Wahl in Großbritannien

Angst vor der schottischen Stimme

Die Chefin der Scottish National Party (SNP), Nicola Sturgeon.
Könnte das Zünglein an der Waage werden bei der Wahl in GB: Nicola Sturgeon und ihre Scottish National Party. © picture alliance / dpa / Robert Perry
Anselm Heinrich (Universität Glasgow) im Gespräch mit Nana Brink · 07.05.2015
Bei den britischen Parlamentswahlen wird es wohl für keine der beiden großen Parteien zur absoluten Mehrheit reichen. "Königsmacher" könnte deshalb die schottische Nationalpartei werden, meint Anselm Heinrich.
Eigentlich spielen kleine Parteien im britischen Mehrheitswahlsystem keine große Rolle. Doch weil die Umfragen seit Monaten ein Patt zwischen Labour und den Konservativen signalisieren, stehen jetzt die kleineren Parteien im Fokus. Vor allem der schottischen Nationalpartei SNP könnte die Rolle des "Königsmachers" zufallen, meint der Theaterwissenschaftler Anselm Heinrich, der an der Universität Glasgow lehrt.
Große Koalition in Großbritannien "völlig" undenkbar
SNP-Chefin Nicola Sturgeon habe einen "wunderbaren, sehr erfolgreichen Wahlkampf geführt", sagt er.
"Es sieht aus, als würde die SNP tatsächlich alle Wahlkreise hier in Schottland gewinnen können."
Damit könnte die SNP mehr als 30 Parlamentarier nach Westminster senden und wäre drittstärkste Kraft im Parlament. Die Spannung in London sei groß.
"Da hat man fast Angst vor der schottischen Stimme, die jetzt immer stärker wird."
Niemand könne sagen, wie die Wahl heute ausgehe, betont Heinrich. Eine Große Koalition sei in Großbritannien aber völlig undenkbar.
"Dazu sind die ideologischen Unterschiede doch zu groß zwischen Labour und den Konservativen."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wenn man in diesen Wochen mal zufällig beim Zappen ins Programm der BBC gerät, dann kann man sicher sein, ganz sicher sein, dass man etwas über die Parlamentswahl heute erfährt. Das ist ja sehr knapp zwischen den Konservativen und der Labour-Partei. Nicht müde wird dann die BBC, ihren Landsleuten das Wahlsystem zu erklären, denn wahrscheinlich kann keine der Parteien, also weder die Konservativen, noch Labour die absolute Mehrheit erreichen und der Wahlsieger muss eine Koalition eingehen. Das ist in Großbritannien – und deshalb betone ich das – noch eine sehr ungewöhnliche Lage. Denn das Mehrheitswahlreicht sorgte nach dem Krieg dafür, dass immer eine der beiden großen Parteien alleine regieren konnte, bis die Konservativen in 2010 eine Koalition mit den Liberaldemokraten eingehen mussten. Spannung also vor dem heutigen Wahltag! Anselm Heinrich ist Theaterwissenschaftler und lebt seit über zehn Jahren in Großbritannien, seit einiger Zeit im schottischen Glasgow. Einen schönen guten Morgen, Herr Heinrich!
Anselm Heinrich: Guten Morgen!
Brink: Warum ist diese Wahl auch noch so ungewöhnlich aus Ihrer Sicht?
Heinrich: Ja, Sie haben es eingangs ja schon geschildert. Die absolute Mehrheit ist von keiner der großen Parteien zu erwarten, beide liegen so bei 35 Prozent im Augenblick. Und in den letzten Monaten hat sich daran auch überhaupt nichts geändert. Natürlich haben sich alle Parteien reingehängt und haben versucht, die Wählerstimmen für sich zu gewinnen, aber da hat sich eigentlich grundsätzlich nichts geändert. Und das ist eben das Spannende, niemand kann vorhersehen, wie das heute ausgehen wird. Und die kleinen Parteien können wirklich das Zünglein an der Waage sein dieses Mal.
Rollentausch im Wahlkampf: hemdsärmeliger Cameron und staatsmännischer Miliband
Brink: Das war ganz interessant, wie gesagt, ich habe es schon erwähnt, wenn man ab und an mal bei der BBC hängenblieb, dann hat man auch die beiden großen Figuren dieser Wahl, nämlich David Cameron und Ed Miliband – das ist ja der Führer von Labour – gesehen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, die haben die Rollen getauscht! Kann das sein?
Heinrich: Ja, das kann sein. Also, dem David Cameron ist vorgehalten worden, lange Zeit vorgehalten worden, dass sein Wahlkampf zu langweilig ist, dass er zu "boring" rüberkommt. Und jetzt hat er also seit zwei Wochen versucht, durch einen eher hemdsärmeligen Auftritt mit wirklich hochgekrempelten Ärmeln in seinem Hemd aufzutreten bei den Wahlkampfveranstaltungen, und das Ganze wirkt also sehr gekünstelt eigentlich. Auf der anderen Seite, Ed Miliband, dem wurde vorgeworfen, dass er der Staatsmann eben nicht sein kann, dass er also immer und ewig der kleine Bruder von David Miliband sein ... der eher unbedeutende kleine Bruder von David Miliband sein würde, und er tritt jetzt seit ein paar Wochen eher staatsmännisch auf: eben im Anzug, mit Krawatte, versucht auch, in den TV-Debatten entsprechend staatsmännisch daherzukommen, und bei beiden wirkt das so ein bisschen gekünstelt.
Brink: Sie sind ja Theaterwissenschaftler, die Performance hat nicht gezündet?
Heinrich: Überhaupt nicht! Also, als Theaterwissenschaftler findet man das Ganze eher lustig, aber natürlich, die breite Öffentlichkeit lässt sich da auch nicht vereimern. Die Leute sehen das ganz klar, dass das von beiden also ein Coup ist, um Wählerstimmen zu bekommen.
Brink: Nun sind Sie ja in Glasgow, also in Schottland. Und da könnte ja sein, dass sich die Wahl entscheidet. Kann man das wirklich so sehen?
Heinrich: Ja, das kann man so sehen, das ist ganz spannend. Schottland war ja letztes Jahr durch das Referendum schon im Fokus des Interesses, das Referendum wurde damals von der SNP, also der Schottischen Nationalpartei hier verloren. Schottland ist damals nicht unabhängig von Großbritannien geworden oder vom Vereinigten Königreich, muss man ja sagen, dieses Referendum wurde von der SNP verloren. Das hat aber der SNP, also der nationalistischen Partei hier in Schottland nicht geschadet.
Wird die SNP drittstärkste Kraft in Großbritannien?
Die Frau Sturgeon ist hier Ministerpräsidentin und die hat einen wunderbaren, sehr erfolgreichen Wahlkampf geführt, nicht nur in Schottland, sondern ist auch als wirklich überzeugende Politikerin in England so aufgetreten. Und es sieht aus, als würde die SNP tatsächlich alle Wahlkreise hier in Schottland gewinnen können.
Brink: Also Labour das Wasser abgraben, kann man das sagen?
Heinrich: Labour das Wasser abgraben, auch die Tories, die hatten ja sowieso hier nie was zu melden, aber eben auch den Liberaldemokraten, die hier auch einige Sitze hatten. Und sie könnten mit über 30 MPs also nach Westminster ziehen und dann wären sie tatsächlich die drittstärkste Partei in Westminster.
Brink: Das ist eigentlich schon ungewöhnlich, wenn man denkt, dass das Ziel eigentlich die Abspaltung Schottlands vom Königreich war!
Heinrich: Ja, das gefällt natürlich der SNP ganz besonders gut, dass sie also jetzt die Mehrheit damals nicht bekommen haben, aber jetzt eben doch innerhalb von Großbritannien eine viel größere Stimme und eine viel größere Bedeutung haben werden.
Brink: Wie merken Sie denn die Spannung? Oder andersherum gefragt: Gibt es überhaupt eine Spannung vor dem heutigen Tag in der Bevölkerung? Was hören Sie, wenn Sie mit Freunden und Bekannten sprechen?
Heinrich: Ja, die Spannung ist ganz eindeutig. Ich war vor ein paar Tagen in London, da ist die Spannung eine andere, da hat man fast Angst vor der schottischen Stimme, die jetzt immer stärker wird. Hier in Schottland freut man sich darüber hämisch, dass man also jetzt hier der Königsmacher sein könnte. Also, die Spannung ist ganz deutlich, aber sie ist unterschiedlich in verschiedenen Teilen. Auch in Wales ist es wiederum anders, Plaid Cymru, die große walisische Partei, auch die Unabhängigkeitspartei, Leanne Wood hat da eine ganz tolle Figur abgegeben.
Für Ukip sind nicht mehr als zwei bis drei Sitze drin
Also, der Fokus ist auf den kleineren Parteien, auf den kleineren Parteiführern, und man nimmt eigentlich fast eher die großen Parteien als zu langweilig wahr und die kleinen Parteien sind die, die eigentlich das Spannende hier ausmachen. Es gibt ja auch noch Ukip, die Rechtspopulisten, die seit etwa zwei, drei Jahren hier auch große Wellen schlagen, die werden vielleicht so zehn, 15 Prozent erreichen, aber vielleicht nur zwei oder drei Wahlkreise gewinnen. Von daher werden sie keine große Rolle spielen, aber es ist trotzdem natürlich eine gewisse Angst in der Bevölkerung, dass diese Rechtspopulisten immer stärker werden.
Brink: Ja, der Ukip-Chef Farage hat ja schon gesagt, Mensch, wählt mich, ich bin nicht so langweilig wie die großen beiden anderen! Apropos, die großen beiden anderen: Bei uns in Deutschland gibt es ja immer noch den Ausweg einer Großen Koalition. So was ist in Großbritannien undenkbar?
Heinrich: Ja, völlig undenkbar. Sie haben es ja eingangs schon gesagt, dass diese Koalition zwischen den Konservativen und den Liberaldemokraten was ganz Neues war, die hat erstaunlicherweise fünf Jahre gehalten, das hätte auch niemand vorher unbedingt gedacht. Aber eine Große Koalition, dazu sind die ideologischen Unterschiede doch zu groß zwischen Labour und den Konservativen, das würde hier nie funktionieren. Das würde auch nie ein Wähler einer der beiden Parteien ihrer Partei abnehmen.
Brink: Weiten wir noch mal ein bisschen den Blick: Die Beziehung Großbritannien zu Europa ist ja, sagen wir es mal ganz neutral, eine etwas angespannte in den letzten Jahren. Der konservative Cameron hat ja für den Fall seines Wahlsieges ein Referendum über den Verbleib in der EU versprochen, sein Herausforderer Miliband lehnt das ab. Wie sind da die Mehrheiten, die Stimmungslage?
EU-kritische Stimmung in England, EU-freundliche in Schottland
Heinrich: Ja, auch das ist wiederum regional bestimmt. Ich habe das Gefühl, dass in England sehr viel mehr Leute dafür sind, dieses Referendum zu haben und die EU sehr viel kritischer sehen. Wir sind hier in Schottland, ich eher das Gefühl habe, dass es eine weltoffenere Stimmung gibt, eine liberalere Stimmung, man fühlt sich Europa zugehörig. Und das war auch ein großes Thema im Referendum letztes Jahr, wo viele Leute gesagt haben, wir wollen unabhängig sein, weil wir in Europa bleiben wollen. Eine ganz interessante Argumentation, weil man vorausgesehen hat, dass man das Referendum für den Verbleib in Europa nicht unbedingt gewinnen wird nächstes Jahr oder in zwei Jahren oder wann immer es auch kommt. Und da ist man davon ausgegangen, dass die Konservativen die Wahl heute gewinnen werden. Aber das sieht jetzt wiederum nicht mehr so deutlich aus.
Brink: Also, die Wettbüros haben viel zu tun, nehme ich mal an?
Heinrich: Viel zu tun, ja, sehr unsicher!
Brink: Der Theaterwissenschaftler Anselm Heinrich lebt seit über zehn Jahren in Großbritannien. Danke für Ihre Zeit!
Heinrich: Alles klar, danke, tschüss!
Brink: Wie gesagt, heute finden die Parlamentswahlen in Großbritannien statt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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