Warum viele Texaner nicht mehr Amerikaner sein wollen

Bald ein paar Sterne weniger? Einige Hunderttausend Bürger wollen, dass ihr jeweiliger Bundesstaat die USA verlässt.
Bald ein paar Sterne weniger? Einige Hunderttausend Bürger wollen, dass ihr jeweiliger Bundesstaat die USA verlässt. © picture alliance / dpa / Igor Zehl
Christian Lammert im Gespräch mit Dieter Kassel · 20.11.2012
Sezessionsbestrebungen hätten vor allen Dingen in den südlichen Bundesstaaten der USA eine lange Tradition, sagt Nordamerikaexperte Christian Lammert. Dort sei man von Veränderungen wie der Einwanderung durch Hispanics "überproportional betroffen" und dort würde "leicht eine Angst geschürt vor Überfremdung. Das ist nicht mehr das Amerika, wie es die Leute kennen in Texas".
Dieter Kassel: Das Weiße Haus in Washington hat vor einer Weile eine offizielle Website mit dem Titel "We are the people" eingerichtet und dort können amerikanische Bürger Fragen stellen oder auch Forderungen loswerden. Das ist nicht so etwas wie die Petition bei uns, es hat keinerlei bindende Wirkung für die Regierung, aber man hat versprochen, dass, wenn etwas, was dort gepostet wird, mehr als 50.000 Unterzeichner findet, dann gibt es eine offizielle Antwort eines Vertreters des Weißen Hauses.

Das ist auch schon passiert, es gab relativ lustige Sachen. Es wurde gefordert, das Rezept des im Weißen Haus gebrauten Bieres – vorher nicht gewusst, dass es das gibt, aber das gibt es –, und dieses Rezept zu veröffentlichen, dieser Bitte ist man dann auch nachgekommen.

Es gibt aber auch ernsthaftere Sachen. Wenn man die Forderungen und die Unterschriften zusammenzählt, dann haben sich mehrere 100.000 Menschen auf dieser Seite schon dafür ausgesprochen, dass sich ihr jeweiliger Bundesstaat von den Vereinigten Staaten abtrennen soll. Besonders viele Unterschriften nämlich allein in diesem Staat, mehr als 100.000, gab es in Texas, aber eine ganze Menge gab es aus fast jedem der 50 US-Bundesstaaten.

Was sind das für Menschen, die da ja tatsächlich so etwas wie eine Sezession, also eine Abtrennung von den USA fordern? Und wie ernst sind diese Forderungen überhaupt zu nehmen? Darüber wollen wir jetzt mit Christian Lammert reden, er ist Professor für die Innenpolitik Nordamerikas am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin und er ist zu uns ins Studio gekommen. Schönen guten Morgen, Herr Lammert!

Christian Lammert: Guten Morgen!

Kassel: Kann man das so ein bisschen definieren? Was für Menschen sind das, die da diesem Wunsch, dieser Forderung Ausdruck verleihen?

Lammert: Also, ich glaube, hier muss man zwei Aspekte miteinander in Verbindung bringen: Das eine ist schon eine etwas längere Tradition und Richard Hofstadter, ein Historiker, hat das mal in den 50er-Jahren gesagt, dass wir in den USA einen "paranoiden Stil" in der Politik haben. Und ich glaube, das kann man hier wieder so reinsetzen. Das hat eine lange Tradition, das ging von der McCarthy-Ära dann bis heute in diese Sezessionsbestrebungen, das ist im Kern eigentlich auch immer noch eine Anti-Obama-Bewegung, die nicht zufrieden ist, dass es ein schwarzer Präsident geworden ist, die sich auch etwas vereinsamt sieht in einer sich modernisierenden amerikanischen Gesellschaft, wo die Minderheiten langsam zur Mehrheit werden, und die hier eine Gefahr sehen für ihren Status.

Es sind also meistens, wenn man sich wahrscheinlich die Leute mal angucken würde, sie sind ja anonym, wahrscheinlich weiße, ältere Männer aus ländlichen Gebieten, die noch gegen Obama gewählt haben und die hier jetzt ihr Protestpotenzial versuchen zu artikulieren.

Auf der anderen Seite ist es auch ein Ausdruck einer Krise der republikanischen Partei, die keine politische Ausrichtung momentan hat. Hier ist ein Flügelkampf zugange, die Parteiorganisation will eigentlich wieder zurück in die politische Mitte, während eine radikale Basis innerhalb der Partei, die auch mit der Tea-Party-Bewegung eng verknüpft ist, einen stärker konservativen, libertären Richtungswechsel in der Politik haben möchte.

Kassel: Sie haben es schon gesagt, Sie haben es ein bisschen vorsichtiger formuliert, aber es geht vielen dieser Menschen darum, wirklich die Macht des weißen Mannes – mit Betonung auf beidem, weiß und Mann – zu sichern, die ja immer mehr bröckelt in vielen Bundesstaaten. In einigen Medien war auch zu lesen, dass Anhänger und Mitglieder sowohl des Ku-Kux-Klan als auch der Neonazibewegung in den USA da eine große Rolle spielen?

Lammert: Also, das ist jetzt so eine Koalition, die sich da zusammenfindet, von ganz unterschiedlichen Interessen. Und ich würde das jetzt nicht überbewerten und sagen, das sind jetzt wieder alles Rassisten, die in dieser Bewegung sind, da sind auch viele Libertäre, Ron Paul hat zum Beispiel – also, der auch als republikanischer Präsidentschaftskandidat in den Vorwahlen angetreten ist, der sehr libertär ist –, der hat sich auch positiv geäußert zu diesen Bestrebungen. Also, das ist hier so ein Konglomerat unterschiedlicher Interessen, die sich hier auf einmal in dieser Aktion bündeln.

Da ist sicherlich auch so ein bisschen eine Spaß-Guerilla dahinter, was wir bei diesen Social Media immer haben. Es sind ein Kern Rassisten wahrscheinlich auch dabei im Ku-Kux-Klan und Neonazis, es sind aber auch zum Teil frustrierte Bürger dabei, die noch leiden unter der Wirtschaftskrise, die ihre Häuser verloren haben, die arbeitslos geworden sind und die die Schuld jetzt eben auf Washington schieben, dass die Regierung dort alles falsch gemacht hätte, und die jetzt einen Kanal suchen, um ihre Wut zu artikulieren.

Kassel: Wenn man seriösere Medien aus den USA liest, die diese Bewegung befürworten – das gibt es ja auch, auch die Medien sind da sehr gespalten dort –, dann kommen da aber Argumente, die einem vernünftigen Menschen erst mal fast einleuchten: Da heißt es dann, in Washington sei die Macht der Federal Reserve – also, im Weitesten dem Pendant zur Bundesbank, richtig vergleichbar ist es nicht –, sei zu groß geworden, Präsident Obama sei nur noch eine Marionette der Banken und Politikelite, und die sprechen davon, sie wollen eben gerade keine Diktatur in ihrem jeweiligen Bundesland, sie wollen mehr Freiheit, mehr Demokratie, und eigentlich sei in Washington keine Demokratie mehr. Da sagt man, das ist hart formuliert, aber im Kern hört man dieses Argument ja weltweit über Regierungen!

Lammert: Ja, aber man muss dann immer aus einer vergleichenden Perspektive gucken. Wenn man sich anschaut, was für eine Macht die Bundesregierung in den USA im föderalen System hat, wird das immer noch sehr stark kontrolliert. Das ist dieses politische System der Checks and Balances, wir haben das jetzt auch bei der jüngsten Gesundheitsreform gesehen, das ging gleich wieder vors Verfassungsgericht, weil überprüft worden ist, darf die Bundesregierung überhaupt in solchen Fällen in die Belange der Einzelstaaten eingreifen? Da wird immer wieder die Commerce Clause genannt, die in der Verfassung steht, das heißt, der Bund hat das Recht, wenn es um Handel zwischen den Staaten geht, zu regulieren.

Das Verfassungsgericht hat jetzt in dem Fall gesagt – und die Gesundheitsreform ist unter diesem Aspekt eigentlich nicht verfassungsgemäß ... Also, hier werden schon die Einzelstaatenrechte immer sehr in den Vordergrund geschoben und das ist auch immer so eine Konjunktur, manchmal geht es mehr in Richtung Bund, manchmal wieder mehr in Richtung Einzelstaaten, und das ist momentan auch, glaube ich, hier treffen sich wieder so Entwicklungspunkte: Protestpotenzial, frustrierte Wähler, und gleichzeitig wieder so eine Bewegung, die versucht, die Rechte der Einzelstaaten ein bisschen zu stärken.

Kassel: Wenn man sich diese Bewegung, wenn wir sie so nennen wollen, anguckt, dann ist sie ja nicht gleich verteilt über die USA. Es gibt Unterschriften auch aus New York und aus anderen nördlichen Bundesstaaten, aber es gibt viel mehr aus den Südstaaten. Und am allermeisten aus dem Bundesstaat Texas. Haben Sie da eine Erklärung für?

Lammert: Na ja, das ist natürlich, wenn man historisch sich das anguckt, das sind die Staaten, die südlich der Mason-Dixon Line liegen. Das heißt, das war auch früher, wenn man bis zum Bürgerkrieg zurückgeht, genau diese Staaten, die immer protestiert haben gegen eine Bevormundung aus dem Norden. Das ist so eine politische Tradition hier, die auch leicht wieder zu mobilisieren ist. Und zum anderen sind es auch die Staaten in den USA, die von den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, gerade von der Einwanderung von Hispanics, sehr überproportional betroffen sind, und hier wird dann leicht eine Angst geschürt vor auch Überfremdung, Kontrollverlust, das ist nicht mehr das Amerika, wie es die Leute kennen in Texas.

Ich war jetzt kürzlich in Florida, da ist das auch sehr stark, wenn man da in Miami ist, da hat man das Gefühl, man ist in einer spanischen Stadt. Alles ist zweisprachig. Und es gibt auch eine sehr wohlhabende Schicht von Latinos, Hispanics, die das auch offen und ehrlich zeigt. Und das wird von vielen Weißen als Bedrohung empfunden. Das ist nicht mehr das Amerika, in dem sie sich wohlfühlen. Und das ist, glaube ich, diese Stimmung, in der momentan diese Bewegung sich formiert.

Kassel: Wir reden heute Vormittag hier im Deutschlandradio Kultur mit Christian Lammert. Er ist Professor für die Innenpolitik Nordamerikas an der FU Berlin über so eine – das ist vielleicht eine übertriebene Formulierung, aber nennen wir es der Einfachheit halber so – Sezessionsbewegung, die es in den USA verstärkt wieder gibt. Ginge das rechtlich? Also, wenn zum Beispiel Texas jetzt auch in der Politik per Volksabstimmung, wie auch immer, mehrheitlich beschließen wollte, wir wollen raus, können die dann einfach pflichtgemäß ihren Vertrag mit Washington kündigen?

Lammert: Also, ich kennen keinen ernst zu nehmenden Verfassungsrechtler und Juristen, der sagt, diese Option bestünde. Also, rein formalrechtlich ist nur vorgesehen – das ist das Einzige, was ich mal gelesen habe, was Verfassungsrechtler als Möglichkeit hielten –, wenn alle 50 Bundesstaaten sich einigen würden, dass ein Bundesstaat den Bund verlässt, dann wäre es vielleicht möglich, dass man so einen Weg findet. Aber eine einseitige Unabhängigkeitserklärung eines Staates ohne Zustimmung aller anderen ist in den USA nicht möglich. Und es wird dann auch immer diskutiert, eine einzige Möglichkeit wäre dann eben eine Revolution, also ein gewaltsames Abspalten eines Staates. Aber das ist nicht vorstellbar.

Kassel: Gibt es eigentlich Landespolitiker, also Politiker in den Bundesstaaten, die so etwas unterstützen? Oder sind das wirklich nur vereinzelte Bürger?

Lammert: Es sind, also, wir haben jetzt gesehen Reaktionen aus Texas. Der Gouverneur Rick Perry hat sich deutlich davon distanziert. Vor drei Jahren, im Kontext der Diskussion um die Gesundheitsreform, hat er es mal unterstützt und hat gesagt, das ist eine Option, wir als Texas haben sowieso Sonderrechte und könnten so was wahrnehmen. Aber man sieht momentan, dass sich die Politik eigentlich weitgehend davon distanziert, und das ist jetzt ein Thema, was in den Blogs auf Fox News und bei manchen etwas kurioseren Rechtswissenschaftlern diskutiert wird.

Kassel: Wir können, glaube ich – Sie haben es ja deutlich gemacht –, davon ausgehen, und das auch nicht nur aus rechtlichen Gründen, dass es keine Sezession geben wird in nächster Zeit. Aber ist es nicht trotzdem gefährlich, auch eine solche Bewegung, was die Spaltung der Gesellschaft angeht? Weil, die haben wir ja eh. Es ist ja so, dass, glaube ich, ganz wenig Republikaner sagen, Gott, wir haben verloren, jetzt ist Obama unser aller Präsident. Viele Leute sagen, das ist nicht unser Präsident, das ist nicht unsere Gesellschaft!

Lammert: Natürlich, das ist ein großes Problem und das ist jetzt auch eine große Herausforderung für die republikanische Partei, diese entfremdete Basis am rechten Rand, also vor allem die Landbevölkerung, weiße, wieder in die politische Mitte zu ziehen. Weil, wenn sich hier ein Radikalisierungspotenzial beobachten lässt – und wir sehen das in manchen Bundesstaaten, die jetzt schon anfangen, Milizen zu gründen, das ist auch so eine Tradition in den USA, wir verteidigen uns gegen eine Tyrannei der Herrschaft, und das wird in manchen Staaten jetzt schon angedacht –, das kann schon zu einer Radikalisierung führen.

Mit dem sehr liberalen Waffengesetz wäre dann auch die Möglichkeit da, dass es hier zu irgendwelchen Auseinandersetzungen kommt, die nicht groß systematisch organisiert sind, sondern eher so Ausbruchcharakter haben kann. Aber hier ist schon ein Potenzial da, das auch Gewalt beinhaltet, und hier muss die republikanische Partei sehen, dass man diese Leute wieder einfängt.

Kassel: Danke schön! Christian Lammert war das, er ist Professor für die Innenpolitik Nordamerikas am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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