Vordenker des Antisemitismus

10.04.2007
Lange vor 1933 waren in Deutschland die Ansätze für den antisemitischen Rassenwahn und den tödlichen Nationalchauvinismus vorhanden. Einer der geistigen Väter: Paul de Lagarde. Der Ordinarius für Orientalistik an der Universität Göttingen hetzte mit seinen Pamphleten gegen die Juden und betonte den religiösen Charakter der deutschen Nation.
"Ein Mann der Widersprüche" - übertitelt trefflich der Marburger Kulturwissenschaftler Ulrich Sieg sein Einführungskapitel zu Leben und Werk Paul de Lagardes. Denn der Theologe und Orientalist de Lagarde, der sich stets als Solitär im Wissenschaftsbetrieb verstand und als menschenscheuer, nur der Forschung verpflichteter Außenseiter stilisierte, war in der Fachwelt durchaus angesehen und erfreute sich - nach anfänglichen Schwierigkeiten - dauerhaft der Protektion höchster politischer und akademischer Instanzen. Widersprüchlich ist nicht nur die Persönlichkeit de Lagarde, sondern auch sein Werk und dessen Einfluss auf einen weiten Kreis von Bewunderern. Im Laufe eines Jahrhunderts fanden de Lagardes gesellschaftskritische Thesen Widerhall weit über die universitäre Welt hinaus.

Thomas Mann nannte ihn 1918 "Praeceptor germaniae", 20 Jahre später galt er Martin Buber noch als der "einzige tiefe Mensch unter allen deutschen Antisemiten". 1827 wurde Paul de Lagarde als Paul Bötticher, Sohn eines Theologen und Gymnasialprofessors, in Berlin geboren. Der Tod der Mutter, wenige Tage nach seiner Geburt, prägte de Lagardes Verhältnis zum Vater, der ihn insgeheim für den frühen Tod der Ehefrau verantwortlich machte. Der Sohn litt lebenslänglich unter den hohen Ansprüchen und der Gefühlskälte des Vaters. 1854 beschloss er, sich von einer Tante seiner Mutter adoptieren zu lassen und deren Namen anzunehmen: de Lagarde.

Früh schon fiel seine außergewöhnliche Sprachbegabung auf. Nach dem Abitur im Alter von 16 Jahren studierte er Theologie und orientalische Sprachen. Mit der ihm eigenen Mischung von Larmoyanz und Unverschämtheit strebte der ehrgeizige und dünkelhafte de Lagarde eine Universitätsprofessur an. Sein wissenschaftliches Ziel war das Erstellen einer textkritischen Fassung der Septuaginta. Der preußische König unterstützte ihn darin, allein der Fachwelt war klar, dass eine solche Aufgabe nicht innerhalb eines Lebens zu bewältigen sei. Noch heute wird in Göttingen, wo Paul de Lagarde bis zu seinem Tod 1891 als Ordinarius für Orientalistik arbeitete, das von ihm begonnene Unternehmen fortgesetzt.

Ulrich Sieg porträtiert Paul de Lagarde in Wechselbeziehung zu seiner Zeit. Vor dem Hintergrund der gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht das eindrückliche Bild eines intelligenten, die Moderne verachtenden Nationalchauvinisten. De Lagarde verfasste zarte Lyrik über erlittene Deformationen, attackierte aber zugleich in kraftmeierischen Pamphleten Juden als "Träger der Verwesung" und "Bakterien in der geistigen Schöpfung". Sieg führt - vom Gegenstand seiner Betrachtung durchaus widerstrebend fasziniert - de Lagardes zerrissene Persönlichkeit dezidiert vor. Den idealistischen Spätromantiker und disziplinierten Wissenschaftler, das gekränkte Kind, den gönnerhaften Pädagogen. Als Reaktion auf Verunsicherung und Sinnkrise der deutschen Gesellschaft nach Reichsgründung forderte de Lagarde eine "nationale Religion". Protestantismus und Katholizismus waren in seinen Augen funktions- und substanzlos. Politische Parteien lehnte er ab. Er ersehnte einen "Bund freier Stämme". Den Sinn der Nation sah de Lagarde in ihrer religiösen Natur. Statt der Politiker wünschte er Propheten und propagierte die Herrschaft radikaler Moralität, die jede Handlung zu Pflicht oder Sünde mache. Nach De Lagarde hatte die Vorsehung Deutschland den Drang nach Wahrheit und Wissenschaft in die Wiege gelegt - so erschien es ihm nur billig, Österreich und Polen zu germanisieren, sowie Mitteleuropa unter deutscher Führung zu vereinen. Paris müsse in Schutt und Asche gelegt werden - außer der Bibliothek, in der sich die für seine Forschung wichtigen Handschriften befänden.

Ulrich Sieg verdeutlicht die Heterogenität der de Lagardeschen Gesellschaftskritik. Sie enthält völkische und ästhetische, anarchistische und religiös-spirituelle, antiintellektualistische wie wissenschaftliche Elemente. So überrascht es nicht, dass sich über Jahrzehnte Kulturkritiker und politische Wirrköpfe aus dem Fundus de Lagardescher Invektiven versorgen konnten. Mit Versatzstücken seines inkohärenten Weltbildes unterfütterten bürgerliche Konservative, reformbewegte Schwärmer und Nazis gleichermaßen die jeweils eigene Ideologie.

Die akribisch recherchierte Monographie Ulrich Siegs ist eine lohnenswerte Auseinandersetzung mit dem "Propheten des Deutschtums" - der uns in seinem zeithistorischen Kontext gar nicht so fern erscheinen mag wie wir ihn gerne hätten. Das liegt daran, dass in der Darstellung de Lagardes und seiner Zeit, manches davon durchschimmert, was uns auch heute wieder beschäftigt: spirituelle, ökonomische und soziale Unsicherheit einer Gesellschaft im Modernisierungsprozess. Damit verbundene Ängste, Aggressionen und Sehnsüchte. Auch ganz konkrete Problemfelder benennt Sieg: Übermaß an Unterrichtsstoff für Schüler, zu große Klassen, stupide Unterrichtsmethoden. Missbrauch von Nikotin und Alkohol. Verkrustung universitärer Strukturen - all das beklagte schon Paul de Lagarde. Zur Renaissance taugt sein allzu enges Weltbild dennoch nicht. Ulrich Sieg macht klar, dass es Anschauungen bietet, doch keine Analysen, keine Konzepte.

Rezensiert von Carsten Hueck

Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus
Carl Hanser Verlag, München 2007
415 Seiten, 25,90 Euro