Wachstum oder Klima

Von Mathias Greffrath · 22.04.2010
Erinnern Sie sich noch an Knut? Genau, das Eisbärenbaby vom Sommer 2007 - das war das Jahr, in dem unabweisbar wurde, dass wir angesichts der heranziehende Klimakrise unsere energie- und materialsüchtige Lebensart reformieren, Städte, Fabriken und Essgewohnheiten umbauen müssen - und das schnell. Und wir, die Bürger, waren für ein paar Schreckmonate bereit, eingreifende Veränderungen mitzutragen. Aber die Politiker forderten nichts von uns. Sie fordern es bis heute nicht.
Zwei Monate vor der Konferenz von Kopenhagen tagte die Elite der Klimaforscher in Oxford. Die meisten glaubten nicht mehr, dass die globale Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen sei, inzwischen seien eher vier Grad realistisch - und damit katastrophale Kettenreaktionen wahrscheinlich. Die Politik, so ihre Einschätzung, werde frühestens in zehn Jahren handlungsfähig sein. Kopenhagen wurde dann zur Bestätigung dieses schwarzen Ausblicks: Schuldzuweisungen, Schieberamsch, Verschleppungsdiplomatie.

Anderes geht schneller. Erinnern Sie sich noch an 2008? Das war das Jahr, in dem entschlossen und schnell weltweit Billionen an Steuergeldern mobilisiert wurden, um die Finanzmärkte zu retten; und bis heute stellt die Sorge um die Konjunktur die Furcht vorm Anstieg der Meere in den Schatten. Regierungen hoffen auf neues Wachstum der alten Art, mit ein paar Verbalgirlanden über Nachhaltigkeit.

Parlamentarier, die im Vierjahresrhythmus leben, tun sich schwer damit, Veränderungen einzuleiten, die Jahrzehnte dauern und an die tiefsten Gewohnheiten ihrer Wähler rühren. Ihr Grunddilemma heißt: Wachstum destabilisiert das Klima – denn alle Anstrengungen, mit Energie-Effizienz, Solar und Wind den CO2-Ausstoß zu verringern, sind bisher vom Wachstum zunichte gemacht worden. Und weiter: wenn wir den armen Länder ein wenig Wachstum zugestehen, müssen wir, die Reichen, unseren Energieeinsatz drastisch senken, und damit unsere Produktion.

Ein schrumpfendes Sozialprodukt im Inland aber – das ist die zweite Seite des Dilemmas - destabilisiert die Gesellschaft. Unter den jetzigen Bedingungen würde die Arbeitslosigkeit steigen und Nullwachstum eine heftige Gerechtigkeitsdebatte entzünden. Albträume für Politiker – und deshalb erstickt das Wachstumsdogma die Klimawarnungen.
Solange wir nicht akzeptieren, dass nicht das Klima, sondern das Wachstum das Problem ist – und das Klima sein Symptom – wird das auch so bleiben. Spätestens mit den ersten, nach Hunderten von Millionen zählenden Völkerwanderungen wird dann die Stunde für energische Politik schlagen – und die Stunde des Militärs. Und so ist es kein Wunder, dass in den USA die Militärs energisch nach erneuerbaren Energien und einer Reform der Lebensweise rufen. Sie erinnern an die Opferbereitschaft der Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg: Gemüsegärten, Energiesparen, Konsumverzicht halfen den Krieg gewinnen, "weil wir begriffen, was auf dem Spiel stand".

Was jetzt auf dem Spiel steht, könnte mehr Menschenleben kosten, wenn auch wohl nicht in der Lebenszeit der Wähler und Verantwortlichen von heute. Ist das der Grund, der uns unfähig zur Vorsorge macht? Über die Verdrängung der Atomkriegsgefahr sagte der Philosoph Günter Anders einst: diese Gefahr sei "überschwellig" - zu groß für unsere Vorstellungskraft. Ich glaube nicht, dass das richtig ist: In vielen Bereichen unseres Lebens richten wir unser Handeln nach Expertenwissen und abstrakte Zahlen. Und die meisten von uns haben Kinder, also ein konkretes Interesse an einer Zukunft ohne Katastrophen. Warum also bewegen wir uns nicht? Wir Bürger?

Viele tun es ja, Millionen haben ihre Energienutzung und ihren Konsum geändert. Doch diese tausende kleiner Zukunftstaten einer sich über Ansteckung verbreitenden Bürgerbewegung werden nicht schnell genug wirken.

Die Gefahr ist anerkannt, Strategien des Wandels bekannt; die Vernunft ist in der Welt, nur das Räderwerk der Demokratie klemmt. Es mangelt, sagen wir es lieber auf Englisch: an "leadership". Aber wenn unsere Regierungen es nicht vermögen, die Zukunft gegen die Widerstände von Kapital und Konsumenten zu sichern, wird für unsere Kinder und Enkel die Stunde der Notstandsregime schlagen.

Dagegen hilft nur eines: mehr und effizientere Demokratie. Glühbirnen austauschen, ist schon ganz gut, das Führungspersonal auszutauschen wird immer wichtiger. Sonst schmilzt die Demokratie mit den Polarkappen. Und das Militär dämpft die Kollateralschäden. Knut hat eine Lebenserwartung von zwanzig Jahren – es sind die zwanzig Jahre, in denen sich sehr viel entscheidet – nicht nur für die Eisbären.


Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für die "ZEIT", die "tageszeitung" und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen: Montaigne- Leben in Zwischenzeiten, und das Theaterstück "Windows - oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen". Er lebt in Berlin.
Mathias Greffrath
Mathias Greffrath© Klaus Kallabis