Wahlen in Libyen "überwältigendes Zeichen für den neuen Start"

Hansjoerg Strohmeyer im Gespräch mit Marietta Schwarz · 12.07.2012
Den Menschen in Libyen seien soziale und wirtschaftliche Fragen am wichtigsten, sagte UN-Sonderberater Hansjoerg Strohmeyer zur Lage nach den Parlamentswahlen. Dass auch die dominierenden liberalen Kräfte die Scharia anerkennen, sei für ein islamisches Land üblich und sollte nicht überbewertet werden, so Strohmeyer.
Marietta Schwarz: "Only bad news are good news", und tatsächlich sah es auch erst mal so aus, als ob es nach den Wahlen in Libyen nur "bad news" geben würde: Das Land steht nach dem Sturz Gaddafis im Herbst vor großen Herausforderungen, es braucht eine Verfassung, es muss entwaffnet werden, es müssen staatliche Strukturen geschaffen werden, die es bislang gar nicht gab, und es gibt wie in den anderen arabischen Ländern des Umbruchs auch in Libyen Strömungen, die einen islamischen Staat aufbauen möchten.

Doch bei den Wahlen am Wochenende – den ersten freien Wahlen nach 40 Jahren – hat das libysche Volk den Liberalen die meisten Stimmen gegeben, angeführt vom Chef des früheren Übergangsrates Mahmud Dschibril. Ein Sieg der gemäßigten Kräfte auf lange Sicht? Fragen dazu an Hansjoerg Strohmeyer, Sonderberater der Vereinten Nationen in Libyen, guten Morgen nach Tripolis!

Hansjoerg Strohmeyer: Schönen guten Morgen, Frau Schwarz!

Schwarz: Herr Strohmeyer, es gibt ja noch keine offiziellen Wahlergebnisse – zumindest sind sie hier noch nicht angekommen –, aber Sie sind vermutlich wie viele andere auch hoffnungsfroh.

Strohmeyer: Ja, wir sind hoffnungsfroh, zumal die Wahlen ein großes Zeichen für die Demokratie und den Willen der Leute zu Wahlen gewesen sind. Das war ein überwältigendes Zeichen für den neuen Start.

Schwarz: Dennoch scheint doch auch Skepsis angebracht: Mahmud Dschibril, der die Allianz der Nationalen Kräfte anführt, so nennt sie sich ja – er nennt sich zwar liberal, aber er hat sich immerhin auch für die Scharia ausgesprochen.

Strohmeyer: Das mit der Scharia wird häufig überbewertet. Also zuerst mal muss man sagen, dass es ein islamisches Land ist und die Scharia Teil der islamischen – nicht nur Gesetzgebung, aber der Lebensform, aber das wird im Westen zu sehr reduziert auf Scharia. Und Scharia heißt auch nicht eine enge Auslegung des Rechtswesens. Die Scharia ist eine der Quellen - wie auch in Tunesien, wie auch in Ägypten oder anderen Ländern - des Rechtswesens. Aber das heißt nicht, dass jedes Gesetz, das muss man sich nicht so vorstellen, dass jedes Gesetz daraufhin überprüft wird, ob es mit der Scharia übereinstimmt.

Das ist also hier eine ganz normale Gesetzgebung, ein ganz normales Gesetzgebungsverfahren, und man darf das auf gar keinen Fall auf Scharia und Islamismus reduzieren. Es kann sich kein Politiker in Libyen erlauben, sich sozusagen vom Islam zu verabschieden.

Schwarz: Wofür steht denn die Allianz der Nationalen Kräfte, die jetzt die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen kann? Was will sie?

Strohmeyer: Ich glaube, es geht den meisten Libyern, ob das Dschibril und die liberale Allianz ist, aber auch die moderaten Muslimbrüder, das muss man ganz klar sagen, hier gibt es jetzt nicht so eine Muslimbruderschaft wie in Ägypten oder woanders es gibt. Insgesamt ist das libysche Volk, ob im Osten, ob im Westen, sehr moderat und will eigentlich die Forderungen, die der Revolution unterlagen, durchgesetzt sehen, dass eine zunächst mal natürlich Stabilität und ein demokratischer Übergang stattfindet, was eine große Herausforderung ist, weil Gaddafi einfach ein fast staatsloses Staatswesen hier verwaltet hatte, also Verwaltungsaufbau, Staatsaufbau, Nationenaufbau.

Aber das, was den Libyern am wichtigsten ist, sind eigentlich soziale und wirtschaftliche Dinge. Es gibt eine riesengroße Jugendarbeitslosigkeit – weit über 30 Prozent. Es gibt viele junge Leute, die nicht heiraten können, weil ihnen keine Wohnungen zur Verfügung stehen. Man will am Wirtschaftsleben teilnehmen, man will Ausbildung wahrnehmen – das sind unmittelbare Probleme, die auch die Regierung unter Dschibril bewältigen muss.

Wobei ich vielleicht sagen möchte, dass die Wahlen tatsächlich noch nicht ausgezählt sind. Und so, wie es im Moment aussieht, hat natürlich eine sehr weite Allianz aus über 50 verschiedenen Gruppen unter Dschibril eine Mehrheit gewonnen. Aber das Wahlsystem in Libyen ist so, dass es auch 120 unter den 220 Einzelkandidaten gibt, und die werden sehr stark danach abstimmen im neuen Nationalkongress, wie ihre regionalen und lokalen Realitäten und die Forderung der Bevölkerung dort sind.

Schwarz: Eine der großen Aufgaben ist ja auch die Schaffung einer neuen Verfassung. Welchen Einfluss hat denn da jetzt das Wahlergebnis, wie es sich abzeichnet? Das jetzt gewählte Parlament ist ja nicht die Verfassungsgebende Versammlung.

Strohmeyer: Das ist noch nicht ganz geklärt. Es gibt also gerade wegen der Unruhen, die es im Osten gibt, es gibt noch eine große Herausforderung im Osten, die sich eigentlich als die Wiege der Revolution sehen und auch die Marginalisierung der letzten 40 Jahre beiseitegeschoben sehen wollen. Sie wollen eine stärkere Mitsprache haben, wie es ganz am Anfang des libyschen Staatswesens in den 50er-Jahren der Fall gewesen ist. Und deswegen fordern sie, dass eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt wird und neu einberufen wird.

Auf der anderen Seite kann man sich schwer vorstellen, dass ein Nationalkongress, der gerade gewählt worden ist, durch große Wahlen, mit 200 Leuten, die schon sehr repräsentativ sind, sich total daraus verabschieden lassen wird, an der Verfassung mitmachen zu wollen. Das heißt, das ist eine der Fragen, die jetzt in den nächsten Wochen geklärt werden muss. Es könnte also sein, dass es da durchaus noch mal Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung geben würde, auf der anderen Seite kann es auch sein, dass der Nationalkongress sich dazu entscheidet, eine Verfassungsgebende Versammlung zu bestimmen. Das ist halt so eine dieser größeren Fragen.

Aber zweifelsohne, der Aufbau und die Verabschiedung der Verfassung ist eine der größten Herausforderungen dieser nächsten zehn Monate. Es geht wirklich darum, einen neuen Gesellschaftsvertrag fast für Libyen abzuschließen, die Demokratie wirklich fest zu verankern, zu entscheiden, ob man ein parlamentarisches oder ein Präsidialsystem wählt, wie der Ausgleich zwischen Zentralstaat, der eben wichtig ist auf der einen Seite, um Libyen zusammenzuhalten, aber auch regionale Interessen, die Marginalisierung, die wirtschaftliche Marginalisierung, die ich vorher angesprochen habe, auszugleichen. Das sind große Fragen, die in der Verfassung jetzt bevorstehen.

Schwarz: Herr Strohmeyer, ein anderes großes Problem ist ja auch die Sicherheitslage im Land beziehungsweise die Bewaffnung. Es scheint so zu sein, dass quasi jeder Libyer in seinem Keller eine oder mehrere Kalaschnikows versteckt hat. Wie wird man die denn los?

Strohmeyer: Schnell auf keinen Fall. Das Problem der Waffen ist ein großes Problem, es ist aber zunächst ein politisches Problem. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass hier also wilde Gangs oder Brigaden jeden Tag in Libyen rumlaufen und Unwesen treiben. Es gibt da schon, wie es auch der Wahltag gezeigt hat, eine gewisse Disziplin. Und das heißt, das ist zunächst mal ein Problem des politischen Managements.

Man muss eine Perspektive entwickeln für die Leute, entweder Teil der Polizei oder der Militär-, der Armeereserve zu werden, aber die überwiegende Zahl der waffentragenden vor allen Dingen jungen Leute will eigentlich ins Privatleben, will einen Beruf ausüben, will eine bessere Ausbildung haben, und keinesfalls seine Zukunft in einer Brigade oder im Sicherheitsapparat sehen. Das heißt, man muss wirklich da auch von Deutschland aus vielleicht versuchen, Jugendarbeitslosigkeit zu adressieren und Wirtschaftsmöglichkeiten für die jungen Leute zu erstellen.

Schwarz: Hansjoerg Strohmeyer, Sonderberater der Vereinten Nationen in Libyen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Strohmeyer: Danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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