Vorreiter in Europa

Von Vanessa Löwel · 20.07.2006
Die skandinavischen Länder gelten bei der Gleichstellung von Frauen als vorbildlich. Schon vor 100 Jahren wurde in Finnland das Frauenwahlrecht eingeführt. Es war Resultat des Kampfes der Finnen gegen die russische Vorherrschaft.
In den Straßen von Helsinki drängten sich die Menschen: Alle wollten sehen, wen die Finnen in ihrer ersten allgemeinen und gleichen Wahl im März 1907 gewählt haben. Unter den 200 Abgeordneten waren auch 19 Frauen. Eine Sensation! Als erstes Land der Welt hatte Finnland 1906 seinen Frauen die gleichen Wahlrechte gegeben wie den Männern.

Zwar durften Frauen auch in Neuseeland bereits 1893 und in Australien seit 1902 wählen. Doch sie konnten dort nicht gewählt werden, wie die 19 finnischen Frauen, die 1907 ins Parlament einzogen - unter großem Interesse der Weltöffentlichkeit. wie die Historikerin und Direktorin des Finnland-Institutes in Berlin, Marjaliisa Hentilä, beschreibt.

"Als sie das erste Mal zum Parlament in festlicher Kleidung in einem Festzug hinmarschierten, da waren sehr viele Bewunderer und auch ausländische Journalisten, die sich gefragt haben: Wie ist das möglich, dass in dieser Peripherie, in diesem Agrarland so eine Reform durchgesetzt wurde?"

Warum hatte ausgerechnet Finnland das modernste Wahlrecht der Welt? Das kleine Land am nordöstlichsten Rand von Europa war noch nicht einmal ein eigenständiger Staat, sondern ein Großherzogtum Russlands. Allerdings besaßen die Finnen weitgehende Autonomie. Als der russische Zar Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte, diese Selbstständigkeit einzuschränken und Finnland stärker an Russland zu binden, formierte sich in der Bevölkerung Widerstand.

"Das war ein nationaler Kampf ums Überleben, um finnische Sprache, um Identität, um Familie, um alles, was Finnland für die Finnen bedeutet hat. (...) Das war lebensbedrohend für die Finnen, und das hat die Geschlechter, Männer und Frauen, vereint, in diesem Kampf gegen die Russifizierungsmaßnahmen."

Besonders die Arbeiter- und die Abstinenzlervereine entwickelten sich in dieser Zeit zu Massenorganisationen der nationalen Bewegung. Frauen spielten hier eine große Rolle und besetzen zentrale Posten. Dass das von den männlichen Anhängern akzeptiert wurde, lag auch an der gesellschaftlichen Stellung der finnischen Frauen.

"Das war nicht nur die Bedrohung von außen, (...) es war auch in der Familie. In der Gesellschaft war eine Gleichstellung der Geschlechter deshalb, weil Finnland ein sehr armes Land war. In den Familien mussten beide Geschlechter arbeiten, um das Überleben. (...) Und das war die Situation, was eigentlich die Gleichstellung der Geschlechter in der Tradition innehatte."

Als 1905 in Russland Unruhen ausbrachen, griff die revolutionäre Stimmung rasch auf Finnland über. Ein Generalstreik wurde ausgerufen. Die Finnen demonstrierten massenweise auf den Straßen für den Erhalt ihrer Selbstverwaltung – und für eine Parlamentsreform. Denn das veraltete Vierständesystem, das das Wahlrecht an Stand und Einkommen band, schloss nicht nur alle Frauen, sondern auch drei Viertel der finnischen Männer von politischer Partizipation aus.

So war das Wahlrecht in Finnland weniger eine Geschlechter-, als vielmehr eine soziale Frage: Anders als in vielen europäischen Staaten, standen sich hier nicht Männer und Frauen gegenüber, sondern eine stimmberechtigte Minderheit und die stimmrechtslose Masse der Bevölkerung. Männer und Frauen kämpften in Finnland gemeinsam um das Wahlrecht. Mit Erfolg. Im November 1905 lenkte der Zar, geschwächt durch den russisch-japanischen Krieg und die Russische Revolution, ein.

Am 20. Juli 1906 konnte mit der Zustimmung des Zaren die neue Parlamentsordnung und mit ihr das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle volljährigen Finnen, Männer wie Frauen, verabschiedet werden. Begeistert berichtete die sozialistische Frauenzeitung "Die Gleichheit" in Deutschland über die ersten Wahlen ein knappes Jahr später. Am 1. Mai 1907 ist zu lesen:
"Die Beteiligung des weiblichen Geschlechts an den Wahlen war im Allgemeinen eine große. Die Behauptung der Philister aller Länder, dass die Frauen kein Interesse an der Politik haben, dass sie das Wahlrecht nicht wollen und nicht benutzen werden, ist in Finnland glänzend Lügen gestraft worden. Nach ersten Nachrichten sollen 60 Prozent der abgegebenen Stimmen von Frauen herrühren!"

Der internationalen Frauenbewegung galt Finnland von nun an als leuchtendes Beispiel. Bewiesen doch die finnischen Parlamentarierinnen - entgegen der damals gängigen Vorurteile - dass Frauen sehr wohl zu politischem Handeln fähig sind, und dass Politik die Frauen weder hässlich noch unfruchtbar macht.

Auch heute noch lohnt ein Blick nach Norden: In Hinblick auf die Gleichstellung der Frauen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft belegt Finnland die ersten Plätze der Tabellen. Und an der Spitze des Staates steht mit Staatspräsidentin Tarja Halonen eine Frau.