Was Menschen mit Menschen getan haben

02.12.2011
Primo Levi hat die Hölle von Auschwitz überlebt - dank vieler glücklicher Umstände. In diesem erstmals 1947 in Italien erschienenes Buch schildert er seine Erlebnisse und unternimmt den Versuch, sich von einem Albtraum zu befreien.
"Der Tod beginnt bei den Schuhen." Aus dem Zusammenhang gerissen klingt der Satz aus Primo Levis Zeugenbericht "Ist das ein Mensch?" seltsam, doch er hat seine tiefere Wahrheit. Primo Levi wurde im Februar 1944 nach Auschwitz deportiert. Die im Lager ausgegebenen Schuhe erwiesen sich als Marterwerkzeuge, da sie bereits nach wenigen Stunden schmerzende Wunden verursachten. Wenn sich solche Wunden infizierten, schwollen die Füße an. Wer mit dem Befund "dicke Füße" in die Krankenstation des Lagers kam, kam gleichzeitig dem Tode näher, weil man mit diesem Leiden kaum Überlebenschancen hatte.

Primo Levi hat Auschwitz überlebt. Dass er die Hölle überlebten konnte, dazu bedurfte es vieler glücklicher Umstände. Kleinigkeiten waren wichtig, zum Beispiel dass er sich einen Löffel organisieren konnte. Er setzte alles daran, nicht zum Tier zu werden, obwohl das Lager Menschen zu Tieren herabwürdigte. In der Hölle hat ihm auch geholfen, dass er sich an die Hölle in Dantes "Göttlicher Komödie" erinnern konnte.

Levis erstmals 1947 in Italien erschienenes Buch ist der Zeugenbericht eines Häftlings, der im "Vorwort" schreibt, "dass keine der Tatsachen erfunden ist." Er hat das Buch aus dem Bedürfnis heraus geschrieben zu erzählen. Die anderen sollten erfahren, was passiert ist und es war auch der Versuch, sich von einem Albtraum zu befreien, den er als Wirklichkeit erlebt hatte. Das Unvorstellbare konnte nur jemand bezeugen, der selbst durch die Hölle gegangen war. "Das Lager", so Levi im Vorwort, "ist das Produkt einer Weltauffassung." Gerade deshalb ist dieses Buch gegenwärtig so hoch aktuell. Denn Levi wollte die Frage "Ist das ein Mensch?" nicht nur auf die Welt des Krieges und des Nazismus bezogen wissen, "sondern auch auf die [...] Welt des Terroristen, auf den Bestechlichen oder Bestechenden, auf den schlechten Politiker, auf den Ausbeuter."

Primo Levi hatte im Lager einen grässlichen, immer wiederkehrenden Traum gehabt: Während er erzählt, was er in Auschwitz erlebt hat, folgen ihm seine Zuhörer nicht. Als wäre er nicht vorhanden, achten sie nicht auf seine Rede und "unterhalten sich undeutlich über andere Dinge". "Weh dem, der träumt", heißt es in Levis Buch, denn an Träumen – auch an dem vom Essen oder dem von der Zukunft – konnte man im Lager zerbrechen. Primo Levi beging 1987 Selbstmord.

Im Lager hatte man ihm die Nummer 174517 eintätowiert. Er wurde zu einer Zahl im Getriebe des Vernichtungsapparates gemacht. Es war ein Akt der Selbstbehauptung, dass er seinen Namen auf den Boden seines Essnapfes einritzte. Ein Mithäftling hielt auf seinem Blechteller dagegen den Satz fest: "Nicht versuchen zu verstehen." Es verbot sich, weil im Lager die Gefahr nahe lag, bei der Suche nach Gründen wahnsinnig zu werden. Der heutige Wahnsinn aber würde gerade in der Weigerung bestehen, verstehen zu wollen, was Menschen mit Menschen getan haben. Das ist das Beunruhigende, Verstörende, das von Levis Bericht weiterhin ausgeht: Die ungeklärte Frage: "Ist das ein Mensch?"

Besprochen von Michael Opitz

Primo Levi: Ist das ein Mensch? - Die Atempause
Aus dem Italienischen von Heinz Riedt, Barbara und Robert Picht
Mit einem Kommentar von Marco Belpoliti
Carl Hanser Verlag. München 2011
615 Seiten, 27,90 Euro