Was Mexiko gegen die Gewalt tun sollte

Ingrid Spiller im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 08.04.2011
Nach einem spektakulären Mehrfachmord diskutiert Mexiko wieder über den grausamen Krieg der Drogenkartelle. Um die Gewalt zu bekämpfen, fordert Ingrid Spiller von der Heinrich-Böll-Stiftung eine bessere Kontrolle von Waffenhandel und Geldwäsche - auch von Seiten der USA.
Matthias Hanselmann: In der mexikanischen Stadt Cuernavaca, auch die Stadt des ewigen Frühlings genannt, wurde Ende Februar eine grausige Entdeckung gemacht. Sieben junge Frauen und Männer waren gefoltert und ermordet worden und dann in ein Auto gesteckt worden, alle offenbar unschuldig, alle offenbar erneut Opfer der Drogenmafia Mexikos. So brutal es sich anhört, solche Vorkommnisse sind in Mexiko eigentlich nichts Außergewöhnliches. Fast 35.000 Menschen sind allein in den vergangenen fünf Jahren im Drogenkrieg ums Leben gekommen.

Außergewöhnlich in diesem Fall war aber, dass einer der Toten der Sohn des bekannten Dichters und Journalisten Javier Sicilia war, Juan Francisco Sicilia. Der Vater forderte darauf bei einer Demonstration vom mexikanischen Präsidenten: Caldéron, beende deinen kleinen mörderischen Krieg. Der bewaffnete Kampf des Präsidenten gegen die Drogenkartelle ist offenbar wirkungslos und fordert immer mehr Opfer. Wir sprechen jetzt mit Ingrid Spiller, sie leitet das mexikanische Haus der Heinrich-Böll-Stiftung. Guten Tag nach Mexiko-Stadt!

Ingrid Spiller: Guten Tag!

Hanselmann: Frau Spiller, wissen Sie etwas Genaueres über den Fall des ermordeten Schriftstellersohnes Juan Sicilia?

Spiller: Wie Sie das vorhin schon in der Anmoderation gesagt haben, es ist immer noch nicht klar, was ganz genau passiert ist. Es scheint offensichtlich zu sein, dass die sieben Leute nicht mit der Drogenmafia verstrickt waren, wie das häufig oder in vielen Fällen der Ermordungen der Fall ist, sondern dass die wirklich unschuldig sind, möglicherweise in einer Kneipe in Streit geraten sind mit Angehörigen von Drogenkartellen, aber man weiß nichts Genaues. Das bewegt sich alles im Bereich der Spekulationen.

Hanselmann: Was macht diesen Fall eigentlich zu einem besonderen? Ist das nur die Prominenz des Vaters? Wir müssen vielleicht dazusagen, Entschuldigung, er ist auch Redakteur von "Proceco" heißt die Zeitschrift…

Spiller: "Proceco", ja, ganz genau!

Hanselmann: … die viel über die Drogenkartelle bisher geschrieben hat.

Spiller: Ganz genau. Ich glaube, da gibt es keinen Zusammenhang mit dem Vater und seinen journalistischen Tätigkeiten, sondern es ist, so traurig das klingt, es ist einer von sehr vielen Fällen – Sie haben das schon gesagt, 36.000 Tote im Zusammenhang mit dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Das Besondere ist vielleicht, dass sich jetzt noch mal viele führende intellektuelle Meinungsführer im Land auch zu Wort gemeldet haben und wieder in die Debatte eingemischt haben. Es gab vorgestern Demonstrationen im ganzen Land, in über 30 Städten des Landes, die noch mal gegen diese Gewalt protestiert haben, auch – wie Sie das schon gesagt haben – dagegen protestiert haben, dass die Maßnahmen der Regierung nicht effektiv genug sind. Das ist aber auch nichts Besonderes, es gibt öfters Demonstrationen in diese Richtung, und es gab auch schon größere Demonstrationen. Zum Beispiel im Jahr 2008 nach der Ermordung des Sohnes des Unternehmers (…) haben hier vor allen Dingen Unternehmer zu Massendemonstrationen aufgerufen, da kamen allein Mexico City über 200.000 Leute zusammen. Leider ohne großen nachhaltigen Erfolg, wie man sieht. Jetzt, vorgestern, waren im ganzen Land – es ist schwer zu schätzen, man sagt an die Zehntausende, also vielleicht 40-, 50.000, aber ich will keine Zahlen sagen, weil ich hab nirgendwo ganze Zahlen gelesen – sind zusammengekommen, um zu protestieren.

Die Debatte ist neu aufgekommen: Was kann man eigentlich tun im Land? Und Sie haben das auch schon gesagt, Javier Sicilia hat ja schwere Vorwürfe gegen die Regierung erhoben, er hat gesagt, seitdem Präsident Caldéron die Armee in den Kampf gegen das organisierte Verbrechen einbezogen hat, also seit Beginn 2007, ist die Gewalt eskaliert. Es stimmt, Sie haben es auch schon gesagt, 36.000 Tote, das kommt einer nahezu jährlichen Verdopplung gleich. Allein in den ersten dreieinhalb Monaten diesen Jahres zählt man schon über 5000 Tote in diesem Zusammenhang. Javier hat gefordert, dass die Regierung mit den Kartellen verhandeln soll, damit zumindest Unschuldige aus diesen grausamen Auseinandersetzungen herausgehalten werden. Das ist natürlich eine Forderung, die sehr umstritten ist und sehr fragwürdig ist. Erstens wäre die Frage, ob das überhaupt Erfolg hätte, das heißt, warum sollten sich die Kartelle darauf einlassen, und zum anderen wäre das natürlich ein Bankrottzeugnis des Staates, dass er unfähig ist, dieses Land zu regieren.

Hanselmann: Nun gibt es ja auch noch die anderen Forderung: Der frühere Präsident Vicente Fox hat in seinem Blog eine Legalisierung von Rauschgift gefordert. Sein Argument ist: Nur so lasse sich die wirtschaftliche Macht der Drogenkartelle brechen. Da ist er anderer Meinung als sein Nachfolger Caldéron. Und die Legalisierung, die müsste natürlich dann nicht nur in Mexiko, sondern zum Beispiel auch in den USA und anderen Ländern stattfinden, wohin ja die Drogen geliefert werden.

Spiller: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Also diese Debatte um die Legalisierung, die gibt es hier schon seit Längerem im Land, und die Befürworter sagen, dass ohne eine Legalisierung genau in den wichtigen Märkten – das sind die USA und das ist inzwischen auch Mexiko … Mexiko ist inzwischen selber auch zu einem Drogenkonsumland aufgestiegen, das war nicht immer so. Ich glaube, das ist eine Maßnahme, die man sehr wohl in Betracht ziehen muss, es ist aber nur eine von vielen Maßnahmen. Wenn man sich die Ursachen anguckt, warum dieser Krieg hier so eskalieren konnte, dann ist es … Neben der Frage des Drogenkonsums kommen wir zum Beispiel auf das Thema Waffenhandel. Man weiß, dass die Kartelle überwiegend ihre Waffen illegal aus den USA beziehen. Die USA haben ja kein Gesetz, was den Waffenverkauf großartig limitiert, das heißt, aus den Grenzbereichen werden Waffen gekauft und nach Mexiko eingeschleust. Das ist eine wichtige Forderung.

Eine andere sehr wichtige Forderung, die auch über Mexiko hinausgeht, ist das Geldwäschegesetz. Ich meine, in Mexiko wird gerade im Senat ein Geldwäschegesetz neu diskutiert, da geht es darum, dass man jetzt nicht nur Geldtransfers bei den Banken über einer bestimmten Größe kontrolliert, sondern dass man jetzt auch Barverkauf, also Bargeld kontrolliert ab einer Höhe ich glaube von ungefähr umgerechnet 10.000 Euro, das heißt Käufe, die damit gemacht werden, da soll auch nachgeguckt werden. Letztlich geht es aber dabei auch um die internationale Dimension, nämlich um effektive Geldwäschegesetze und vor allen Dingen auch um die Kontrolle von dem. Sie haben es sicherlich mitbekommen, dass hier vor einigen Tagen ans Licht kam, dass die US-Bank Wachovia in großem Ausmaß Drogengelder aus den USA, also gewaschene Drogengelder aus den USA nach Mexiko geschleust hat, Drogengelder im Wert von ungefähr einem Drittel des mexikanischen Bruttoinlandprodukts. Das scheint in den Zeiten der Wirtschaftskrise passiert zu sein, als diese Bank und möglicherweise noch andere ihre Liquidität genau mit diesen Geldern noch mal sichergestellt haben, und es wird der Bank eben vorgeworfen, dass sie die Geldwäschegesetze nicht eingehalten hat, das heißt nicht kontrolliert hat, woher die Gelder kommen.

Das sind Dimensionen, die weit über das hinausgehen, was Mexiko im Kampf gegen das organisierte Verbrechen, die Drogenmafia machen kann. Und ich denke, auf internationaler Ebene, man darf nicht immer nur mit dem Finger auf Mexiko zeigen, sondern man muss auch eine eigene Verantwortung da auch annehmen und entsprechend aktiv werden.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Ingrid Spiller von der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko über den Kampf gegen die Drogenmafia, die Drogenkartelle in Mexiko. Frau Spiller, Javier Sicilia sagt auch, der Drogenkrieg habe das gesamte Gefüge der Nation in Stücke gerissen. Ist das auch Ihr Eindruck?

Spiller: Also es ist so, dass inzwischen, ich glaube alle Sektoren der mexikanischen Gesellschaft von diesem Kampf betroffen sind, das heißt, die Ermordungen ziehen sich in alle Teile der mexikanischen Gesellschaft. Was besonders schlimm ist, ist, dass vor allen Dingen in bestimmten Teilen, das heißt mehr noch im Norden des Landes als im Süden des Landes, dass eine ganze Generation von Jugendlichen entwurzelt ist und leichte Beute, wenn ich das so sagen darf, für die Drogenkartelle ist, um eben Nachwuchs zu rekrutieren. Hier fehlt sicherlich eine sehr viel effektivere Sozialpolitik, die diesen Jugendlichen einfach Perspektiven gibt.

Hanselmann: Wird denn in der Richtung überhaupt schon etwas getan?

Spiller: Es werden natürlich Sozialprogramme aufgelegt und es gibt Ausbildungsbereiche und so, aber gerade in diesen Gebieten, wo die Problematik besonders schlimm ist, wird nicht ausreichend was unternommen. Diese Jugendlichen werden hier in Mexiko Ninis genannt, das heißt, die haben keine Ausbildung und haben keine Arbeit, sitzen also gelangweilt rum und sind sehr, sehr ansprechbar, sehr anfällig für diese Drogen oder für das organisierte Verbrechen – es geht ja weit über Drogen hinaus. Es hat sich so eine Art Kult, Jugendkult entwickelt, ehrlich gesagt, in dem dieser ganze Bereich verherrlicht wird. Es gibt so einen Slogan, der heißt: Lieber jung und reich sterben, als arm und alt sterben. Es gibt Narco, von Drogen, also Narcocorridos, das ist Musik, in der die Kartelle, ihre Führer besungen werden, es gibt Narco-Spielzeug, also zum Beispiel so kleine Spielzeuglastwagen mit Bemalung und Aufbauten, die dann auch solche Narcocorridos spielen. Es gibt eine eigene Narco-Mode, das heißt, das sind T-Shirts, die bekannte Capos wie El Barbie oder El JJ bei ihrer Festnahme getragen haben …

Hanselmann: Also Drogenbosse.

Spiller: … von bekannten … ganz genau … von einer sehr bekannten internationalen teuren Marke und die nun die Jugendlichen als Kult anziehen und so weiter. Es ist also eine ganz traurige Geschichte, dass dieser ganze Bereich doch in bestimmten Kreisen sehr verherrlicht wird und damit auch eine große Attraktion hat. Und diese Jugendlichen, diese Generation, die kann man dann schon fast als verloren abschreiben, also abschreiben ist ja auch traurig, und deswegen ist es ungeheuer wichtig, dass noch in sehr viel verstärkterem Maße als bisher Präventionsarbeit geleistet wird und diesen Jugendlichen eine Chance gegeben wird.

Ich glaube zum Beispiel auch, dass die Tatsache, dass die Migration in die USA inzwischen ja sehr viel schwieriger geworden ist – nicht nur, weil es dort weniger Arbeitsmöglichkeiten gibt aufgrund der Wirtschaftskrise in den USA, sondern auch, weil die USA ja ihre Grenzen noch weiter befestigt haben –, dass das dazu beiträgt, dass jetzt mehr perspektivlose Jugendliche in Mexiko hängen. Falls Sie wissen, dass in Mexiko die Migration in die USA schon immer ein ganz wichtiger Faktor der eigenen Ökonomie war, weil die eigene Ökonomie auch nicht genügend Arbeitsplätze für die eigene Bevölkerung geschaffen hat und schafft, und in dem Maße, wie jetzt solche Auswege schwerer werden oder wegfallen, staut sich hier natürlich noch weiter das Potenzial von vor allen Dingen Jugendlichen an, die einfach auch nach einer Lebensperspektive suchen. Und wenn es keine andere gibt, dann wählen sie diese schreckliche und grausame Lebensperspektive.

Hanselmann: Vielen Dank für diese Informationen und auch Einschätzungen, danke schön an Ingrid Spiller, die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko-Stadt!

Spiller: Bitte schön!


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