Warum die Vorwürfe gegen Judith Butler unfair sind

Von Klaus Englert · 11.09.2012
Der Zentralrat der Juden in Deutschland wirft der amerikanisch-jüdischen Philosophin Judith Butler "moralische Verderbtheit" vor, da sie vor einigen Jahren angeblich Hamas und Hisbollah als fortschrittliche Kräfte bezeichnet habe. Die Kritik ist unberechtigt. Es könnten ganz andere Gründe den Attacken stecken.
""The question I want to pose has to do with how ethics is sometimes invoked in order to serve the cause of violence. But my own question has to do with, whether we can imagine what non-violent ethics might be. So for me the question in part has to do with whether there can be a form of ethics, which is livable, which does not do violence to its subject that might also be associated to the practice of non-violence.” /

Wenn ich über Ethik spreche, dann interessiert es mich, wie man sich auf sie berufen kann, um Gewalt zu rechtfertigen. Doch im Grunde möchte ich der Frage nachgehen, worin eine nicht-gewaltsame Ethik bestehen könnte. Diese Frage hängt mit einer weiteren zusammen: Kann es eine Ethik geben, die lebbar ist, die dem Subjekt keine Gewalt antut und die mit Gewaltlosigkeit verbunden ist."

Die amerikanische Philosophin Judith Butler tritt nicht nur in dieser Äußerung, sondern auch in mehreren Büchern für eine "nicht-gewaltsame Ethik" ein. Das ist zwar längst auch in Deutschland bekannt. Aber trotzdem warf ihr der Zentralrat der Juden in Deutschland "moralische Verderbtheit" vor, da sie vor einigen Jahren angeblich Hamas und Hisbollah als fortschrittliche Kräfte bezeichnet habe. Wohlgemerkt, terroristische Islamisten als Linke einzustufen, ist und bleibt eine grobe Dummheit. Und dennoch: Es fragt sich, ob die Ankläger auch nur eine Zeile von Butlers Schriften gelesen haben. Stellvertretend für viele sei nur die folgende angeführt:

""Ich glaube, dass die politische Opposition gegenüber Israel auch eine klare Ablehnung des Antisemitismus und, wohlgemerkt, der tödlichen Folgen von Selbstmordattentaten einschließen muss. Die Kritik an Israel sollte nicht von Leuten zum Schweigen gebracht werden, die behaupten, dass solche Kritik per definitionem antisemitisch sei oder dass sie eine fehlende Sensibilität für die Geschichte jüdischen Leidens offenbare. Primo Levi verstand das sehr gut, als er Israel nach den Massakern von Sabra und Shatila wegen seiner Unmenschlichkeit anprangerte.""

Die Äußerung entstammt nicht der gegenwärtigen Debatte, sondern einem Buch, dass Judith Butler 2002, kurz nach ihren Adorno-Vorlesungen am Frankfurter Institut für Sozialforschung hielt. Damals kam keine Kritik des Zentralrats der Juden auf. Auch nicht ein Jahr zuvor, als der jüdische Philosoph Jacques Derrida, der ebenso scharf die israelische Siedlungspolitik kritisierte, den Adorno-Preis erhielt.

Aber nun soll eine Frau und Lesbe den nach dem jüdischen Philosophen Theodor W. Adorno benannten Preis erhalten. Ist es Zufall, dass orthodoxe Juden ausgerechnet jetzt die Keule der "moralischen Verderbtheit" schwingen?

Die dem reformerischen Judentum anhängende Butler steht plötzlich als Nestbeschmutzerin und "bekennende Israel-Hasserin" da. Dabei hat sie sich immer auch mit den Positionen jüdischer Philosophen auseinandergesetzt, beispielsweise mit denen Adornos:

""For Adorno a great part of our social lifes is not willed by us, not fully made by us, they are received and they constitute us in unknowing way, wants us to see as subjects created in conditions. He wants us to see as subjects created in conditions by social and cultural forces, and we have to find our agency, we have to find our mode of becoming within the context of those resources” /

Adorno beschreibt, dass Teile unseres Lebens nicht von uns gewollt, nicht von uns gestaltet sind. Das Subjekt wird durch die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen geprägt, sein Denken und Verhalten dadurch konstituiert. Und dennoch wollte Adorno erreichen, dass wir innerhalb der gegebenen Möglichkeiten Wege der Subjektwerdung finden."

Judith Butler hat den deutschen Neomarxisten immer durch die Brille des französischen Philosophen Michel Foucault gelesen. Sie fragt nach den Potenzialen der Subjektwerdung, die wir den gesellschaftlichen Zwängen abtrotzen. Sie fragt nach der ethischen Dimension des Lebens:

""Ethics can be seen as innovation, ethics can be seen as improvisation, even as social experimentation. When I ask ‘What is a livable form of conduct?’ I am asking also about the cultural conditions, under which I can live. When I am asking ‘What kind of life is possible for me?’ – it is the I who puts the question." /

Ich verstehe Ethik als Erneuerung, als Improvisierung, ja sogar als soziales Experiment. Wenn ich frage ‚Welche Verhaltensweise ist lebenswert?’, dann muss ich auch die kulturellen Bedingungen berücksichtigen, unter denen ich lebe. Frage ich aber ‚Welches Leben ist für mich möglich?’, dann geht es um das Ich, das diese Frage stellt."

Stephan Kramer übersieht, dass Judith Butler der gesellschaftlichen Moral eine jüdische Verantwortungsethik gegenüberstellt. Mit dieser Ethik antwortete Butler damals auf den think tank der Bush-Regierung, der die Iraker lediglich als "Menschenmaterial" wahrnahm, als Wesen ohne menschliche Würde.

Unter dieser Bedingung konnte man in der Heimat die irakischen Opfer bestens zu unvermeidlichen Kollateralschäden bagatellisieren. Weil der Andere "derealisiert", also weniger lebendig erschien, fanden sich – so argumentierte Butler – die Gewaltexzesse amerikanischer Soldaten legitimiert. Dieser psychologischen Kriegsstrategie stellt Butler eine Ethik gegenüber, die das Ich nicht ohne das Du, nicht ohne den Anderen denkt. Eine Ethik, welche die Menschlichkeit an die Verletzbarkeit koppelt:

""There are very dehumanizing images that are told not only about iraqui people, but about islam itself, and these reductions of entire islamic representations are served to make entire populations less than human. It is very difficult in the U.S. to understand these as lives that have been lost, lives that can be grieved, lives that are worthy to be lived, lives that are worthy for recognition." /

Wir werden an entmenschlichende Bilder gewöhnt. Es sind Bilder nicht nur von der irakischen Bevölkerung, sondern vom gesamten Islam. Weil der Islam nur in absolut reduzierter Gestalt in den Medien vorkommt, erscheint die Bevölkerung kaum als menschlich. Den Amerikanern fällt es schwer, den Verlust eines Lebens zu sehen, eines Lebens, das betrauert werden kann, eines Lebens, das es wert ist, gelebt zu werden, eines Lebens, das nach Anerkennung verlangt."

Die im kalifornischen Berkeley lehrende Judith Butler hat nicht nur die Sozialphilosophie Adornos bereichert. Sie hat auch eine jüdische Ethik weiterentwickelt, die ihre französischen und deutschen Wurzeln keineswegs verleugnet. Auch das sollte Stephan Kramer wissen, der nach wie vor der Meinung ist, "die Professorin Judith Butler [habe] keinen Adorno-Preis verdient".