Wahn und Amok

Lothar Adler im Gespräch mit Christine Watty · 04.09.2013
Er war kein Schüler, es gab keine Botschaften im Netz und auch keine politischen Hintergründe: Trotzdem erschütterte der Lehrer Ernst August Wagner vor 100 Jahren Deutschland mit einem schrecklichen Amoklauf und vielen Toten. Der Psychiater Lothar Adler sucht nach Gründen.
Christine Watty: Es war kein Schüler, es gab keine Botschaften im Internet, keine politischen Hintergründe, als am 4. September 1913, vor 100 Jahren also, der Hauptlehrer Ernst-August Wagner auszog und die Menschen mit seiner Tat erschütterte: einem Amoklauf mit groß angelegtem Plan dahinter.

Der Fall Wagner gilt bis heute als der am besten untersuchte Fall eines Amoklaufes. Welche Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten, und was genau macht eigentlich diesen Fall so besonders? Das fragen wir gleich den Psychiater Lothar Adler. Zunächst aber ein Rückblick auf die Ereignisse vom 4. September 1913.

Beitrag

Watty: Das war Wolf Reiser über den Amoklauf Ernst Wagners vom 4.9.1913. Lothar Adler ist Psychiater und außerdem Direktor der Ökumenischen Heinich-Klinik in Mülhausen. Guten Morgen, Herr Adler!

Lothar Adler: Guten Morgen, Frau Watty!

Watty: Mit dem Fall Wagner hat man begonnen, auf den Täter zu schauen, zu ergründen, was ihn, wie in diesem Fall, zu einem Amoklauf angetrieben haben könnte. Wagner hatte sein Päckchen zu tragen, das fand man damals heraus.

Es gab eine alkoholkranke Mutter, eine unglückliche Ehe, ein misslungenes Arbeitsleben und noch weitere nicht ganz so einfache Lebensumstände. Alles nicht einfach, nicht leicht für Ernst-August Wagner, aber, lapidar gesagt, doch noch kein Grund, Amok zu laufen.

"Es bestand sicher eine erhebliche Belastung"
Adler: Das hat unterstützende Wirkung sicher gehabt, aber da hat sich natürlich bei Wagner eine sogenannte Wahnerkrankung eingestellt. Er glaubte ganz unverrückbar daran, dass die Bewohner des Ortes, die er dann angegriffen hat, Mülhausen-Enz, davon wüssten, dass er eine sodomitische Handlung begangen hat, also eine sexuelle Handlung an einem Tier.

Und er war der Meinung, dass die Bewohner hinter seinem Rücken etwas tuschelten. Wagner hat ja überlebt und konnte dann in weiteren langen Jahren beobachtet werden, entwickelte dann einen weiteren, anderen Wahn, nämlich dass Franz Werfel seine Werke plagiiert hätte. Also es bestand sicher eine erhebliche Belastung, aber eben auch eine eigenständige psychiatrische, schwere Erkrankung.

Watty: Wieso wurde Wagner eigentlich zum Präzedenzfall, der die Experten dazu gebracht hat, sich mal den Täter genau anzuschauen, statt schlicht die Taten zu verurteilen?

Adler: So schrecklich und grauenvoll das alles ist, was Wagner getan hat – in der Regel ist es so, dass solche Täter sterben. Und Wagner hat überlebt. Er ist dann begutachtet worden, und es ist eben bei ihm diese psychische Erkrankung festgestellt worden, er kam in eine forensische Klinik und war danach bis zu seinem Tode 1938 in ständiger Beobachtung von einem damals führenden Psychiater, Herrn Gaub, und der hat ihn unentwegt beobachtet und hat auch immer wieder publiziert.

Watty: Gab es Erkenntnisse aus dem Fall Wagner über diesen Täter, die man ziehen konnte und die man bis heute auch in der Betrachtung von Amoklauftätern anwenden kann?

Adler: Ja, durchaus. Also, das sind sensitive, also sehr empfindliche Persönlichkeiten, die in einem großen Umfang einen starken Gerechtigkeitssinn haben einerseits, andererseits eben durch ihre Empfindlichkeit ständig verletzt werden, und die schlecht vergessen können.

Also wenn man so will, in deren Reserve, in deren Erleben häuft sich in ihrem Leben so viel an und sie werden es nicht los, dass es sich immer mehr aufstaut und sie quasi voller Hass erfüllten Menschen werden, der gar keinen anderen Ausweg mehr sieht und dann explodiert.

Watty: Es gab also Wagner, den Beginn der Täterforschung damit. Was geschah eigentlich danach? Hat man diesen Bereich kontinuierlich weiter ausgebaut? Denn es war ja umstritten, ob es eigentlich eine gute Sache sei, wirklich auf die Motive des Täters zu gucken und sich nicht vornehmlich um die Opfer zu kümmern.

Adler: Das ist völlig richtig, was Sie sagen. Also das ist ja etwas, was man der Kriminologie lange Jahre und immer wieder vorgeworfen hat, also dass der Blick auf den Täter im Vordergrund steht. Das hat natürlich mit den ganzen juristischen Prozessen zu tun, aber die Opfer eigentlich dann nur noch zu Gericht geladen werden, um auszusagen, was sie ja oft traumatisiert.

"Wir können ja vorher nicht mit den Tätern sprechen"
Grundsätzlich war es so, weil Amokläufe so selten sind, gab es eine unendliche kasuistische Literatur. Und wir haben erstmals in den 80er-Jahren angefangen, überhaupt systematisch epidemiologisch Amok zu untersuchen. Und diese ganzen vielen Fälle - jeder Einzelfall ist anders - dann mal zu relativieren. Was ist zufällig, und was ist tatsächlich regelmäßig und häufig. Diese kasuistische, also fallbezogene Forschung führte dann zu den wildesten Ergebnissen. Also Amokläufer sind Fetischisten, Amokläufer sind Computerspieler, Amokläufer machen dieses, Amokläufer sind in der Schule geschädigte Menschen – alles einseitige, punktuell wahre Geschichten, ja, und sicher belastende Dinge, aber nichts, was ungewöhnlich wäre.

Watty: Der Psychiater Lothar Adler im Gespräch im Radiofeuilleton im Deutschlandradio Kultur. Wir wissen, Wagner, an den wir heute erinnern, der vor hundert Jahren einen Amoklauf in Deutschland begangen hat, der litt unter Verfolgungswahn, Sie haben es ausgeführt. Andere Beispiele zeigen, dass Täter nach dem Amoklauf nicht mehr wissen, wie das passieren konnte.

Die Columbine-Täter wiederum, die schienen sehr darauf bedacht zu sein, mitzuteilen, so stand es in ihren Tagebüchern, dass die Schuld ihnen gehört, dass sie sehr wohl wissen, was sie da tun. Was bedeutet das? Dass man nicht unbedingt eine psychische Erkrankung dem zugrunde legen kann oder einen solchen Ausnahmezustand?

Adler: Wir können ja vorher nicht mit den Tätern sprechen und sie untersuchen, weil sie planen einen Amok zu machen. Also man kann ja immer nur im Nachhinein wissen, was sie von sich gegeben haben. Grundsätzlich gilt, Jugendliche sind kommunikativer, sprechen darüber. Also gehen ins Internet, kommunizieren. Ganz viele Jugendliche kommunizieren im Internet Phantasien, Gewalt. Das gibt es auch bei Erwachsenen.

Psychisch kranke Menschen, die kommen in Behandlung und sagen, ich hab solche Gewaltphantasien. Zunächst mal muss man sagen, wir wissen die letzten Gründe nicht, weil die Täter über sich nicht Auskunft geben können, oder, und das findet sich aber auch nicht so furchtbar häufig, dann solche psychischen Mechanismen wie Verdrängung, Verleugnung da sind. David Byrne, einer der schrecklichsten Amokläufer, fast 50 Menschen getötet.

Bin ich mit dem Fernsehen dagewesen in Australien, durften wir nicht sprechen, aber sie gaben uns ein Band, der ist unmittelbar danach untersucht worden, also von der Polizei vernommen worden, und da konnte man sehen, wie ihm die Schusswaffe, die er unter anderem gebraucht hat, vorgezeigt wurde, und er hat die nicht erkannt. Also das ist, wenn Sie so wollen, so etwas wie eine psychische Sperre.

Aber das bedingt ja nicht das Vortatverhalten. Also in der Planung sind die präzise, auch Wagner. Wagner hat über Jahre in einem Steinbruch geschossen. Also der hat sich vorbereitet, wäre ein Waffennarr gewesen. Und von diesem Wahn hat er niemandem erzählt. Das ist erst nachher rausgekommen.

Watty: Sie sagen, man weiß es erst hinterher. Gibt es trotzdem irgendeine Art der Identifikationsmöglichkeit eines Risikos eines Amoklaufes?

"In massiven seelischen Schwierigkeit"
Adler: Ja, grundsätzlich natürlich. Bei Jugendlichen ist es relativ einfach, es gibt kein Profiling. Also bestimmte Eigenschaften machen, dass jemand das tut. Nicht, es sind kontaktgestörte Jugendliche oder sie haben Schwierigkeit mit Freundinnen, haben Probleme mit der Leistung, haben Probleme mit den Eltern oder mit den Peers. Aber wie viele Jugendliche haben das denn? In einer Welt gibt es bisher 150 Amokläufe von Jugendlichen. Diese sogenannten Schul-Shooter.

Verstehen Sie, 150, da müsste man Millionen von Jugendlichen quasi markieren, weil man 150 fassen will, das funktioniert nicht. Aber was gut funktioniert, ist, und das wird auch bei Erwachsenen besser funktionieren können, ist, Jugendliche kommunizieren stärker, die reden miteinander, die gehen ins Internet und äußern sich oder sie sagen anderen Schülern, hier, ich hab ‘ne Knarre, guck mal, oder irgend solche Dinge.

Und dass man dann aufmerksam ist, dass man dem nachgeht. Und das gibt es jetzt inzwischen auch kommissionsmäßig, also dass man solche Fälle bezüglich des Risikos eingeschätzt werden. Also nicht ein Profiling – der wird es machen –, sondern eine Risikoeinschätzung. Und bei solchen Risikoeinschätzungen kommt oft heraus, dass es Jugendliche sind, die keinen ernsthaften Amok machen würden, aber eben in massiven seelischen Schwierigkeiten sind und die Hilfe brauchen.

Watty: Dankeschön an Lothar Adler, Psychiater und außerdem Direktor der Ökumenischen Heinich-Klink in Mülhausen zu Forschungen im Zusammenhang mit Amokläufern. Heute vor 100 Jahren beging Ernst-August Wagner in der Nähe von Stuttgart einen schrecklichen Amoklauf.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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