Was die Diktatur aus Menschen macht

19.11.2012
Der russische Schriftsteller und Revolutionär Victor Serge, der als Exil-Russe 1890 in Belgien geboren wurde, erlebte die Schrecken der stalinistischen Massenverhaftungen und Schauprozesse am eigenen Leib. In seinem Roman beschreibt er den Machtapparat, der niemanden verschonte. Und er schildert, wie alle das mörderische Spiel so lange mitspielen, bis sie selbst zum Opfer werden.
Victor Serge alias Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch (1890 bis 1947) ist eine Legende – politisch wie literarisch. Als Exil-Russe in Belgien geboren, ging er 1919 ins revolutionäre Russland und konnte später als einer der wenigen Überlebenden unter den alten Parteigenossen aus erster Hand beschreiben, was in der Stalin-Ära vor sich ging. Denn er hatte Glück gehabt: Zwar wurde er zu Beginn der Säuberungen in den Ural deportiert, konnte aber dank der Intervention von linken französischen Intellektuellen die Sowjetunion noch 1936 verlassen.

"Der Fall Tulajew" ist ein historischer Roman, der anhand verschiedener Biografien erzählt, wie die Welle der stalinistischen Massenverhaftungen und Schauprozesse einen großen Teil der Nomenklatura mit sich fortreißt. Zwar sind die meisten Figuren nicht als reale Personen identifizierbar – von einigen sehr wenigen, wie etwa Stalin selbst, einmal abgesehen – aber ihre Funktionen und ihre Karrieren schildert Serge mit vielen sprechenden Details, mit einer genauen Kenntnis des Machtapparats und seiner paranoiden Struktur.

Alles beginnt mit einem Mord, eine Art "acte gratuit", begangen von einem wütenden jungen Mann, der zufällig in den Besitz einer Waffe gerät und bei der nächstbesten Gelegenheit auf nächtlicher Straße ein Mitglied des Zentralkomitees erschießt. Niemand sucht ihn. Statt dessen dient das Attentat nur als äußere Rechtfertigung für den "Großen Terror" – und die Beteiligten an den "Ermittlungen" wissen das. Eifrig erstellen sie lange Listen von der Verschwörung Verdächtigen: missliebige Genossen, berufliche Konkurrenten, Abweichler, Intellektuelle.

Serge stellt die geistige Verfassung von Menschen in einer umfassenden Diktatur überaus plausibel dar – und schildert mit einer haarsträubenden Genauigkeit, wie jeder das mörderische Spiel so lange mitspielt, bis er selbst zum Opfer wird – bis zum Oberkommissar für Innere Sicherheit.
Die große Ernüchterung – so der deutsche Untertitel – ist ein eigentlich zu schwacher Ausdruck für das, was hier stattfindet; im französischen Original wird das Buch sarkastisch "ein revolutionärer Roman" genannt. Victor Serge selbst ist, trotz seiner intimen Kenntnis der Stalinistischen Diktatur, sein Leben lang ein humanistischer Sozialist geblieben, und wurde bis zu seinem frühen Tod von linken Dogmatikern jeglicher Fraktion angefeindet.

Dieses Buch ist vor allem ein Zeitzeugnis. Seine sprachlichen Qualitäten blitzen an manchen Stellen auf, kommen aber nicht wirklich zum Tragen – was auch an der gelegentlich holprigen Übersetzung liegen mag. (Zum Beispiel ist von "erleuchteter Tyrannei" die Rede, wenn eine "aufgeklärte" gemeint ist.) Wie groß die Ideale der revolutionären Anfangszeit waren und wie tief der Absturz in eine Realität, die deren völliges Gegenteil darstellte – das lässt Victor Serge noch einmal laut in unser postideologisches Zeithalter hinein nachhallen.

Besprochen von Katharina Döbler

Victor Serge: Die große Ernüchterung - Der Fall Tulajew
Aus dem Französischen von N.O. Scarpi
Edition Büchergilde Reihe Weltlese, Frankfurt/Main 2012
448 Seiten, 19,95 Euro