Wales

Whisky, Felsen und Gedichte

Das Geburtshaus von Dylan Thomas in Swansea, Wales
Das Geburtshaus von Dylan Thomas in Swansea, Wales © dpa / picture alliance / Barry Batchelor
Von Jens-Peter Marquardt · 04.08.2014
Der Dichter Dylan Thomas hat den Stoff für seine Werke in seiner walisischen Heimat gefunden. In diesem Jahr hätte er 100 Jahre alt werden können - wäre da nicht der Alkohol gewesen. Eine Spurensuche in der Hafenstadt Swansea.
Es ist ein steiler Anstieg vom unteren Teil Swanseas in die Uplands, wo sich die Reihenhäuser wie an Perlenschnüren aufgereiht am Hang entlang ziehen. Aus der Stadt kommend geht es rechts hinein in die Uplands Terrace und dann weiter steil bergauf in den Cwmdonkin Drive. In Nummer 5 öffnet Geoff Haden die grüne Holztür - und bringt im sogenannten Best Room, dem Wohnzimmer, erst einmal das alte Grammofon zum Klingen.
Hier hat alles begonnen. Hier zogen die Thomas' 1914 in das gerade frisch gebaute Haus, in dem die Farbe an den Wänden noch nicht trocken war. Und hier in Nummer 5 Cwmdonkin Drive in Swansea ist Dylan Thomas am 27. Oktober 1914 auf die Welt gekommen. Kaum jemand hat das interessiert, bis Geoff Haden kam. Er ist in der Nachbarschaft groß geworden, hat Nummer 5 Cwmdonkin Drive gekauft und ein Vermögen investiert, um es wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Das Haus sollte wieder so aussehen, als wären Herr und Frau Thomas gerade ausgegangen und würden jede Minute zurückkommen, sagt Haden:
"What we want to create is a home where Mr. and Mrs. Thomas have gone out for the day and so they might come back every minute now."
Dylan Thomas hat 23 Jahre seines Lebens in Nummer 5 Cwmdonkin Drive verbracht. Man müsse als Sherpa geboren sein, um in Swansea zu leben, hat er einmal über den steilen Anstieg zu seinem Geburtshaus gesagt. Zwei Drittel seiner Werke hat er hier geschrieben. Geoff Haden hat Dylans winziges Zimmer liebevoll hergerichtet, mit ungemachtem Bett, Kippen im Aschenbecher und einer Bierflasche auf dem Schreibtisch. Und einem Bild von Greta Garbo an der Wand. Dylan war ein großer Fan der Film-Diva.
Vorn aus dem Haus blickte Dylan Thomas in den Cwmdonkin Park mit den riesengroßen Steineichen und dem verwunschenen Wassergarten. Er hat den Park in seinem Gedicht "The hunchback in the park", der bucklige Parkwächter, beschrieben:
"The hunchback in the park
A solitary mister
Propped between trees and water…"
Aus dem seitlichen Fenster schweift der Blick über die Stadt, über die Swansea Bay bis zum Villenvorort Mumbles und zur Gower-Halbinsel. Dort, wo die Möwen vor den steilen Kliffs segeln und heute die Surfer vor den kilometerlangen Sandstränden auf die richtige Welle warten. Dylan Thomas hat es hier immer wieder hingezogen, nach Rhossili zum Beispiel, an die Südwestecke der Halbinsel, wo die steilen Felsen des Worm's Head nur bei Ebbe zu erreichen sind. Dylan hat einmal bei Regen und Sturm eine ganze Nacht auf dem kahlen Felsen verbracht, weil er eingedöst war und es nicht rechtzeitig vor der Flut an Land geschafft hatte.
"Dylan spricht von einer hässlichen, aber liebenswerten Stadt"
In einem seiner Briefe beschreibt Dylan, wie Schiffe über die Dächer fahren – genau das ist der Blick aus seinem Geburtshaus: Über den Dächern der darunter liegenden Häuser schließt sich die Bucht an, durch die die Schiffe in den Hafen von Swansea einlaufen.
"Dylan spricht von Swansea als einer hässlichen, aber liebenswerten Stadt. Ich denke, das ist der Eindruck, der den Blick aus diesem Zimmer beschreibt. Vor ihm der Blick auf den Villenvorort Mumbles, westlich davon die Gower-Halbinsel. Nach Osten hat er auf die industrielle Seite von Swansea und auf den Hafen geblickt. Und weiter hinein in das Swansea-Tal, das größte Industriegebiet des Landes, das später die größte Industriebrache des Landes geworden ist. Aber zu Dylan Thomas' Lebzeiten wurde da noch gearbeitet, da rauchten noch die Schlote – das war die hässliche Seite der Stadt, im Gegensatz zu dem Viertel, in dem er wohnte."
Swansea ist auch heute keine wirklich schöne Stadt. Deutsche Bomber haben im Februar 1941 innerhalb von drei Nächten den Hafen, die Industrieanlagen und die Innenstadt in Schutt und Asche gelegt. Dylan schrieb anschließend: "Unser Swansea ist tot." Von den Wunden der Bombenangriffe hat sich die Stadt immer noch nicht erholt. Aus den Ruinen sind die Bausünden der Nachkriegszeit geworden: seelenlose Einkaufspassagen aus Beton, schlichten Ladenzeilen, in denen viele Geschäfte heute leer stehen. Erst seit einigen Jahren bekommt die Stadt langsam ein neues Gesicht. In den Docklands sind Yachthäfen entstanden, dazwischen, auf den Kais, sind schöne Wohnungen hoch gezogen worden, mit Cafés und Plätzen zum Klönen. Swansea versucht sich heute, als Kulturstadt zu profilieren, nachdem die Kupferhütten, die einst das wirtschaftliche Herz der Stadt waren, längst geschlossen sind.
Dylan Thomas hat die Zerstörung der Stadt durch die Luftwaffe noch erlebt, das neue Gesicht hat er nicht mehr kennengelernt. Er kehrte immer wieder nach Swansea zurück, auch als er längst Anschluss an die Londoner Literaten-Szene gefunden hatte. Schreiben konnte er nur in Wales, vor allem in seinem winzigen Zimmer in Nummer 5 Cwmdonkin Drive.
"Es gibt das walisische Wort 'Cwtch', das meint 'sicherer Ort', aber es ist noch mehr als das. Es ist ein Ort, wo die Liebe ist, wo du beschützt wirst. Wenn zum Beispiel ein Kind hinfällt, dann gibt die Mutter ihm einen 'Cwtch'. Also, ein sicherer Ort, den er liebt und wo er geliebt wird – das war dieses Haus für Dylan Thomas."
Seit 2001 gibt es am Hafen in Swansea das Dylan Thomas Center. Hier gedenkt die Stadt ihres berühmtesten Dichters, mit vielen Erinnerungsstücken und Erklärungen über seine Kindheit und sein Leben in Wales.
Sir John's Hill am Südufer der Mündung des Taf hat Dylan Thomas immer wieder inspiriert. Auch als er in Laugharne sein berühmtestes Werk schrieb: "Under Milk Wood", das Hörspiel "Unter dem Milchwald".
Die Stadt als Inspirationsquelle
War Sir John's Hill, auf dem jetzt oben Bobs Pferde stehen, der Milchwald? Professor Goodby zögert. Den Milchwald habe es eigentlich nur in Dylans Kopf gegeben, er sei das Symbol für die Nacht, für die Gefühle der Nacht gewesen, aber:
"Sir John's Hill ist eines der Modelle für den Milchwald gewesen, ja, ich denke, das ist der Milchwald, mehr oder weniger."
"Under Milkwood", "Unter dem Milchwald", ist ein gigantisches Spiel für Stimmen. Es spielt in dem fiktiven Ort "Chlaregibb", geschrieben Llareggub, umgekehrt gelesen "Bugger all" - das ist Slang und heißt: Scheiß drauf. Das Stück beschreibt den Klatsch und Tratsch der Menschen in Llareggub, ihre Sorgen und Nöte, ihre Wünsche und Träume, ihr Familienleben und ihre Seitensprünge in einer einzigen Frühlingsnacht.
Bei der Uraufführung von "Under Milk Wood" in New York stand Dylan Thomas noch selbst mit auf der Bühne. Als die BBC 1954 die erste Radiofassung produzierte, lebte er schon nicht mehr. Sein walisischer Landsmann Richard Burton übernahm den Part.
Die Bewohner von Laugharne sind die Hauptdarsteller, als das Nationaltheater von Wales in diesem Jahr die Szenen von Under Milk Wood in ihrem Ort nachstellt. Im Biergarten von Brown's Hotel auf halber Höhe zwischen der Burgruine und dem Friedhof sitzt die traurige Putzfrau Polly Garter und singt aus Under Milk Wood das Lied über ihre zahlreichen Männer.
In Wales wird so viel gesungen wie in kaum einem Land, und auch getrunken.
Dylan Thomas war Stammgast in Brown's Hotel. Das Hotel, eigentlich mehr Pub als Hotel, liegt an der engen Durchgangsstraße von Laugharne. Es war ziemlich heruntergekommen, ein paar Jahre auch geschlossen, dann hat es ein Millionär aus der Gegend, der sein Geld mit Stahl gemacht hat und heute Whiskey destilliert, vor zwei Jahren wiedereröffnet.
Jon Tregenna ist jetzt der Kneipenwirt, er hat früher mal VWs verkauft und dann einen Roman veröffentlicht mit dem Titel "Niemand ist aufgewachsen, um Autos verkaufen zu wollen". Jon ist auch Co-Autor der Szenen, die das Nationaltheater mit den Bewohnern von Laugharne aufführt. Jon ist zu jung, um Dylan Thomas in Brown's Hotel noch erlebt zu haben. Aber er kennt natürlich die alten Geschichten. 1938 kam der Dichter als 19-Järiger erstmals in den Pub:
Dylan Thomas würde sich heute über den Flachbildschirm an der Wand wundern, auf dem am Wochenende die Spiele der Premier League und der Rugby League übertragen werden – Fernsehen gab es zu Dylans Zeiten noch nicht. Aber er würde seine alte Stammkneipe wohl trotzdem wieder erkennen: den kleinen Tresen mit den drei langen Messing-Hähnen, mit den schwarzen Holzgriffen, die das schlabbrige, lauwarme Ale zapfen. Und den schönen Erker-Tisch am Fenster, von dem aus der Dichter sowohl die Menschen im Pub als auch die auf der Straße beobachtet und ihre Geschichten notiert hat.
"Laugharne ist aus drei Gründen anders als jeder andere Ort. Erstens hat es hier nie eine industrielle Revolution und zweitens nie eine Bahnverbindung gegeben. Und drittens gab es in Laugharne auch nie Touristen. Deshalb haben die Leute hier ihre eigenen Leben zu Dramen gemacht. Irgendein kleiner Zwischenfall am Morgen wurde am Abend zu einer dicken Story."
"Dylan Thomas hat einmal gesagt, er liebe Laugharne deswegen, weil er hier kolossalen Lügnern zuhören könne. Er mochte diesen Sinn für Theater und Geschichtenerzählen, diese schiere Lebensfreude. Wenn er noch leben würde, jetzt mit 99, dann würde er sich zu den Jungs an die Bar setzen, und er könnte 'Under Milk Wood' Teil 2 schreiben. Laugharne hat sich nicht verändert."
Museum im ehemaligen Bootshaus
Dylan und seine Frau Caitlin lebten mit ihren drei Kindern im Bootshaus. Gelegentlich schwappte die Flut in den Vorgarten, dann hatten die Kinder ihren eigenen Swimmingpool.
Das Bootshaus ist heute ein kleines Museum, liebevoll hergerichtet wie zu Dylans Zeiten. Maggie James führt die Fans, die aus aller Welt hierher reisen, durch das Haus. Auch Prinz Charles und seine Frau Camilla waren neulich hier.
Im Untergeschoss befindet sich jetzt eine kleine Teestube. Zum Cream Tea gibt's hier ofenfrische Welsh Cakes und Bara Brith, ein wunderbar saftiges, dunkles Früchtebrot.
Der Name Dylan stammt aus der walisischen Mythologie. Dylan – das war der walisische Meeresgott, der Sohn der Wellen. Dylan Thomas gilt heute als der walisische Dichter, der Reimeschmied der walisischen Volksseele. Dabei hat er nie eine Zeile auf Walisisch verfasst. Er konnte überhaupt kein Walisisch, er hat all seine Werke auf Englisch geschrieben.
"Als Dylan Thomas zur Schule ging, wurde Walisisch in der Schule nicht gefördert. Im Gegenteil: Die Lehrer haben verhindert, dass die Kinder Walisisch miteinander sprachen. Englisch war die wichtigere Sprache und wurde damals als die Sprache der Zukunft angesehen. Aber: Dylans Mutter sprach Walisisch, er hat bei seinen Verwandten auf dem Land Walisisch gehört. Er hat den Sprachstil in seinen Werken aufgenommen. Sie können das Walisische im Rhythmus seiner Werke hören. In seinen Wortfindungen. Auch das Spielerische und die Freude an der Sprache – das ist sehr walisisch."
Nach seinem Tod ist Dylan Thomas nach Laugharne zurückgekehrt. Caitlin hat den Sarg mit dem Linienschiff von New York überführt, die Matrosen haben während der Überfahrt auf dem Sargdeckel Karten gespielt. Zu Grabe getragen wurde der Dichter dann auf dem Friedhof der St. Martin's Church in Laugharne: Auf allen Gräbern dort stehen wuchtige Grabsteine, nur auf seinem Grab steht ein bescheidenes kleines, weißes Holzkreuz.
Hinter Dylans Sarg zog damals, 1953, ein langer Tross von Freunden, Bekannten und Künstlerkollegen die Straße zum Friedhof hinauf, auch die Kardomah-Gang war mit dabei.
Es sind die heutigen Einwohner von Laugharne, die diesen Trauerzug für das Nationaltheater von Wales noch einmal nachstellen. So seltsam sie diesen Menschen zu seinen Lebzeiten fanden, so wertvoll ist er für sie heute. Die Erinnerung an ihn zieht Touristen an, füllt die Pubs und die Frühstückspensionen. Erstmals in der Geschichte ist der kleine Ort an der Mündung des Taf bedeutend geworden, auch wenn es dort immer noch keinen Bahnhof gibt.
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