Vorgespult

Filme von Rebellion und Psychokrieg

Szene aus dem Kinofilm "Liebe auf den ersten Schlag"
Szene aus dem Kinofilm "Liebe auf den ersten Schlag" © dpa / picture alliance / Tiberius Film
Von Christian Berndt · 27.06.2015
In der Rubrik Vorgespult geht es heute um Filme über rebellische Deserteure und schauerliche Familiengeheimnisse. Unser Rezensent Christian Berndt hat sie sich angesehen - und zeigt sich in einem Fall enttäuscht.
"Entschuldigung, kennen Sie vielleicht eine Violette? – Nein. – Schade."
Die Stimmung in der französischen Provinz ist gedrückt. Viele junge Menschen ziehen weg, die Übriggebliebenen hängen auf Partys und am Strand rum. Es ist eine desillusionierte Jugend, die wir im französischen Film "Liebe auf den ersten Schlag" erleben. Arnaud ist geblieben und lässt sich treiben. Eines Nachmittags findet am Strand ein Selbstverteidigungstraining der Armee statt, und spaßeshalber haben ihn seine Kumpels angemeldet. Arnaud muss gegen ein Mädchen kämpfen:
"Labrede! Nicht da? – Los. – Ich kämpfe nicht gegen Mädchen. – Das ist kein Kampf, sondern Selbstverteidigung."
Das Mädchen, Madeleine, kann kämpfen. Durch Zufall begegnet er ihr wieder, und etwas fasziniert ihn an dieser herb-schönen Einzelgängerin, die Bierflaschen mit den Zähnen öffnet und ihn so schroff abbügelt. Madeleine hat sich für ein Probecamp bei der Armee angemeldet, und Arnaud fährt kurzentschlossen mit. Beim militärischen Training nähern sich die beiden dann ziemlich ruppig an. Thomas Cailly erzählt in seinem mit drei Cesars ausgezeichneten Spielfilmdebüt eine raue wie zarte Entwicklungsgeschichte, die angenehm unvorhersehbar verläuft. Wie die beiden schließlich ausbüxen und als abenteuerlustige Partisanen Zuflucht in der Wildnis suchen, betört durch die Art, in der Cailly seine Helden ernst nimmt.
Psychokrieg hinter bürgerlicher Fassade
Vom krisengeplagten Frankreich ins wohlhabende Österreich, wo es hinter der gehobenen bürgerlichen Fassade umso heftiger brodelt. "Ich seh, ich seh" beginnt damit, dass zwei elfjährige Zwillingsbrüder vom Spiel im Wald zurückkommen und zuhause eine Frau mit bandagiertem Kopf antreffen:
"Mama? – Na, das ist ja eine Begrüßung. Wie schaut denn das Gewand aus? Runtergehen zur Waschmaschine und ausziehen. Und unter die Dusche. Dalli!"
Die Mutter ist offensichtlich von einem Krankenhausaufenthalt zurückgekehrt, das Gesicht ist hinter einem Verband versteckt. Ihr strenges, launisches Verhalten gibt den Kindern Rätsel auf. Sie haben das Gefühl, dass eine Fremde vor ihnen steht, und es entwickelt sich langsam der reinste Psychokrieg:
"Du bist nicht unsere Mama. - Auf Dein Zimmer, ich hab es so satt. – Zeigen Sie das Muttermal. – Jetzt reicht's!"
Das österreichische Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala hat "Ich seh, ich seh" als psychologisches Kammerspiel mit alptraumhaften Zügen inszeniert. Nie ist ganz klar, was in der sich zum regelrechten Horror steigernden Geschichte Realität oder Fantasie ist. Die originelle Ausgangsidee um die Frage nach der Wirklichkeit von Identität wird streng formbewusst durchexerziert, aber die Handlung verläuft vom ersten Augenblick an so verrätselt, dass es bald sinnlos erscheint, nach einer Auflösung zu fragen - zu schräg und manieriert ist das Ganze inszeniert. So überzeugt der langatmig geratene Film weder als psychologisches Drama noch als Horrorfilm.
Einem monströsen Familiengeheimnis auf der Spur
Die Charaktere des dänischen Films "Men & Chicken" als schräg zu bezeichnen, wäre eine grobe Untertreibung. Es beginnt mit zwei Brüdern, die eine Videobotschaft ihres kürzlich verstorbenen Vaters erreicht:
"Gabriel, Elias, ich bin nicht euer biologischer Vater. Und Mama war auch nicht eure biologische Mutter, ihr habt auch nicht dieselbe Mutter."
Die Brüder sind adoptiert. Für den Universitätsdozenten Gabriel ist es fast eine Erleichterung, dass der durchgedrehte Elias - gespielt vom dänischen Filmstar Mads Mikkelsen – nur sein Halbbruder ist. Die beiden machen sich auf die Reise zur Insel Ork, wo ihr gemeinsamer biologischer Vater leben soll, und dort treffen sie auf eine Schar seltsamer Kauze - ihre Brüder. Die Verwandtschaft ist unverkennbar, sie haben ähnliche körperliche Deformationen, wie Gabriel ihnen auf einem Kinderfoto nachweist:
"Sind Sie das? – Ja. – Wie kommt es, dass Sie jetzt so aussehen? – Das nennt sich kosmetische Rekonstruktionschirurgie. Ich hatte insgesamt vier Operationen. – Warum hatten wir nur eine, Franz? – Weil eine genügt hat. – Ja, eine reicht auch, es ist… - Wollen Sie damit sagen, dass mein Bruder hässlich ist? – Nein, ich... – Nicht unterbrechen."
Die erste Begegnung verläuft ruppig, aber Gabriel und Elias werden in das riesige, völlig verwahrloste ehemalige Sanatorium aufgenommen, wo die Brüder mit ihren Hühnern leben. Anders Thomas Jensen, der mit seinem Film "Adams Äpfel" 2005 international Furore machte, präsentiert auch hier ein Panoptikum kurioser Charaktere. Aber darüber hinaus steigert sich die Geschichte spannungsvoll zum kafkaesken Thriller, in dessen Verlauf Gabriel dem monströsen Familiengeheimnis ihrer Missbildungen auf die Spur kommt. "Men & Chicken" ist als absurdes Kuriositätenkabinett inszeniert, gewinnt aber eine tragische Dimension - und ist in seiner Mischung aus Grausamkeit und Witz ein irritierendes Filmerlebnis.
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