Warum jammern die Ostdeutschen?

Von Geny Piotti · 01.10.2010
Der Blick auf hohe Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit vom Westen lenkt zu sehr von dem ab, was Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung erreicht hat. Ein "Mezzogiorno-Schicksal" ist dem Osten nämlich erspart geblieben.
Die friedliche Revolution und der Fall der Mauer. Diese Bilder haben die ganze Welt bewegt. Die Bürger der DDR hofften und träumten von einer besseren Zukunft, von der Freiheit zu reisen, davon, mehr vom Westen zu bekommen als Intershops und Westpakete. Die Wiedervereinigung ist zu einem großen Teil auch das Ergebnis von kollektiver Euphorie und Wunschdenken.

Je größer die Träume desto traumatischer wirkt aber die Realität. Anstatt der politisch versprochenen blühenden Landschaften drohte das "Mezzogiorno-Schicksal": Industriestilllegungen, hohe Arbeitslosigkeit, unterbrochene Berufsbiografien sowie die Abhängigkeit von staatlichen Subventionen und der Solidarität des Westens.

Der Westen hatte zwar die Spielregeln des zukünftigen gemeinsamen Lebens diktiert, schien aber doch kein besseres Wirtschaftssystem zu bieten. Die Stimme der Ostdeutschen, insbesondere der Verlierer der Einheit, ist meist leise geblieben – es wurde eher gejammert und zuweilen auch der DDR nachgetrauert. Manchmal wurden die Proteste aber auch lauter. Das haben die Leipziger Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV gezeigt.

Auf der gleichen Bühne, auf der der Osten früher die Freiheit verlangte, sehnen sich viele jetzt nach dem, was sie am stärksten durch die Wiedervereinigung verloren haben: die soziale Sicherheit.

Die Orientierung an der Sozialpolitik der DDR sowie den unrealistischen Versprechungen der Zeit der Wiedervereinigung birgt aber das Risiko die Wahrnehmung zu verfälschen und die Aufmerksamkeit zu sehr von dem abzulenken, was Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung erreicht hat.

Immerhin ist insbesondere in den letzten fünf Jahren die Arbeitslosigkeit in den östlichen Ländern deutlich gesunken. Die Produktion ist stetig gewachsen, selbst in den schwierigen Jahren nach dem Platzen der Dotcom-Blase und der letzten Finanzkrise. Alleine die Gründungsentwicklung im Bereich der Spitzentechnik und der Informations- und Kommunikationstechnologien ist im Osten überdurchschnittlich hoch.

Man muss aber genauer analysieren, was hinter diesen Daten steckt. Sicherlich haben öffentliches Kapital sowie westliche Investitionen auf der braunen oder grünen Wiese dazu beigetragen. Man würde aber nur einen Teil der Geschichte erzählen, wenn man die Leistung der vielen ostdeutschen Unternehmen nicht beachten würde, die in einer unsicheren Umgebung, Improvisationstalent und technisches Know-how bewiesen haben.

Man muss auch auf die vielen Akteure der ostdeutschen Kommunen und Verbände schauen. Sie haben öffentliche Debatten angeregt, neue Wege für ihre Regionen angebahnt und Kooperationsprojekte zwischen lokalen Unternehmen, mit Hochschulen und westlichen Investoren gefördert. Mit oder ohne Subventionsanreize - oft trotz allem Pessimismus und Jammers.

Es genügt, einen Blick Richtung Mezzogiorno zu werfen, mit dem Ostdeutschland so oft verglichen wird, um festzustellen, dass das große Experiment der Einheit auch ganz anders hätte verlaufen können. Die ostdeutschen Potenziale, die schon einige wirtschaftliche Erfolge hervorgebracht haben, verdienen mehr Aufmerksamkeit. Sowohl im Osten als auch im Westen. Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung.

Dr. Geny Piotti, geboren in Italien, arbeitet als Wirtschaftssoziologin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. 2002 promovierte sie an der Universität Brescia über das Thema "Sozialkapital und lokale Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland und Süditalien". Später war sie Postdoktorandin an der Universität Göttingen. Weitere Forschungsschwerpunkte sind der Wandel von Institutionen und die Globalisierungsprozesse von Unternehmen.
Geny Piotti
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