Was ist deutsch - und was türkisch?

Von Dorothea Jung · 30.06.2012
Deutsch-türkische Kulturgeschichte ist noch immer ein schwieriges Terrain. Viele Künstler mit türkischen Wurzeln schreiben Lieder darüber, fotografieren oder nutzen andere Medien zur Auseinandersetzung. Andere wiederum weigern sich, sich zu sehr auf ihren Migrationshintergrund zu konzentrieren.
"Fürchte Dich nicht! Die in dieser Morgendämmerung wehende rote Halbmondfahne kann nicht vergehen, solange das allerletzte Herdfeuer nicht erloschen ist, das in meiner Heimat brennt",

so lautet der auf Deutsch übersetzte Text der türkischen Nationalhymne, den die Performance-Künstlerin Nezaket Ekici auf die Melodie des Deutschlandliedes singt.

Wie in einem Brennglas verdichten sich in diesem Lied die Fragen, die sich die Berliner Konferenz 'Fiktion Okzident' gestellt hat. "Was ist deutsch?" - "Was ist türkisch?" - "Was bedeutet nationale Identität?" Fragen, denen niemand entgehen kann, der aus einer türkischen Einwandererfamilie stammt, auch Künstler und Intellektuelle nicht. Nezaket Ekicis hybrid konstruierte Nationalhymne etwa, wäre eine spielerische Antwort auf die Frage nach nationaler Identität.

Die Konferenz zeigte aber auch, dass etliche Künstler diese Frage als Zumutung begreifen. So fokussiert etwa der Foto-Designer Ali Kepenek seine Bild-Reflexionen ganz auf den Körper. Kepenek zeigt Körper nackt, verletzt, tätowiert, vernarbt. Für ihn ist wichtig, dass der Körper sich kollektiven Zuschreibungen entzieht. "Der Körper" - so sein Credo, "hat keine Nationalität, allerdings jedoch eine individuelle Geschichte".

"Ich denke der Körper hat zwar mit Kultur zu tun, aber die ist übergreifend, weil: Jeder hat denselben Körper - Mann/Frau, das ist der einzige Unterschied und vielleicht Hautfarbe - aber dadurch, dass jeder den selben Körper hat in gewisser Art und Weise, zeigt das Leben, was dem mitspielt, die Schrift auf dem Körper. Also wenn jemand sich verletzt, weil er harte Sachen erlebt hat oder weil es modisch ist, dann zeigt das irgendwo die ganze Geschichte dieses Menschen."

Einen ähnlichen Weg geht der Fotograf Sedat Mehder. Seit Jahren fotografiert er sich selbst in unterschiedlichen Verkleidungen und Körperzuständen: dick, dünn, rasiert, bärtig; in Armee-Outfit, Smoking oder dem Nachthemd seiner Großmutter - und erkundet auf diese Weise, welche Rolle sein Migrationshintergrund für seine Identität spielt:

"Das fing eigentlich damit an: "Was wäre, wenn?" Was wäre, wenn mein Vater nicht nach Deutschland gekommen wäre? Was wäre, wenn ich in diesem Dorf geblieben wäre? Was wäre aus mir geworden? Wäre ich jetzt ein Hirte? Wäre ich ein Akademiker, hätte ich einen Laden? Aus diesen Fragen heraus ist dann diese Geschichte entstanden. Ich hab immer wieder geguckt, was ich hätte sein können und hab' daraus dann immer wieder Serien gemacht. Das fand ich sehr interessant!"

Doch auf dem Berliner Symposium gab es auch Künstler, die es leid sind, ihre Identität zu erkunden. Gesellschaftliche, politische oder psychologische Reflexion gehöre ohnehin zum Leben, meint der Berliner Theaterregisseur und Filmemacher Neco Celik. Er weigert sich, seine Identität als Einwandererkind zum Gegenstand seiner Kunst zu machen. Neco Celik will auf keinen Fall, dass man sich für ihn ausschließlich im Zusammenhang mit seinem Migrationshintergrund interessiert. Dem müsse man unbedingt entrinnen:

"Indem man aggressiv ist! Das ist sehr wichtig, seine Wünsche zu äußern! Das ist so! Die Staatsoper möchte, dass ich ein Stück inszeniere für sie, und sie kommen gleich mit türkischen Themen an! Also ich bin ja Berliner, deutscher geht 's nicht. Da kommen Holländer oder Franzosen, die irgendeinen Kleist oder Don Giovanni inszenieren dürfen - und ich soll Ali Baba inszenieren! "Das geht nicht!" hab ich gesagt."

Die Künstler fordern vehement, dass sie als Individuen wahrgenommen werden. Wie aber kann es die deutsche Gesellschaft schaffen, ihre Einwanderer nicht über eine ethnische, religiöse oder kulturelle Zugehörigkeit zu definieren? Dafür ist es nach Meinung des Publizisten Zafer Senocak notwendig, auch den medialen und politischen Diskurs gewissermaßen zu "individualisieren". Das fordert der Berliner Autor von Deutschen und Einwanderern gleichermaßen.

Nur so könne man Gemeinsamkeiten entdecken, meint er und rät, erst einmal damit zu beginnen, sich gegenseitig die persönlichen Familiengeschichten zu erzählen. Dabei fällt Zafer Senocak ein Schulfreund ein, der ihm erst nach zehn Jahren offenbart hat, dass er aus einer Vertriebenenfamilie stammt:

"Diese Erfahrungshintergründe, die sozusagen Schmerzen bedeuten, Brüche in der Identität bedeuten - ich sehe solche Themen nicht genug in den Debatten. Also, ich wünschte mir mehr Positionen des Eigenen. Nicht, um etwa Rechthaberisch-Nationales zu formulieren, sondern auch, um sozusagen ins Gespräch mit jemandem überhaupt eintreten zu können. Also: Ich glaube, wir sind noch gar nicht im Gespräch. Wir sprechen übereinander."

Die deutsch-türkische Kulturgeschichte ist immer noch von Sprachlosigkeit geprägt - obwohl es bereits in Kaiserzeit und Weimarer Republik einen intensiven kulturellen Austausch zwischen beiden Ländern gab - der heute weitgehend vergessen ist. Nur wenn die Gespräche persönlicher werden, da waren sich alle auf dem Symposium einig, kann so etwas wie eine gegenseitige kulturelle Bereicherung überhaupt wahrgenommen werden. Nur so kann ein Nachdenken über die kulturellen Auswirkungen der Migration sich von Projektionen, Sehnsüchten und Vorurteilen trennen. Und nur so kann die Reflexion auch einwirken auf individuelles Handeln. Solange das nicht gelingt, bleibt der aufgeklärte Okzident eine Fiktion.
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