"Was ist meine eigene Beziehung zur Zeit?"

Von Anna Bilger · 13.08.2012
Julieta Arandas Documenta-Kunstwerk "Time/Bank" ist eine Plattform zum Tausch von Waren und Dienstleistungen ohne Geld. Die Währungen sind stattdessen: Zeit und Können. "Nimm die Welt in Deiner eigenen Zeit wahr", ist die Botschaft der Mexikanerin.
Kassel, ein Samstag im Juli. Die Sonne strahlt, die Stadt ist voller Menschen, sie sitzen auf den Stufen des Fridericianums, auf den Wiesen der Parkaue.

Eine Band spielt, an einem Stand gibt es Bio-Erdbeeren und Vollkornstullen. Die Stimmung ist gelöst. Zeit spielt gerade keine Rolle. Sie ist da, sie lässt sich dehnen, in der Sonne, auf der Wiese.

Die Zeit schnurrt vielleicht dann wieder zusammen, wenn man feststellt wie wenig Kunst man erst gesehen hat. Welchem Kunstwerk widme ich wie viel Minuten? Wie gehe ich mit der Zeit um, die ich habe? Und wie formt die Konstruktion von Zeit unsere Gesellschaft und das System in dem wir leben?

Es sind Fragen wie diese, die die mexikanische Künstlerin Julieta Aranda umtreiben. Sie will uns ermuntern, Zeit nicht als ein objektives gegebenes System hinzunehmen, sondern sie selber zu gestalten:

"Es ist ganz einfach. Du kannst sagen, nimm die Welt in Deiner eigenen Zeit wahr. Eine Uhr kann Dir helfen, dass Du nicht zu spät bist für deinen Friseurtermin, aber um zu verstehen, was ist meine eigene Beziehung zur Zeit, welche Qualität hat sie, wie fülle ich meine Minuten – oder auch nicht - das ist etwas sehr Persönliches."

Julieta Aranda hat dunkle Locken, das Tattoo eines Ankers auf dem Oberarm und beim Sprechen wirbeln ihre Hände wild durch die Luft. Gemeinsam mit dem Künstler Anton Vidokle hat die 37-Jährige ein Projekt ins Leben gerufen, mit dem sie jetzt auch auf der Documenta vertreten ist. Es nennt sich "Time/ Bank" und beruht auf der Idee einer Tauschwirtschaft, bei der Zeit als Währung gilt. Die Idee ist alt: Im 18. Jahrhundert entstanden. Julieta Aranda und Anton Vidokle haben versucht, die Idee in die Gegenwart zu transportieren und ein neues ökonomisches Modell zu entwerfen:

"Time-Bank" ist etwas, das aus normaler ökonomischer Sicht wohl als marxistisch gelten kann, denn es beruht auf der Idee das Zeit = Arbeit ist. Unsere "Time-Bank" richtet sich vor allem an Menschen, die im künstlerischen und kulturellen Bereich arbeiten, wo es eine Menge Zeit gibt, die nicht genau als Arbeit gilt, weil du ja oft nichts produzierst. Es ist Zeit, die produktiv in einem anderen Sinne ist."

Ein Holzhäuschen in der Parkaue, das aussieht wie eine Pinnwand, beklebt mit überdimensionierten bunten Zetteln. Hier zeigen Julieta Aranda und Anton Vidokle einen Film, der sich assoziativ und poetisch mit Zeit auseinandersetzt. Julieta Aranda erklärt die Idee hinter "Time/ Bank":

"Eine Stunde ist eine Stunde. Du musst mit jemand tauschen..."

Das kann etwas so aussehen: Jemand übersetzt einen Text, dafür braucht er eine Stunde. Für diese Stunde kann er etwas anderes bekommen. Es gibt "Hour-Notes" also "Stunden-Scheine", die sich einlösen lassen bei allen, die mitmachen. Ein Projekt, das in Zeiten der Finanzkrise sehr aktuell scheint, aber bereits davor entstanden ist:

"Ich denke alle Kunst ist politisch, Kunst hat einen politischen Kontext, auch wenn man es nicht auf den ersten Blick sieht. Und wenn Kunst nicht ein politisches Gewicht hat, dann endet es damit, dass es ein hübsches Ding ist, was man sich über die Couch hängt... Das ist mir zu wenig."

Julieta Aranda ist 1975 in Mexico City geboren, ihr Vater ist Ingenieur, ihre Mutter hat Ökonomie studiert. Mit 17 geht sie nach New York – und studiert Film. Auf Umwegen kommt sie zur Kunst:

"Ich hatte immer dieses Problem: Ich wollte mit meinen Filmen zu Filmfestivals eingeladen werden und sie wurden immer für Kunstausstellungen ausgewählt.... Es waren jetzt nicht unbedingt "Kunst"-Filme, aber der Ansatz war wohl eher ein künstlerischer als echte Geschichten oder traditionelle Erzählstrukturen. Als ich das begriffen hatte, war ich plötzlich zufrieden und hatte Spaß daran Kunst zu machen."

Mit Erfolg, sie wird an der renommierten "Columbia University School of Arts" angenommen und beginnt sich in ihren Arbeiten mit Zeit auseinanderzusetzen:

"Es begann in der Universität, ich habe dieses Land gefunden, Kiribati, ein Archipel im Südpazifik, eine der ärmsten Nationen der Welt. In 2 Hälften geteilt durch die internationale Datumsgrenze, also die Linie wo ein Tag zum nächsten Tag wird. Und dieses Land beschloss, die Linie zu verändern – sie haben also einen Bogen in die Linie gemacht. Ich fand das sehr poetisch und berührend und seitdem mag ich diese Idee, dass Du Dir nicht nur Deinen eigenen Raum nimmst, sondern auch Deine eigene Zeit."

Julieta Aranda hat bereits im Guggenheim Museum in New York ausgestellt, ein Pfandleihhaus für Kunst eröffnet und dann eben Time/ Bank gegründet. Ableger davon gibt es jetzt in Kassel, in Amsterdam, in Moskau, vor allem aber in New York und Berlin, wo Julieta Aranda lebt. Regelmäßig wird ihr Atelier im Prenzlauer Berg zum Time/ Food Restaurant – einmal im Monat kocht sie:

"Ich liebe Kochen. Also verwandle ich dieses Atelier in ein 20-Personen-Restaurant und ich koche oder jemand anders. Und die Mitglieder von Time/ Bank können kommen und für eine halbe Stunde bekommen sie ein Essen."

Julieta Aranda lacht, wirft die dunklen Locken zurück. Dann klopft es an der Tür. Ihr Freund und dessen Sohn wollen mit ihr Eis essen gehen. Die 37-Jährige lässt alles stehen und liegen und geht mit, obwohl sie eigentlich gerade eine Ausstellung vorbereiten muss:

"Zeit ist wie ein Gummiband, du kannst sie dehnen, wenn Du willst."

Informationen zur Künstlerin:
Das Projekt Time/Bank
Julieta Aranda
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