Was kommt nach der Hauptschule?

27.06.2011
Nun will auch die CDU die Hauptschule deutschlandweit abschaffen. Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann begrüßt die Initiative, fordert aber, dass - egal, welche Schule ein Kind besucht - alle Bildungsabschlüsse offen bleiben müssen. Heinz-Peter Meidinger vom Deutschen Philologenverband fürchtet, dass Sparzwänge dahinter stecken könnten.
Katrin Heise: In Hamburg heißen sie Stadtteilschule, in Berlin Sekundarschule und in Sachsen Oberschule und sind die jeweils zweite Säule im Schulsystem neben dem Gymnasium. Die Hauptschule gibt es nicht mehr. Das ist übrigens in elf Bundesländern so, entweder aus Tradition, wie in den östlichen Bundesländern, oder weil nicht die CDU im Bildungsministerium sitzt. Denn es gehörte jahrzehntelang zum Kern christdemokratischer Programmatik das Festhalten am dreigliedrigen Schulsystem.

Nun will die CDU einen neuen Weg gehen, die Hauptschule soll abgeschafft werden. Neben dem Gymnasium soll es eine Oberschule geben, die Haupt- und Realschule in sich vereint. Das sieht ein Bildungskonzept vor, das der Bundesvorstand der CDU heute beraten und verabschieden will, und das die Grundlage für einen Beschluss auf dem Parteitag im November sein soll.

Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Heinz-Peter Meidinger, dem Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes, und mit dem Bildungsforscher Klaus Hurrelmann. Beide Herren sind am Telefon, ich grüße Sie, guten Morgen!

Heinz-Peter Meidinger: Guten Morgen!

Klaus Hurrelmann: Guten Morgen!

Heise: Da haben wir Sie auch beide kurz gehört! Herr Meidinger, Sie möchte ich gern als erstes fragen: Sie haben mit dem Philologenverband sofort auf das Papier reagiert und die CDU vor derlei Plänen gewarnt. Warum, was spricht Ihrer Meinung nach gegen die Zweigliedrigkeit und die Abschaffung der Hauptschule?

Meidinger: Also wir haben uns ja nicht generell gegen Zweigliedrigkeit gewandt, sondern dagegen, dass die Union jetzt versucht, sozusagen ein Schulmodell ganz Deutschland, allen Bundesländern überzustülpen, das in bestimmten Bundesländern vielleicht funktioniert – unter ganz bestimmten Umständen übrigens – und in anderen nicht. Ich erinnere daran, dass wir noch 700.000 Hauptschüler auf knapp 2000 Hauptschulen haben, dass wir noch 1,3 Millionen Realschüler auf in der Regel gut funktionierenden Realschulen haben. Denen jetzt sozusagen das Todeszeichen auf die Stirn zu malen, halten wir für falsch.

Heise: Herr Hurrelmann, Sie setzen sich seit 20 Jahren für die Zweigliedrigkeit ein. Entspricht eigentlich das CDU-Papier Ihren Vorstellungen?

Hurrelmann: Ja, ich finde vor allem interessant, dass der von mir vorgeschlagene Begriff für das ganze System übernommen wird, ein Zweiwegemodell. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass nicht nur das Gymnasium wie bisher, sondern auch die Schulen neben dem Gymnasium alle Wege für alle Abschlüsse offenhält.

Das ist, glaube ich, das Entscheidende, das muss man machen, wenn man weiterkommen will. Und dann sind in meinen Augen die Namen für die Schule, der Weg zur Integration der bisher bestehenden Schulen neben den Gymnasien, alle diese Dinge, die auch Herr Meidinger zu Recht gerade anspricht, dann sind die nicht mehr so dramatisch, wenn einmal das Grundkonzept steht.

Heise: Wenn ich Herrn Meidinger, wenn ich Sie richtig verstehe, dann sind Sie dagegen, bestehende, gut funktionierende Systeme jetzt über einen Kamm zu scheren und irgendwie platt zu machen. Warum funktioniert bei Ihnen in Bayern die Hauptschule Ihrer Meinung nach?

Meidinger: Na gut, ich muss selbstkritisch einräumen, die Hauptschule funktioniert in weiten Gegenden Bayerns, aber natürlich ist sie auch insbesondere in den Großstädten von einem Schülerrückgang betroffen. Ich glaube, es hängt ganz stark davon ab: Die Hauptschule ist deshalb akzeptiert in Bayern, weil sie eben ihr Ziel erreicht, das heißt, sie vermittelt ihre Schüler in berufliche Ausbildungsplätze. Etwa 95 Prozent aller Hauptschüler bekommen einen Ausbildungsplatz, und das ist das Erfolgsmodell.

Heise: Herr Hurrelmann, ein Erfolgsmodell, was aber nicht auf die Bundesrepublik in Gänze übertragbar ist?

Hurrelmann: Nein, wir haben halt im gesamten Bundesgebiet diese Entwicklung, dass die Schulen angewählt werden, alle die Schulen angewählt werden, die den Kindern von Anfang an die Möglichkeit für alle Abschlüsse, vor allem auch für den Abschluss Abitur einräumen. Das kann man ganz klar erkennen, das ist eine Reaktion der Eltern auf die Arbeitsmarktsituation, eine sehr kluge Reaktion, und deswegen haben die Gymnasien so profitiert, deswegen haben zum Beispiel Gesamtschulen mit einer eigenen Oberstufe, die das Abitur anbieten, profitiert, deswegen haben viele Berufsschulzentren davon profitiert.

Und nun wird es Zeit, dass wir das bundeseinheitlich auffangen. Und da sind eine zu große Zersplitterung der Schulen mit zu unterschiedlichen Schulformen, das sind keine Modelle, die Eltern überzeugen. Wir brauchen deswegen also eine Konstruktion, dass innerhalb der Schulformen alle Bildungsgänge angeboten werden können, die die Eltern möchten, und vor allem eben alle attraktiven Schulabschlüsse angeboten werden.

Heise: Herr Meidinger, was erwidern Sie da?

Meidinger: Ja, also das ist ja natürlich vollkommen richtig, es muss immer eine Durchlässigkeit nach oben sein. Nur das ist ja kein ausschließliches Kennzeichen der Zweigliedrigkeit. Wir wissen ja, dass ein Drittel der Hauptschüler auch danach noch die mittlere Reife erwerben, übrigens bis zu zehn Prozent dann noch das Abitur, wir wissen, dass ein Drittel der Realschüler das Abitur noch erwerben. Das heißt, diese Durchlässigkeit ist auch in einem mehrgliedrigen System gegeben.

Ich finde immer, je mehr Schularten da sind, je mehr Wahlmöglichkeiten Eltern haben, desto besser. Die Vereinheitlichung in Deutschland müssen wir über die Vergleichbarkeit der Abschlüsse erreichen, nicht über eine Vereinheitlichung der Schularten.

Hurrelmann: Das Problem, Herr Meidinger, aus der Sicht der Bildungsforschung ist die Verselbstständigung von Bildungsgängen in eigenen Schulformen, also eine institutionelle Aufspaltung, eine institutionelle Konstruktion, bei der eine Schulform nur einen bestimmten Bildungsgang hat. Das ist ungünstig, zumal wir ja nach wenigen Jahren Grundschule diese Aufteilung vornehmen. Und die Forschung zeigt uns, das verfestigt sehr stark den weiteren Bildungsprozess eines Kindes.

Und deswegen spricht alles dafür, dass nicht, unterschiedliche Bildungsgänge nicht in unterschiedliche Schulformen zu gießen, sondern in einer Schulform verschiedene Angebote zu machen. Und wenn wir jetzt nach der Grundschule zwei Schulformen anbieten können, die wirklich alle Abschlüsse anbieten, dann ist der Druck aus der Grundschule heraus, dieses Grundschulabitur zu bestehen, um möglichst früh aufs Gymnasium zu gehen, weil dann alle Schulen von Anfang an, und nicht erst später, dieses Angebot machen, dass man auch das Abitur schaffen kann.

Heise: Sie hören im Deutschlandradio Kultur den Bildungsforscher Klaus Hurrelmann und den Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes Heinz-Peter Meidinger in einer Diskussion über die Zwei- oder Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems. Herr Hurrelmann, Sie haben eben einen Punkt angesprochen, nämlich die Einteilung der Kinder eben schon nach der vierten Klasse.

Wenn ich das CDU-Papier richtig lese, geht das weiter mit einer Einteilung der Kinder nach der vierten Klasse, also mit zehn Jahren. Das wird ja auch immer wieder kritisiert. Wie notwendig halten Sie da eigentlich eine Veränderung, erst nach der sechsten Klasse beispielsweise, diese zwei Wege, dieses Zweiwegemodell einzuschlagen?

Hurrelmann: Ja, es gibt wirklich unterschiedliche Möglichkeiten. Internationale Forschung, noch einmal, die zeigt, wir teilen die Kinder zu früh in sich verfestigte Bildungsgänge nach Schulformen ein. Damit haben wir zu wenig Chancen für Spätentwickler, den Anschluss zu bekommen. Ist einfach im internationalen Vergleich erkennbar. Jetzt kann man – das wollen viele Parteien – die gemeinsame Grundschule verlängern, oder man kann früh ein Angebot machen, also nach der vierten Klasse der Grundschule, für unterschiedliche Schulformen, die alle Angebote machen. Ich würde immer dieses Zweite tun, also das, was die CDU jetzt vorschlägt, weil eine Verlängerung der Grundschule, siehe Volksabstimmung in Hamburg, den Eltern zurzeit ganz schwer zu vermitteln ist. Also ist das eindeutig der klügere Weg, und er gestattet eine viel flexiblere Gestaltung der Schullaufbahn, als das bisher der Fall war. Dass die CDU übrigens vorschlägt, das bundeseinheitlich zu machen, das finde ich einen ganz wichtigen Nebenaspekt, denn wir haben eine derartig zersplitterte Schullandschaft, Sie haben das zu Beginn gesagt, dass man im Grunde zurzeit schwieriger im Bundesgebiet die Schule wechseln kann als in Europa.

Heise: Wie sehen Sie das, Herr Meidinger? Das ist ja scheinbar etwas, das Ihnen mehr Bauchschmerzen macht, das Durcheinander der Schulsysteme in den Ländern mal zu glätten?

Meidinger: Ja, ich habe es ja schon gesagt. Ich meine, der Weg, den wir gehen müssen, ist, dass die Abschlüsse vergleichbar sind. Man wird ja dadurch, dass man sagt, die Schulen heißen jetzt alle Oberschulen, und man fasst Haupt- und Realschulen zusammen, die Bildungsunterschiede in Deutschland auch nicht beseitigen. Das ist ja sozusagen nur ein Name. Ganz wichtig ist – Herr Hurrelmann hat es gesagt –, dass auch neben dem Gymnasium immer der Weg nach oben offen ist. Ich glaube allerdings – und das ist meine große Sorge –, dass das, was Hauptschulen auszeichnet, also diese frühe Berufsorientierung, diese Praxisklassen, Anschubklassen, die es gibt, denen dort auch Erfolgserlebnisse zu vermitteln, die sie vielleicht bei einer zweiten, dritten Fremdsprache nicht haben, dass das erhalten bleibt. Kleine Klassen zum Beispiel. Ich fürchte, die Zweigliedrigkeit ist auch ein Sparmodell, und die Zukunft wird das auch zeigen.

Heise: Das sächsische Modell der Zweigliedrigkeit zeigt aber, dass das eigentlich genau so nicht sein muss. Also da ist beispielsweise ja eine Berufsorientierung auch sehr früh gegeben. – Ein Modell, das Sie im Übrigen auch loben!

Meidinger: Ja. Also Sachsen funktioniert, das ist unzweifelhaft. Nur, Sachsen ist nicht Deutschland. Sie haben in Sachsen als eines der ganz wenigen Länder eine verbindliche Grundschulempfehlung mit dem ganz harten Schnitt von 2,0 Deutsch, Mathematik in der vierten Klasse Grundschule. Sie haben vergleichsweise geringe Migrationsquote und Sie haben eine starke Leistungsorientierung. Und – darf man nicht vergessen – Sie haben doch einen starken Schüleranteil in den Förderschulen. Zwölf Prozent der sächsischen Schüler sind in Förderschulen, das ist quasi eine dritte Säule.

Heise: Ich wollte von Ihnen noch einmal gerne wissen: Wie möchten Sie eigentlich, Herr Meidinger, die von Ihnen immer so hoch gehaltene Vergleichbarkeit der Abschlüsse deutschlandweit erreichen?

Meidinger: Also wir sind ja schon einen Schritt weitergekommen. Wir haben auf der einen Seite die Bildungsstandards. Jetzt geht es natürlich darum, die Bildungsstandards sozusagen auch zu überprüfen und mit Aufgabenpools zu füllen. Da gibt es ja das IQB in Berlin, das daran arbeitet. Wir sind dabei, Bildungsstandards auch fürs Abitur zu erarbeiten, auch hier Aufgabenpools zu machen. Ich glaube, das muss der Weg sein. Wir kriegen ja auch eine sozusagen größere Eigenständigkeit der einzelnen Schulen, und da wird es gar nicht anders gehen. Auch eine Oberschule wird nicht sozusagen gegenläufig sein gegen die zunehmende Eigenständigkeit von Schulen, die ja auch gewünscht ist.

Heise: Herr Hurrelmann, was die Eigenständigkeit der Schulen angeht, sehen Sie da einen Widerspruch zu dem Oberschulen-Modell?

Hurrelmann: Nein, überhaupt nicht. Wir brauchen die Eigenständigkeit, die Selbstständigkeit der einzelnen Schulen, weil nur dann die einzelne Schule wirklich sich auf ihre Klientel, die Besonderheiten des Einzugsbereiches, der Region, der Elternwünsche und so weiter ganz sensibel einlassen kann. Also das ist ganz, ganz wichtig, dass das mit in alle Konzepte hineinkommt, steht sogar auch im CDU-Konzept jetzt an sehr prominenter Stelle mit drin, hat mich sehr gefreut. Und wenn wir das so machen, dann ist – da stimme ich Herrn Meidinger voll zu –, dann ist es notwendig, Standards zu setzen, sodass an jeder Schule klar ist, was ist Abitur, was muss man dafür können, was sind die Voraussetzungen für den mittleren Abschluss und so weiter, und so weiter.

Heise: Und zwar sowohl in Hessen als auch in Schleswig-Holstein.

Hurrelmann: Ja, das muss bundeseinheitlich sein, ein bundeseinheitlicher Rahmen, der dann gestattet, dass man bei Erfüllung dieses Rahmens und der Standards, dass man einen individuellen Weg für jede Schule finden kann, eine Schulpersönlichkeit sozusagen entfalten kann. Und das ist ganz klar, dass dann neben dem Gymnasium als wissenschaftsorientierter Schule die alternative Schule – heiße sie Oberschule oder wie auch immer –, dass die dann eine starke Berufsorientierung, Praxisorientierung, Projektarbeit, Interdisziplinarität kennzeichnet, alle die guten Elemente, die wir heute auf vielen Hauptschulen kennen.

Heise: Herr Meidinger, glauben Sie, dass die Diskussion uns insgesamt weiterbringen wird, die jetzt losgebrochen ist?

Meidinger: Ja gut, das ist ja keine neue Diskussion …

Heise: … nein, eine uralte eigentlich …

Meidinger: … eine uralte, die CDU …

Heise: … nur mit ganz neuen Diskutanten …

Meidinger: … hat jetzt den Eindruck, sie hätte jetzt ein Tabu geschlachtet und eine Lösung präsentiert. Die Lösung ist diese Zweigliedrigkeit, diese Oberschule sicher nicht. Die Frage ist, wie stellen wir die Qualität der Abschlüsse, wie stellen wir die individuelle Förderung sicher. Und diese Diskussion muss natürlich unabhängig davon weitergeführt werden.

Heise: Zweigliedriges Schulsystem versus dreigliedriges. Wir hatten einen Meinungsaustausch zwischen dem Bildungsforscher Klaus Hurrelmann und dem Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes Heinz-Peter Meidinger. Vielen Dank an Sie beide!

Hurrelmann: Schönen guten Tag!

Meidinger: Ja, Wiederschauen!