Weibliche Leselust

15.10.2013
Von der Todessucht der Verehrerinnen des jungen Werthers bis zum sexuellen Selbstbewusstsein der Fans von "Shades of Grey": Frauen lesen anders als Männer. Der Bestsellerautor Stefan Bollmann hat untersucht, was Leserinnen in den vergangenen Jahrhunderten in der Literatur gesucht haben und was die Männerwelt vom weiblichen Lesepublikum erwartet hat.
Romanlektüre, das erkannte schon Emma Bovarys Schwiegermutter, ist folgenreich für Leserinnen, verleitet sie doch Frauen zum selbstständigen Denken und Fühlen. Dreihundert Jahre Lektüregeschichte unter einem geschlechtsspezifischen Blickwinkel: Eine spannende Recherche, die im 18. Jahrhundert beginnt, als junge Damen die Leselust entdecken. Einer der wichtigsten Anführer war Friedrich Gottlieb Klopstock, der nicht nur die Dichterlesung erfunden, sondern vor allem empfindungsstarke Damen in den Bann gezogen hat. Die brachen in Tränen aus, wenn sie dem Dichter lauschten, der programmatisch in ihnen seine Zielgruppe sah, in den ungebildeten "und noch unverheirateten jungen Frauen".

Stefan Bollmann schildert kenntnisreich und klug, wie sie anfing und wohin sie führte: Die weibliche Leselust. Lesegesellschaften und Leihbibliotheken spielten da eine ebenso große Rolle wie der "Werther-Effekt": "Unter den Selbstmordfällen, die mit dem Werther in Verbindung gebracht werden, war die Zahl der Frauen signifikant hoch, obwohl der Held des Romans männlichen Geschlechts ist." Gewöhnlich waren die jungen Leserinnen jedoch auf der Suche nach weiblichen "Leitbildern", wenn sie einen Roman lasen. Deswegen traten Heldinnen auf, die sich nicht verführen lassen oder als übel Verführte am Ende trotzdem einen Mann und das Glück bekommen.

Der Lektor und Autor Bollmann kennt sich hervorragend aus etwa in der englischen Bestsellerliteratur Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, als der größte Lektüre-Wandel einsetzte: Nicht mehr wenige vertraute Titel wurden immer wieder gelesen (allen voran: die Bibel), sondern belletristische Neuerscheinungen erwartet und verschlungen.

"Das Romanlesen schult weniger den Wirklichkeits-, als den Möglichkeitssinn." Eben diese Möglichkeit, von Glück und Selbstständigkeit zu träumen, machte die Sache gefährlich. In den spannenden Kapitel über Caroline Schlegel-Schelling oder Mary Wollstonecraft wird das deutlich: Diese Frauen lesen, um zu leben und sie führen ein unkonventionelles, ein mutiges Leben, weil sie so viel lesen.

Bollmann porträtiert in diesem umfangreichen Band Leserinnen und Autorinnen: die Gartenlauben-Bestsellerautorin Marlit, Jane Austen, Virginia Woolf und Mary Shelley. Ein Kapitel ist Emma Bovary und Flauberts Briefwechsel mit einer Leserin gewidmet, ein anderes Marilyn Monroe. Dass und wie man sich durch Lektüre selbst erfinden, aus seiner Herkunft ausbrechen und ein selbstständiges Leben führen kann, das macht er an der ersten Joyce-Verlegerin und Buchhändlerin Sylvia Beach ebenso deutlich wie an der hochbegabten Susan Sonntag.

Am Ende dieser materialreichen Recherche steht der Erfolg der schlecht geschriebenen Trilogie "Shades of Grey". Bollmann weist nach, wie sehr sich diese Geschichte an Ehe-, und Tugendromanen vergangener Zeiten orientiert, auch wenn die sexuelle Leserin heute andere Lektüreerwartungen hat als ihre Geschlechtsgenossin vor zweihundert Jahren. In jedem Fall gilt, dass Lesen verändert: das eigene Leben und auch die Gesellschaft, in der sich lesende Frauen behaupten müssen.

Jane Austen lässt in einem ihrer Romane einen Mann sagen "Ich lese nie Romane, ich ha¬be Besseres zu tun." Mehr muss die Autorin über ihn nicht schreiben, so viel männliche Ignoranz kommt nicht in Frage für eine lesende Frau. Damals nicht und heute auch nicht.

Besprochen von Manuela Reichart

Stefan Bollmann: Frauen und Bücher, Eine Leidenschaft mit Folgen
DVA, München 2013
430 Seiten, 22,99 Euro