürlich ist die Angst auch nicht total unbegründet, wenn man nach dem Nahen Osten schaut, aber ich denke, es ist wichtig, die Flüchtlinge darf man nicht mit den Menschen von Isis vergleichen. Deswegen, auch da ist wieder, die eigene Angst wird projiziert auf die Flüchtlinge, als ob die alle dann Isis-Kämpfer sind. Und ich denke, da ist dann Aufklärung wichtig, zu sagen, Flüchtlinge sind Flüchtlinge und nicht irgendwelche Menschen, die uns etwas Übel wollen, denn unsere Aufgabe ist es, sie anzunehmen und nicht nach dem Glauben zu fragen. Maria und Josef und Jesus sind nach Ägypten, und da waren ja auch keine Juden, da waren sie auch in der Fremde, auch in einem anderen religiösen Kontext, und ich denke, das ist auch eine Herausforderung an uns Christen.
    Gessler: Nun können wir natürlich nicht über Weihnachten reden, ohne zu sehen, dass es tatsächlich überlagert ist häufig von einem unglaublichen Konsumdenken. Das ist natürlich hier im Kloster vielleicht nicht so entscheidend, weil Sie zum Beispiel haben trotz Ihrer Millionenauflage und den großen Einnahmen, die Sie dadurch haben, spenden Sie ja alles und haben nicht mehr als tatsächlich das Taschengeld, was Sie bekommen vom Kloster. Regt Sie manchmal dieser Konsumismus zu Weihnachten auf?
    Pater Anselm: Ja, vor allem, Gott sei Dank bin ich nicht dem ausgesetzt, ich muss auf keinen Weihnachtsmarkt. Ich war neulich zu einem Vortrag, da war da in der Nähe ein Weihnachtsmarkt, da merke ich, da zieht es mich absolut nicht hin. Also das war auch eine Verkitschung des Weihnachtsfestes, wenn in der Adventszeit schon immer Weihnachtslieder gespielt werden. Advent ist eine Zeit des Wartens und des Wachens, des Aufwachens, und es ist eine wichtige Zeit, damit wir Weihnachten dann richtig feiern können. Und entscheidend ist, dass Weihnachten nicht nur auf Familienfeste reduziert wird, sondern dass wir überlegen, was feiern wir denn eigentlich. Und es ist das Geheimnis eben, dass Gott herabgestiegen ist, dass er in diesem Kind Mensch wird, das kann man nie ganz verstehen, das ist immer ein Geheimnis, und alle die logischen Aussagen wollen nur immer wieder dieses Wunder sichtbar werden lassen. Und Weihnachten ist natürlich auch ein mystisches Fest, und die Bibel sagt ja, Gott ist herabgestiegen im Schweigen. Und deswegen darf man nicht nur immer zusammenhocken in der Familie, das macht dann eher aggressiv, das erlebe ich in manchen Familien, sondern es braucht auch ...
    Gessler: Ich weiß nicht, was Sie meinen! Nein, nein, das war ein Witz.
    Pater Anselm: Und ich denke, es braucht auch die Stille, es braucht den Gottesdienst. Jesus will in uns geboren werden. Gott wird in uns geboren, die Frage, was heißt das, wie können wir das verstehen, ist natürlich ein Bild für eine Wirklichkeit, über die wir nur in Bildern sprechen können. Aber für mich ist ganz wichtig, wenn Gott in mir geboren wird, heißt das, ich komme in Berührung mit dem einmaligen Bild, das Gott sich von mir gemacht hat, und ich werde frei von all den Bildern, die andere mir übergestülpt haben, von den Bildern meiner eigenen Selbstentwertung, von den Bildern meiner eigenen Selbstüberschätzung.
    Wenn Gott in mir geboren wird, komme ich zu mir selber, zu meinem wahren Wesen, und erlebe in mir diesen inneren Raum, wo das Geheimnis Gottes in mir wohnt. Und die deutsche Sprache hat es ja so wunderbar ausgedrückt: Daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt, also nicht durch äußere Dinge, weil in mir das Geheimnis wohnt. Und wir schmücken ja unsere Häuser, weil wir glauben, dass Gott unter uns wohnt, dass er in mein Haus kommt, und das zum Ausdruck zu bringen, dass da ein Geheimnis ist. Man kann Heimat nicht nur durch Schmuck machen, sondern nur, wenn der Schmuck das Geheimnis ausdrückt, dass Gott in unsere Welt gekommen ist, dann hat es einen Sinn.
    Und Weihnachten ist für mich auch die Phase des neuen Anfangs. Papst Leo der Große sagt, Gott feiert mit uns einen neuen Anfang, wir sind nicht festgelegt auf die Vergangenheit, und das wäre ja auch im Dialog mit dem Islam ganz wichtig. Wir haben eine Geschichte, die auch mit Fehlern und mit viel Gewalt verbunden ist, aber Weihnachten ist immer die Hoffnung, einen neuen Anfang feiern, für mich selber persönlich, aber auch im Miteinander. Und insofern ist Weihnachten ein ganz wichtiges Fest der Hoffnung auch für die ganze Welt.
    Gessler: Wir sind heute kurz vor Weihnachten auch in den letzten Tagen des Jahres. Nach dem schrecklichen Jahr 2014 mit dauernd irgendwelchen Kriegen irgendwo auf der Welt, auch in Europa, da fragt man sich natürlich, welche Hoffnung besteht denn, dass das nächste Jahr besser wird. Haben Sie da konkret irgendwelche Hoffnung?
    Hoffnungen fürs neue Jahr
    Pater Anselm: Ich hab die Hoffnung, dass der Friede, die Einsicht in den Herzen wachsen werden, dass wir spüren, mit Gewalt lassen sich keine Probleme lösen, sondern es geht um den Dialog, um das Achten des anderen und um einen ehrlichen Dialog. Die Zukunft der Welt hängt davon ab, dass die Religionen friedlich miteinander umgehen können und gemeinsam die Menschen auf das Geheimnis hinweisen, das immer größer ist als wir selber. Und diese Hoffnung habe ich schon. Natürlich gibt es die Welt, so wie sie ist, aber wir beten auch in der Nacht, in der Christnacht – da wird drei Stunden während der Nacht Gottesdienst –, da beten wir eben, dass in der Tiefe der Herzen der Menschen die Sehnsucht nach Frieden stärker ist als die Brutalität, die ja letztlich diese Sehnsucht nur niederknüppelt und verdrängt. Und wenn die Sehnsucht in den Herzen wächst, dann gibt es auch Wege, politische Wege, anders miteinander umzugehen.
    Gessler: Im nächsten Jahr werden Sie ja - Mitte Januar werden Sie 70, das heißt, zumindest das ist eine Sache, mit der Sie mit Hoffnung und mit Freude entgegenblicken können.
    Pater Anselm: Ja, ich bin dankbar, ich werde mit Dankbarkeit zurückschauen auf mein Leben, und nach meinem 70. gebe ich auch gleich einen Kurs zum Thema Schönheit, da freue ich mich auch drauf, einfach mit Menschen dieses Thema anzuschauen hier mit unseren Gästen im Gästehaus. Und ich hoffe, also ich bin einfach dankbar, dass meine Gedanken auch bei anderen Frucht gebracht haben. Ich weiß, das ist nur ein Geschenk, es ist nicht mein Verdienst, ich kann das nicht machen, aber ich spüre, wenn wir ehrlich miteinander sprechen, dann berühren wir uns gegenseitig. Und diese Hoffnung habe ich ehrlich, wir sprechen ohne Rechthaberei, desto mehr berühren wir die Menschen, und je mehr Menschen berührt werden, desto mehr sind sie auch auf einem gemeinsamen Weg.
    Gessler: Für Sie, Professor Karimi, könnte es bezüglich Ihres Geburtslandes ja ein schweres Jahr werden. Afghanistan wird 2015 das erste Jahr ohne nennenswerte ausländische Truppen auskommen müssen – haben Sie da trotzdem Hoffnung für Afghanistan?
    Karimi: Ja, ich habe Hoffnung, aber die Hoffnung ist auch eine der schwierigsten Sachen. Und gerade wenn man auch über die Erfahrungen, die wir gerade mit Afghanistan verbinden, das dann noch begreift. Ich habe Hoffnung, und ich werde dafür beten in der Tat, dass die Zukunft besser wird. Aber wenn ich ehrlich bin und realistisch das Ganze analysieren darf, dann habe ich keine Hoffnung, sondern ich sehe auch mich selbst in Verantwortung genommen, etwas dafür zu tun. Das habe ich, glaube ich, immer, davon ist mein junges Leben auch geprägt, dass auch die Hoffnung immer selbst Hoffnung ist und ein Selbstgebet ist, das ich selbst meine Gesundheit zulasse, meinen Mut zulasse, die Möglichkeiten mir weiterhin gegeben sind, auch die Welt selbst zu verändern. Ich werde nicht die ganze Welt verändern können, aber vielleicht meine eigene Seele.
    Gessler: Haben Sie denn vor, nach Afghanistan zu reisen?
    Karimi: Ja, nein, habe ich nicht vor. Also ich plane nicht, ich könnte es auch gar nicht. Ich glaube, emotional würde ich zusammenbrechen, meine Geburtsstätte derartig ruiniert wiederzuentdecken. Ich würde gerne nach Afghanistan gehen, aber nicht einfach als ein Besucher oder im Urlaub, sondern um dort etwas mitzubringen, sei es auch einige Märchen für diese Kinder, die auf der Straße leben. Daher weiß ich auch, dass ich da, wo ich bin, noch nicht am Ende bin, ganz und gar nicht, sondern ich möchte mehr machen. Und da bin ich auch bedürftig. Alleine schafft man, glaube ich, in dieser Welt kaum noch was, sondern gerade dann, wenn man authentisch und hoffnungsvoll auch auf das andere schaut und von Menschen auch berührt wird. Insofern hoffe ich, dass das nächste Jahr auch ein Jahr der Dialoge, der Begegnung sein wird, Herausforderung sein wird. Es wird weiterhin Krieg geben und Brutalität geben, auch im Namen meiner Religion. Ich wünsche und erhoffe für mich Standhaftigkeit, dass wir uns auch von diesen Menschen nicht beirren lassen in dem Weg, den wir gehen. Gott ist schön, sagte einmal Mohammad, und er liebte Schönheit. Und im Dienste dieser Schönheit hoffe ich, dass wir uns zusammenfinden.
    Gessler: Das ist ein wunderbares Schlusswort. Vielen Dank, meine Herren – Professor Karimi und Pater Anselm Grün. Ich bin versucht zu sagen, der Friede sei mit Ihnen oder Salem aleikum. Dies war ein Gespräch mit dem Bestsellerautoren und Benediktinermönch Pater Anselm Grün, mit Ahmad Milad Karimi, Professor für islamische Theologie an der Universität Münster. Als Moderator am Mikrofon war Philipp Gessler. Einen schönen Tag und frohe Weihnachten wünsche ich Ihnen noch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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