"Warum sollte man das einfach wegschmeißen?"

Antony Saravanja im Gespräch mit Dieter Kassel · 14.01.2010
Beim Internetlexikon Wikipedia habe sich ein "Administratorenelite" herausgebildet, die keine anderen Meinungen zulasse, sagt Antony Saravanja, Gründer der Seite Pluspedia, die bei Wikipedia gelöschte Artikel veröffentlicht.
Dieter Kassel: Vor ungefähr drei Wochen überschritt die Anzahl der Artikel in der deutschsprachigen Ausgabe des Internetlexikons Wikipedia die magische Grenze von einer Million – eine Million Artikel, inzwischen natürlich schon wieder ein paar mehr, über eine Million also, die alle von ehrenamtlichen freiwilligen Autoren verfasst wurden, quasi von jedermann und jederfrau. Und genau das ist das Problem: In der Wikipedia-Gemeinde tobt ein Streit darüber, ob wirklich jeder Artikel, der von irgendjemandem geschrieben wurde, auch drinbleiben darf, oder ob die irrelevanten Themen einfach gelöscht werden sollen. Eine klare Meinung dazu vertritt der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales:

Jimmy Wales: Unaufhörliches Wachstum nennt man Krebs, und das wollen wir doch nicht haben. Stattdessen wollen wir uns um Wikipedias Qualität bemühen. Umfang ist nichts, was ich ablehne, aber Wachstum um des Wachstums willen wäre doch ein seltsames Ziel für Wikipedia.

Kassel: Eine klare Aussage von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales. Er ist damit eindeutig ein Exkludist, so nennt man nämlich inzwischen die Leute, die möchten, dass alle Artikel zu irrelevanten Themen aus der Wikipedia gelöscht werden. Die anderen nennt man dann logischerweise Inkludisten, das sind die, die wollen, dass auch irrelevante Artikel in der Wikipedia aufgenommen werden und da bleiben dürfen – was im Moment nicht so ist, im Moment wird auch in der deutschsprachigen Wikipedia fleißig gelöscht, und deshalb gibt es inzwischen Pluspedia. Das ist eine Internetseite, auf der all das Platz findet, was bei Wikipedia rausfliegt. Und in unserem Studio in Frankfurt am Main begrüße ich jetzt den Gründer der Pluspedia, Antony Saravanja. Schönen guten Tag!

Antony Saravanja: Hallo!

Kassel: Sind Sie denn grundsätzlich ein Exkludist oder ein Inkludist?

Saravanja: Ich definiere mich als Hardcore-Inkludist.

Kassel: Das heißt, es wäre Ihnen am liebsten, wenn Ihr Projekt völlig unnötig wäre, weil alles in der eigentlichen Wikipedia drin bleiben könnte?

Saravanja: Das wäre es gewesen, bevor ich die Pluspedia gegründet habe. Jetzt ist es mir eigentlich recht, dass die Pluspedia diese exkludistischen Tendenzen hat.

Kassel: Das heißt, es geht bei Pluspedia nicht nur darum, einfach alles noch mal aufzunehmen, was rausgeflogen ist – also nicht nur die Sachen, wo man vielleicht sagen kann, na ja, das ist ganz unterhaltsam, aber nicht richtig wichtig –, sondern es geht auch darum, zu zeigen, dass die Entscheidungen bei Wikipedia manchmal die falschen sind?

Saravanja: Also wir sammeln ja die gelöschten Artikel der Wikipedia primär, und die spielen wir bei uns ein größtenteils, beziehungsweise gibt es wiederum Unterscheidungen: Es gibt tatsächlich Müllartikel, die man auch bei uns nicht unbedingt findet oder eben separiert, und durchaus aber auch Themen, die aus meiner Sicht sehr interessant sein könnten für gewisse Gruppen. Und wenn es 10 Leser sind oder 100 Leser sind, die sich für dieses Thema interessieren, dann nehmen wir das als Artikel auf, wenn er in Ordnung geschrieben ist.

Kassel: Was sind denn das für Themen, wo Sie nun sagen, die sind sehr interessant?

Saravanja: Nehmen wir zum Beispiel irgendwelche Bands. Also ich meine, wenn eine Band jetzt 10 Fans hat oder 100 Fans hat oder 1000 Fans hat, dann hat sie in der Wikipedia ja gar keine Chance, und bei uns, würde ich sagen, wenn der Artikel in Ordnung ist, warum soll er dann nicht bei uns aufgenommen werden?

Kassel: Gibt es auch Sachen – Sie haben auch schon von Müllartikeln gerade gesprochen –, wo Sie finden, nein? Sie haben ja bei den Müllartikeln gerade noch unterschieden: entweder separat oder gar nicht mehr. Was ist denn auch für Pluspedia die Kategorie "gar nicht mehr"?

Saravanja: Na ja, ich meine, wenn jetzt irgendjemand irgendwie eine Überschrift wählen würde "Kwarktschulitschukwaktch", also irgendwie nur Müll reinschreiben würde und der Text auch entweder keinen Sinn ergeben würde oder gar nichts hätte, das wäre ein Grund, ihn nicht aufzunehmen, weil das einfach so ein Spaßartikel ist, wo jemand irgendwas testen wollte oder so.

Kassel: Es gibt natürlich, was nun diesen Streit in der Wikipedia angeht, viele Argumente der sogenannten Exkludisten, also der, die für Löschung in gewissen Fällen sind, warum man nicht einfach alles dalassen kann. Wir haben vor ein paar Wochen mal bei uns im Programm mit einem der rund 300 Administratoren der deutschsprachigen Wikipedia geredet, Jürgen Lüdeke, und der hat ein einsichtiges, aber mir bis dahin gar nicht so bekanntes Argument gebracht, der hat nämlich gesagt: Wenn wir alles drin lassen, was da jeden Tag reingeschrieben wird und nur das, was Sie gerade beschrieben haben, mit "Brluom" wieder rauslöschen, dann sind es so viele Artikel, dass wir die nicht mehr kontrollieren können. Wir können nicht mehr überprüfen, ob die richtig sind. Pluspedia ist ja im Moment noch ein relativ kleines Projekt, aber es wird ja wachsen. Werden Sie nicht genau dieses Problem irgendwann auch kriegen?

Saravanja: Das Problem haben wir ja jetzt auch schon. Also, ich denke nicht, dass wir in der Lage sind bei knapp 5000 bis 6000 Artikeln, die wir jetzt haben, als kleines Drei-, Vier-, Fünf-, Zehn-Mann-Team den kompletten Überblick zu haben, was da drin steht, was richtig ist und was falsch ist. Nur, wenn ich mir jetzt ein Lexikon anschaue von 1970, den Brockhaus, da steht ja wahrscheinlich auch noch das Land Jugoslawien drin, und das ist heute auch nicht mehr richtig, und deswegen würde trotzdem niemand an der Sinnhaftigkeit des Brockhaus zweifeln.

Kassel: Ja, aber was ist mit Artikeln, wo etwas Aktuelles falsch dargestellt wird? Gut, wenn Sie jetzt eine kleine Band haben und da steht, Mike ist Bassist und Mike ist aber eigentlich der Drummer – das mag verschmerzbar sein. Aber was ist, wenn bei Ihnen jemand Artikel heute reinstellt, wo behauptet wird, es gibt Jugoslawien und die Hauptstadt des ganzen Landes ist Belgrad?

Saravanja: Na ja, man muss immer bei einem Wiki, was von verschiedenen Leuten bearbeitet wird, davon ausgehen – und das war ja auch die ursprüngliche Konzeption der Wikipedia –, dass man den Inhalten per se nicht vertrauen darf, dass man die Inhalte als erste Quelle nutzen kann, aber dass man das alles, was da drin steht, natürlich, wenn man es weiterverwenden möchte, auch verifizieren sollte.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Antony Saravanja, dem Gründer der Pluspedia, der Seite, wo alles oder zumindest vieles Platz findet, was keinen Platz mehr finden soll in der Wikipedia. Nun geht es ja bei diesem Wikipedia-Streit im Kern nicht um die Frage richtig oder falsch, da wird ja der Versuch unternommen, falsch irgendwie rauszuhalten, sondern es geht um die Frage der Relevanz, Herr Saravanja. Sagen Sie bei Pluspedia: Relevanz ist für uns überhaupt kein Kriterium, oder ist für Sie bloß Relevanz was anderes als für die Wikipedia-Leute?

Saravanja: Die Frage ist: Was ist Relevanz?

Kassel: Die Wikipedia-Leute erklären einem das: Man kann, man ist zum Teil überrascht, ich war es, aber man kann das nachlesen. Die sagen zum Beispiel: Ein Journalist ist dann relevant, wenn er mindestens stellvertretender Chef eines mindestens so und so wichtigen Medienunternehmens ist.

Saravanja: Sind Sie relevant?

Kassel: So gesehen nicht. Aber ich bin froh, dass die Wikipedia sich nicht immer an ihre eigenen Kriterien hält, denn nach denen müsste die Hälfte der gelisteten Journalisten schon wieder gestrichen sein.

Saravanja: Okay.

Kassel: Ich bin aber nicht drin, das am Rande, nein, aber ich will natürlich darauf hinaus ... Bei Relevanz sagen Sie, das kann sowieso kein Mensch beurteilen, was relevant ist?

Saravanja: Doch. Ich meine, jeder Mensch hat seine eigene Relevanz und seine eigenen Relevanzkriterien, und ich sage jetzt einfach mal: Mein Beispiel ist die Realschule Baden-Baden. Die Realschule Baden-Baden ist jetzt seit 50 Jahren auf dem Markt, hat, was weiß ich, 3000, 4000 Schüler gehabt in ihrem Bestehen, hat Eltern, hat Kinder von diesen Schülern, hat Lehrer, et cetera, et cetera, et cetera, hat vielleicht potenzielle Leser 5000 bis 10.000. Trotz allem würde jetzt die Wikipedia sagen: ist irrelevant. Die meisten Schulen sind für die Wikipedia irrelevant. Dann: Ein Unternehmen hat vielleicht 500 Mitarbeiter, hat 80 Millionen Umsatz im Jahr – wäre trotzdem irrelevant für die Wikipedia, weil die sagen, mindestens 1000 Mitarbeiter oder 100 Millionen Umsatz. Und ich stelle mir jetzt die Frage: Warum brauche ich jetzt 100 Millionen Umsatz, damit eine Firma in der Wikipedia relevant ist? Warum reichen nicht 80 Millionen? Und wenn ich diese Frage dann stelle, kann ich dann auch am Ende die Frage stellen: Warum reicht nicht eine Ein-Mann-GmbH, die sich selber für wichtig genug hält, einen Platz in einer Enzyklopädie zu haben, diesen Platz dann zu beanspruchen?

Kassel: Aber gerade, was Sie zum Schluss gesagt haben, "die sich selber für wichtig genug hält" – das ist natürlich auch bei Einzelpersonen ein Problem, das Wikipedia immer wieder hatte, dass die Menschen sich da selber eintragen mit ihrem eigenen Lebenslauf. Das heißt, Sie und ich, wir beide können jetzt darüber entscheiden, ob der Rest der Welt wissen muss, wer wir sind?

Saravanja: Na ja, ich meine, im Endeffekt könnte man natürlich sagen: Jeder, der eine Homepage betreibt, hält sich erst mal für wichtig genug, dass die Welt darüber Bescheid weiß. Und jetzt kommt halt die Frage: Wie viele Leute sehen das auch so? Und ich sage jetzt einfach mal, wenn es drei oder fünf oder zehn sind, dann ist das schon okay aus meiner Sicht. Und wenn es jetzt der Einzelne ist, der sich jetzt als Selbstdarsteller darstellt, dann sage ich halt auch, ich meine: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht – ein blöder Satz, aber ist halt so. Und ich denke halt, wenn jemand sich die Mühe macht, einen Artikel zu schreiben, dann sollte man auch, wenn dieser Artikel eine gewisse Qualität erreicht hat und jetzt nicht nur aus Buchstabengetippse besteht, warum sollte man das einfach wegschmeißen? Weil ich wiederum ... Ein kleines, weiteres Motto von mir: Löschen kann ich ja auch morgen, und nach dem Motto verfahren wir halt.

Kassel: Glauben Sie, dass das, was Sie tun mit Pluspedia, einen Einfluss auf die Debatte bei der Wikipedia hat? Ich meine, es sind ja beide Dinge denkbar: dass die nachdenklich werden, weil bei Ihnen was steht, was doch relevant ist – was immer das bedeuten mag –, oder aber, dass die sagen, na ja, jetzt gibt's ja die anderen Jungs für den anderen Kram, jetzt können wir erst recht löschen.

Saravanja: Na ja, ich meine, aus meiner jetzigen Sicht habe ich ja gar nichts dagegen, dass die mehr löschen, weil mir sind halt diese Löschdiskussionsdebatten auch ziemlich ermüdend geworden. Was jetzt das für eine Auswirkung auf die Wikipedia hat, das kann ich schlecht bewerten. Also ich gehe davon aus, dass die Wikipedia eher ihren jetzigen Weg weiter fortsetzen wird, so wie ich das werte, weil ich einfach das Gefühl habe, dass sich bei der Wikipedia sich da eine gewisse Administratorenelite ausgebildet hat und ich denke, dass jetzt grob andere Meinungen da keinen Platz finden werden.

Kassel: Antony Saravanja, der Gründer von Pluspedia, der Seite, wo all das oder zumindest sehr vieles Platz findet, was in Wikipedia gelöscht wird oder gar nicht erst reindürfte. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Saravanja: Alles klar, ich bedanke mich!