Was verbindet, "das macht eben auch Lust"

Svenja Flaßpöhler im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 19.07.2012
Vorwärts und nie vergessen: die Solidarität! Was Arbeiterchöre gern sangen, klingt heute in bürgerlichen Ohren nach Zwangsanleihe für Pleitekandidaten. Doch die Philosophin Svenja Flaßpöhler entdeckt weltweit neue Formen der Solidarität.
Stephan Karkowsky: Wer viel hat, kann viel geben. Dennoch scheint es mit der deutschen Solidarität derzeit nicht weit her zu sein. Und so musste erst ein elfjähriges Flüchtlingsmädchen aus Iberia vom Bundesverfassungsgericht erkämpfen, was ihr der deutsche Staat nicht freiwillig zugestehen wollte, nämlich die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Was das aussagt über die Solidargemeinschaft, das möchte ich mit der Philosophin Svenja Flaßpöhler besprechen. Sie ist stellvertretende Chefredakteurin beim
Philosophie Magazin. Frau Flaßpöhler, guten Tag!

Svenja Flaßpöhler: Guten Tag!

Karkowsky: Wir müssen, glaube ich, unterscheiden zwischen dem Staat und welche Verpflichtungen der sieht und der Solidarität im Privaten. Wo sehen Sie denn da die Unterschiede?

Flaßpöhler: Ja, man kann sich vielleicht zunächst mal fragen, was Solidarität eigentlich dem Wort nach bedeutet, und das kommt vom Lateinischen solidus, was fest und echt bedeutet. Also, in solide schwingt es noch nach. Und in der Soziologie zum Beispiel gibt es eine Definition, da heißt es, Solidarität ist die Gesinnung einer Gemeinschaft mit starker innerer Verbundenheit. Und da könnte man jetzt natürlich denken, okay, fest, echt, solide, starke innere Verbundenheit, so wie in einer Familie.

Aber allein der Sprachgebrauch sagt uns schon, dass das irgendwie nicht stimmt. Also, ich bin ja nicht mit meinem Ehemann oder mit meinem Kind solidarisch, sondern die Verbundenheit, die generiert sich über Liebe, über Verantwortung, also, das heißt, ich habe zu diesen Menschen sowieso schon eine Beziehung. Da bedarf es eigentlich der Solidarität nicht. Und da kommt man dann langsam dahin, zu erkennen, dass eben die Solidarität tatsächlich sich über etwas ganz anderes herstellt, nämlich über einen, ja, die Gruppe verbindenden Wert oder eine Sache, für die es sich zu leben und zu kämpfen und zu arbeiten lohnt. Also, das ist eigentlich das Verständnis von Solidarität oder das, was Solidarität meint.

Ein prominentes Beispiel ist natürlich die Arbeiterbewegung, also, die mit der Industriellen Revolution eben einhergehen, wo man für bessere Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen natürlich gekämpft hat. Ja, das heißt also, für solidarisches Verhalten ist tatsächlich wichtig, dass Menschen sich mit einer Sache identifizieren, dass sie sie gestalten können, dass sie sich in ihr wiederfinden, sich in ihr spiegeln. Also, das hat ganz viel auch mit Selbstverwirklichung tatsächlich zu tun und natürlich auch mit Transparenz und Vertrauen. Es reicht sozusagen nicht nur, dass ich mich mit dieser Sache identifiziere, sondern ich muss darauf vertrauen und irgendwie auch sehen können, dass es der andere auch tut. Also, das ist eigentlich das, was Solidarität erst mal ausmacht.

Dann kann man sich natürlich fragen, warum funktioniert das denn eigentlich nicht in den von Ihnen benannten Bereichen, also sprich Länderfinanzausgleich oder eben auch die Diskussion um Euro-Bonds, also Vergemeinschaftung der Schulden, warum sind wir denn da so skeptisch? Und das liegt natürlich daran, dass tatsächlich dieser Wert oder diese Sache – sagen wir jetzt mal Europa – einfach was sehr Abstraktes ist und was sehr Vages, womit viele Leute gar nicht so richtig was anfangen können und denken: Warum soll ich mich da jetzt irgendwie engagieren? Dazu kommt natürlich die starke Intransparenz europäischer Vorgänge, man weiß gar nicht so genau, was da eigentlich passiert. Und natürlich das Dritte ist, dass die Gruppe eben sehr, sehr groß ist. Also, das heißt, das ist jetzt nicht nur so eine kleine Gemeinschaft, sondern das sind einfach mehrere Länder, das sind viele Millionen Menschen. Und da fällt es einfach sehr schwer, Solidarität herzustellen.

Karkowsky: Also, je kleiner die Gruppe, desto größer die Solidarität, je größer die Gruppe, desto mehr nimmt sie ab?

Flaßpöhler: Also, so könnte man sagen. Natürlich gibt es auch Massenbewegungen, also jetzt zum Beispiel Occupy Wallstreet.

Karkowsky: Ist das schon eine Massenbewegung?

Flaßpöhler: Ja, das, also, würde ich schon so sagen. Oder sagen wir mal, zumindest eine revolutionäre Bewegung, das kann man, glaube ich, schon so sagen. Aber ich glaube, generell stimmt es schon, dass je größer eine Gruppe ist, desto schwerer ist es, Solidarität tatsächlich herzustellen. Und dann passiert eben das, was wir jetzt auch so beobachten: Wenn Seehofer dann so über den Länderfinanzausgleich spricht und dann immer davon redet, die, die leisten, die werden nicht richtig, das wird nicht richtig entlohnt und dann gibt es so die ganzen Trittbrettfahrer und die ganzen – also, das hat er jetzt so nicht gesagt, aber – Parasiten, die sich da irgendwie so dranhängen und so. Also, da wird so ganz schnell so aufgerechnet eigentlich.

Karkowsky: Und er vergisst dabei, dass er selber die Solidarität der Deutschen jahrzehntelang genossen hat im Freistaat Bayern.

Flaßpöhler: Auf jeden Fall, also, das ist auf jeden Fall so, genau. Also, man weiß im Grunde ja nie – und das ist ja auch irgendwie doch wieder das Schöne an der Solidarität –, es mag ja sein, dass man mal zeitweise dann mehr tut als der andere, aber wer weiß, wie es mir in zehn Jahren geht! Aber eigentlich ist man auch mit diesem Denken wieder in diesem Aufrechnen. Und eigentlich meint Solidarität ja noch mal etwas ganz anderes: Also, ich habe das Gefühl oder ich glaube, das kann man auch sehr schön zeigen, dass Solidarität eigentlich viel weniger was zu tun hat mit diesem Rational-Ökonomischen, wie viel gibst du mir und wie viel gebe ich dir und so, weil, das beruht eigentlich schon auf einer Form von Misstrauen.

Deshalb finde ich es umso interessanter, dass wir doch gegenwärtig also ein Umdenken auch erleben oder beobachten können. Also, ich denke da zum Beispiel an das wirklich tolle Buch von David Graeber über die Schulden, wo er ja eben sagt, dass diese Begriffe von Vergeltung – da schwingt es ja schon so mit – und Heimzahlen, ja, das hat auch so was von Rache und also was ganz Aggressives auch … Also, dass diese Konzepte – du schuldest mir was, also musst du mir das wiedergeben –, dass das eigentlich Konzepte sind, die historisch gewachsen sind, aber das war keineswegs immer so. Und er plädiert eigentlich dafür, sozusagen statt eben dieses eher aggressiven Du-schuldest-mir-etwas das ganz anders zu verstehen, nämlich in dem Sinne, ja, warum nicht die Zähler wieder auf Null stellen, warum nicht ein Schuldenschnitt, warum dem anderen nicht – und jetzt kommt wieder eigentlich ein religiöser Begriff rein –, dem anderen seine Schulden vergeben? Und da kommt was sehr Großes, also was sehr Großzügiges kommt auf einmal in diese Debatte hinein. Das finde ich sehr interessant.

Karkowsky: Ja, ich wollte nur noch mal sagen, mit wem wir hier gerade so sprechen, so angeregt unterhalten: Das ist Svenja Flaßpöhler, sie ist die stellvertretende Chefredakteurin beim "Philosophie Magazin". Frau Flaßpöhler, Sie haben den Begriff der Gruppe eingeführt, das finde ich sehr, sehr spannend. Da gibt es diesen Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer, der zehn Jahre lang – und das ist auch ein schöner Begriff – die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland untersucht hat. Und der hat festgestellt: Teile des Bürgertums würden die Solidarität mit denen da unten aufkündigen und einen – ich zitiere jetzt – eisigen Jargon der Verachtung pflegen. Das klingt ja so, als würde man dem Bürgertum generell altruistische Tendenzen zuschreiben – also, von daher ein anderer Solidaritätsbegriff –, ihm sind aber offenbar die Werte verloren gegangen, die einen Bürger auszeichnen?

Flaßpöhler: Ich weiß gar nicht, ob man wirklich sagen kann, dass Solidarität mit Altruismus unbedingt einhergeht. Also, darauf würde ich jetzt eigentlich gerne mich noch mal konzentrieren. Auch das klingt mir irgendwie dann doch wieder viel zu selbstlos. Ich glaube, das Interessante ist doch wirklich am Solidaritätsbegriff, dass man versteht, es gibt etwas, was uns wirklich verbindet, und das macht eben auch Lust. Das ist nicht nur irgendwie so ein Zwang und das tue ich auch nicht nur unter Kontrolle und das tue ich auch nicht nur, weil ich irgendwie altruistisch sein will oder ein guter Bürger, sondern weil ich wirklich – und jetzt nicht nur im rational-ökonomischen Sinne – etwas davon habe.

Es ist zum Beispiel sehr interessant sich anzugucken: Der Begriff des Genießens, der eigentlich ja in unseren Ohren immer so unglaublich selbstsüchtig und hedonistisch und dann auch wieder so bourgeois klingt irgendwie, dass, wenn man sich anguckt, woher der eigentlich kommt, stößt man darauf, es kommt, das mittelhochdeutsche genieß kommt von gemeinsame Nutznießung. Also, das Genießen hängt mit der gemeinsamen Nutznießung zusammen. Das schwingt in Genosse noch nach. Genießen und Genosse hängt etymologisch zusammen. Das muss man sich, finde ich, auf der Zunge zergehen lassen. Also, das heißt, wenn ich genieße, dann genieße ich mit anderen die gemeinsam erwirtschaftete Arbeit.

Das ist tatsächlich etwas, was gerade heute erstaunlicherweise – und da sind wir wieder bei der Umwertung sozusagen der Werte – doch wieder eine gewisse Relevanz kriegt. Also, ich denke da zum Beispiel an das Urban Gardening, dass Leute sich irgendwie zusammenschließen und gemeinsam Gärten bewirtschaften, gerade auch in den Städten natürlich, in Rio de Janeiro gibt es auch so ein sehr bekanntes Urban-Gardening-Projekt. Also, wo Leute tatsächlich sagen, wir machen unser Stadtviertel schön, wir bauen zusammen etwas an und wir genießen gemeinsam, was wir da irgendwie geschaffen haben.

Karkowsky: Aber es sind immer Menschen, die sich zu den anderen Menschen, die sich zu den anderen Menschen, mit denen sie das machen, verbunden fühlen. Zum Beispiel Nachbarn, die in einem Stadtviertel wohnen. Wenn wir jetzt noch mal an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes denken: Da geht es ja um Menschen, die vielleicht nicht von allen als Teil der Gesellschaft gesehen werden, sondern die kommen von außen rein, als Flüchtlinge, als Asylbewerber. Und da wird es ja sicherlich auch einige in Deutschland geben, die sagen: Warum sollte ich mit diesen Menschen solidarisch sein?

Flaßpöhler: Ja, und das ist natürlich, das ist, glaube ich, wirklich die Aufgabe eines Staates, genau das klarzumachen: Warum sollte ich das sein? Das tue ich nicht nur aus Pflicht, sondern das tue ich dafür, weil es in irgendeiner Form etwas Höheres gibt, wofür es sich lohnt, genau das zu tun. Und dieses Höhere, das tatsächlich auch zu verdeutlichen und den Menschen irgendwie zu vermitteln, das fehlt, glaube ich. Das fehlt auch irgendwie bei der Idee Europa absolut.

Karkowsky: Es wird ja versucht! Ich meine, jedes zweite Wort, das die Kanzlerin im Mund führt, ist ja Solidarität mit Europa, nur, sie kann es nicht mit Inhalt füllen!

Flaßpöhler: Genau. Also, es klingt natürlich gerade so im politischen Diskurs sehr inhaltsleer, man redet von Solidargemeinschaft und so, man hört aber eigentlich fast das Wort gar nicht mehr. Also, bei Solidargemeinschaft hört man es eigentlich nicht mehr.

Karkowsky: Um ein Fazit zu ziehen: Wie bewerten Sie das, wie das gerade geht mit der deutschen Gesellschaft und der Solidarität? Sind wir eigentlich nicht so schlimm, wie ich das zum Einstieg dargestellt habe, sind wir auf dem richtigen Weg?

Flaßpöhler: Also, ich würde gerne zum Abschluss eigentlich die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom zitieren, die hat nämlich gesagt: Wir können nicht mehr länger auf euch da oben warten, wir müssen selber anfangen! Also nicht darauf warten, was die Politik machet, sondern die Menschen müssen selber in ihren konkreten Lebenszusammenhängen ihre Solidarität mit anderen entdecken und leben, und dann wird es sich von unten nach oben fortsetzen.

Karkowsky: Wie steht es um die Solidarität der Deutschen? Sie hörten dazu die Philosophin Svenja Flaßpöhler vom "Philosophie Magazin". Danke für das Gespräch!

Flaßpöhler: Ich danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Svenja Flaßpöhler
Svenja Flaßpöhler© dpa / picture alliance / Horst Galuschka
Mehr zum Thema