Wahl in Tunesien

"Alles dreht sich um die Frau"

Tunesierinnen demonstrieren am internationalen Frauentag 2014 in Tunis für mehr Rechte
"Sehr aktiv" im Arabischen Frühling und danach : die tunesischen Frauen © dpa/ picture alliance / Mohamed Messara
Soraya Fersi im Gespräch mit Julius Stucke · 25.10.2014
Am Sonntag wählt Tunesien ein neues Parlament. Dabei spiele die Frage nach der Stellung der Frau eine entscheidende Rolle, sagt die Übersetzerin und Frauenrechtlerin Soraya Fersi.
Julius Stucke: Von Frühlingsluft kann keine Rede sein in vielen Ländern des sogenannten Arabischen Frühlings: Machtkämpfe in Libyen, Militärregierung in Ägypten, Krieg in Syrien. Verglichen damit ist es ein Lichtblick, dass im Mutterland dieser Entwicklungen, in Tunesien, morgen frei ein Parlament gewählt wird.
Aber so hell strahlt dieser Lichtblick dann doch nicht: Die Begeisterung für die Wahl hält sich bei vielen Tunesiern in Grenzen. Viele werden gar nicht wählen gehen, denn an der Situation vor allem der ärmeren Menschen, der Hoffnungslosen, die den Protest ja auf die Straße getragen haben, an ihrer Situation hat sich wenig geändert.
Wir wollen hier im „Studio 9" die Wahl zum Anlass nehmen, über die Rolle der Frauen in Tunesien und ihren Anteil am Veränderungsprozess der tunesischen Gesellschaft zu sprechen, und wir tun das mit Soraya Fersi, sie lebt in Tunis, arbeitet dort als Übersetzerin, ist Gründungsmitglied der Frauenrechtsorganisation „Egalité & Parité", und bei der Wahl morgen ist sie als Wahlbeobachterin im Einsatz. Guten Morgen, Frau Fersi!
Soraya Fersi: Ja, guten Morgen!
Zwei verschiedene Konzepte von der Position der Frau in der Gesellschaft
Stucke: Wie groß ist denn die Bedeutung der Frauen gerade in der tunesischen Politik?
Fersi: Ja, eigentlich dreht sich im Moment alles um die Frau, das heißt, weil wir haben ja hier im Moment zwei verschiedene Gesellschaftsprojekte, das heißt, auf der einen Seite haben wir eine sehr starke Partei, also die konservativ-islamische Partei, die Ennahda-Partei, die natürlich eine ganz andere Auffassung von der Gesellschaft und von der Rolle der Frau hat, und auf der anderen Seite sehr viele kleine Parteien, aber auch jetzt neuerdings einen größeren Zusammenschluss von Parteien, also diese Nidaa Tounes.
Und das Problem ist halt, dass jeder die Frau so ein bisschen hinstellt als ... Also eigentlich ist die Frau und die Rechte der Frauen sind eigentlich jetzt im Zentrum.
Stucke: Aber nicht im positiven Sinne, sondern das wird sozusagen so ein bisschen nach vorne gestellt?
Fersi: Genau. Das ist so ein bisschen eine Instrumentalisierung, und das ist natürlich gefährlich, das heißt, weil da geht man natürlich an verschiedenen anderen Dingen vorbei, und eigentlich ... weil die Frau, die Frauenrechte, die wurden ja schon früher, in der früheren Zeit schon instrumentalisiert, und ich habe so das Gefühl, dass das im Moment so ein bisschen weitergemacht wird.
Und das ist natürlich sehr schade, zumal wir als Frauen sehr, sehr, sehr stark beteiligt waren, sowohl an diesem, was man halt den Arabischen Frühling nennt, als auch später bei der ...
Relativ fortschrittliche Verfassung
Stucke: Bei der Verfassungsgebung...
Fersi: ... genau, bei der Verfassung. Also wir hatten da einen sehr, sehr starken Dialog. Frauen haben natürlich an sehr, sehr, sehr vielen Demonstrationen teilgenommen und haben sich eingesetzt natürlich für die grundlegenden Rechte, also nicht nur die Rechte der Frauen, sondern überhaupt.
Stucke: Ja, die sind ja auch gut, die sind ja auch in der tunesischen Verfassung festgeschrieben, die als relativ fortschrittlich gilt, wo von Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen die Rede ist. Aber trotzdem ist es so, dass viele Parteien auf die erfolgreichen oder aussichtsreichen Listenplätze dann eben doch Männer setzen. Werden die Frauen am Ende bei der Wahl dann übergangen?
Fersi: Ja. Aber dieses Mal, ob jetzt die Parteien das wollen oder nicht, wird es trotzdem so sein, also ich vermute, dass wir trotzdem mehr Frauen im Parlament haben werden als in der verfassungsgebenden Versammlung. Warum? Nicht, weil jetzt die Männer oder, sagen wir mal, die Politiker eine andere Sicht hatten, nein, ganz im Gegenteil.
Die beiden großen Parteien bringen automatisch mehr Frauen ins Parlament
Aber dieses Mal haben wir zwei große Parteien. Das heißt, das letzte Mal hatten wir eine große Partei, und das ist ja so: Auf den Listen ist es ja abwechselnd eine Frau und ein Mann und so weiter. Wir wollten natürlich auch Frauen an der Spitze der Liste haben, weil das ja öfter so ist, dass nur die Spitze reinkommt, also für mehr reicht es nicht.
Letztes Mal hatten wir ja eine große Partei, das war die Ennahda-Partei, und die hat natürlich dann mehrere Frauen in die verfassungsgebende Versammlung reingebracht dadurch, dass die halt bis zur vierten und fünften Stelle gekommen sind, und da waren natürlich Frauen dabei. Und bei dem letzten Mal war das ja so, da waren ja die anderen Parteien alle kleine Parteien und da kam natürlich nur einer rein, und da waren das natürlich nur die Männer.
Stucke: Nur die Spitzenkandidaten, ja.
Fersi: Genau. Und dieses Mal haben wir ja zwei große Parteien, und da kann es schon sein, dass dann trotzdem Frauen reinkommen.
Stucke: Glauben Sie denn, dass dann in Zukunft die Frauen mehr sind als das, Sie haben es ja ein bisschen beschrieben, wie schmückendes Beiwerk, was man instrumentalisiert? Wird sich das bessern?
Fersi: Auf jeden Fall, auf jeden Fall. Wir haben ja schon gemerkt, dass bei der verfassungsgebenden Versammlung schon die Frauen, die da waren, es waren nicht viele da, aber die Frauen, die da waren waren wirklich sehr, sehr, sehr aktiv und haben wirklich nicht geschmückt. Das heißt, wenn man das jetzt so ein bisschen global sieht, wenn ich jetzt davon absehe, dass das halt Frauen sind, die einer, sagen wir mal, konservativ-islamischen Partei angehören, habe ich trotzdem festgestellt, dass diese Frauen eigentlich sehr viel gelernt haben und sich verbessert haben.
Also man kann ... weil hier in der Debatte ist es immer so, wenn man jetzt sagt, warum sind sie nicht an der Spitze, die Frauen, dann sagen sie: Ja, das ist eine Sache der Kompetenz. Es tut mir leid – also bei den Männern habe ich auch keine Kompetenz festgestellt. Wir waren alle da und haben gelernt. Warum kommt dann die Frage der Kompetenz erst, warum wird es aufgetischt, wenn es sich um eine Frau handelt? Das ist ja wohl nicht normal.
Tunesien "etwas gemäßigter" als die anderen Länder des Arabischen Frühlings
Stucke: Würden Sie denn so weit gehen, zu sagen: Weil Frauen im ganzen Umbruchprozess, im Revolutionsprozess in Tunesien eine starke Rolle gespielt haben, ist es, wenn es jetzt auch nicht gerade alles hoffnungsfroh und rosig ist, so doch deutlich besser abgelaufen als in anderen Ländern des Arabischen Frühlings?
Fersi: Genau, genau. Das heißt, wir waren auf den Straßen, wir waren sehr, sehr aktiv, aber ich würde sagen, also ich wäre vielleicht nicht so anmaßend, dass ich sage, das ist nur wegen den Frauen, aber das ist schon klar, dass wir in Tunesien etwas gemäßigter sind.
Das heißt, man hat es ja gemerkt: Das hat ganz, ganz, ganz lange gedauert, bis wir überhaupt eine Verfassung bekommen haben, aber die Debatte ... Das heißt, wir debattieren, debattieren und jeder bleibt auf seinem Standpunkt, aber irgendwann, wenn es dann wirklich kritisch wird, dann lässt jeder ein bisschen nach. Und das ist bei den anderen nicht so passiert.
In der tunesischen Verfassung finden sich alle Bürger wieder
Und vielleicht ist es auch so bei uns der Unterschied, dass ... Zum Beispiel in den anderen Ländern war das mit der Verfassung etwas schneller, das heißt, es gab einen Verlierer, einen Gewinner und einen Verlierer. Und bei uns hat das länger gedauert und es gab keinen richtigen Verlierer oder richtigen Gewinner. Das heißt, in unserer Verfassung findet sich jeder.
Stucke: Hoffen wir, dass am Ende nur Gewinner übrig bleiben. Morgen wählt Tunesien ein Parlament. Über die Rolle der Frau in der Politik habe ich mit Soraya Fersi gesprochen, Übersetzerin, Frauenrechtlerin und als Beobachterin bei der Wahl dabei. Frau Fersi, vielen, vielen Dank und einen guten Tag!
Fersi: Danke, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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