Vor zehn Jahren auf Rügen

Als die Wissower Klinken in die Ostsee stürzten

Die begrünten Kreidefelsen der Wissower Klinken auf Rügen im Jahr 2005.
Stürzten ins Meer: Die Kreidefelsen der Wissower Klinken auf Rügen © Imago / Reinhard Balzerek
Von Martin Tschechne · 24.02.2015
Die schneeweiße Gesteinsformation der Wissower Klinken auf Rügen hatte den Maler Caspar David Friedrich zu seinem berühmten Gemälde der Kreidefelsen auf Rügen inspiriert. Es gilt als Sinnbild der deutschen Romantik. Vor zehn Jahren stürzten die Felsen in die Ostsee.
Die Natur ist keine Mutter. Sie erzählt keine Geschichten, kennt keine Ironie oder Moral und erteilt auch keine Lehren. Aber manchmal sind sie selbst und unser Bild von ihr so eng miteinander verwoben, dass am Ende nur ein Gefühl von Ergriffenheit und Staunen bleibt.
Der 24. Februar 2005, ein Donnerstag. Es ist kalt, und ein paar Leute haben es wohl kommen sehen. Als es dann wirklich passierte, in den sehr frühen Morgenstunden, hat niemand etwas mitbekommen von dem grollenden Rutschen, dem Krachen und Bersten, dem Aufprall auf dem Wasser und der mächtigen Welle, die sich irgendwo in den Weiten der Ostsee verlor. Die Wissower Klinken, eine berühmte Formation der Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund auf der Insel Rügen, waren abgebrochen und ins Meer gestürzt. Der Küsten-Geologe Manfred Kutscher machte sich sofort auf den Weg, um zu inspizieren, was von der Steilküste übrig geblieben war. Was er dann am Telefon berichtete, gab Anlass zu größter Sorge:
"Es sind noch mehrere Risse zu sehen; die sind aber ziemlich weit oben. Ich kann im Moment nicht einschätzen, welche (...) welche Wirkung die haben. Fakt ist, dass es von hinten drückt. Sonst wären die beiden Zinnen, die ja nicht miteinander verbunden waren, sondern da war ja eine Rinne zwischen, nicht beide runtergefallen. Das heißt also: Eine riesengroße Plattform unten weggerissen, und dadurch sind die Zinnen mit runtergefallen. Und insoweit besteht also der Druck immer noch, und wenn ich das gefrorene Wasser sehe, was hier in der Gegend rumliegt, könnte man sich vorstellen, dass da noch was passiert."
Kutscher sollte recht behalten. Am nächsten Tag, am Freitag, rutschten unmittelbar nebenan weitere 50.000 Tonnen Fels und Geröll in die Tiefe, und der Nationalparkwächter war froh, dass keiner unten auf dem schmalen Streifen Strand zwischen der Steilwand und dem Meer stand, als die mächtige Lawine abging. Denn inzwischen hatte sich das Naturereignis herumgesprochen; viele Schaulustige waren gekommen - manche, um im frisch aufgerissenen Mergel nach Fossilien zu suchen, manche nur, um sich einen Eindruck von der Gewalt der Natur zu verschaffen:
"Große Stücke rausgebrochen, fast halb so groß wie ein Haus."
"Die liegen halt bis ins Wasser rein."
"Sehr interessant."
"Alles aufgenommen: Fotoapparat und Kamera, weil wir gerne so was sehen."
"Nicht das erste Mal, dass wir hier sind. Sind noch immer viele Leute hier."
Schnell wurden besonders gefährdete Strandabschnitte gesperrt, aber die Küste des Nationalparks ist zu lang, um alles unter Kontrolle zu halten. Außerdem ragen auch an anderen Stellen spektakuläre Felsformationen hoch über das Meer hinaus. Und so geschah es, dass am Sonnabend, zwei Tage nach dem Abbruch der Wissower Klinken im Norden der Insel, auf der Halbinsel Mönchgut im Süden eine junge Frau aus Berlin von herabstürzenden Felsmassen verschüttet wurde. Annette Quandt von der Rettungshundestaffel des Roten Kreuzes hatte geholfen, die Tote zu bergen – und schien doch hinterher irgendwie erleichtert.
Besucher betrachten das Gemälde "Kreidefelsen auf Rügen" von Caspar David Friedrich während der Ausstellung "Die Erfindung der Romantik" im Museum Folkwang in Essen.
Zwei Menschen betrachten das Gemälde "Kreidefelsen auf Rügen" von Caspar David Friedrich.© Imago/Marco Stepniak
"Ein Glück, dass nicht weitere Leute dort unten spazieren gegangen sind. Denn das hätte böse enden können. Es ist sehr gefährlich, und es kann wirklich nur geraten werden, dass keiner sich in die Nähe solcher Unglücksstätten begibt, denn da kann ganz schnell was passieren. Auch hier sieht man, dass da überall noch Risse sind; das heißt: Da wird auch noch mehr runterkommen."
Die Rolle der Natur aber in dieser so effektvoll inszenierten Tragödie ist noch nicht vollständig ausgeleuchtet. Die Kreidefelsen auf Rügen sind das Sujet eines Gemäldes, das Caspar David Friedrich 1818 als Allegorie auf die Liebe zu seiner Frau Caroline komponiert hat, auf die Liebe schlechthin. Die herzförmig-symmetrische Anordnung von Bäumen und Felsen, die Figuren im Vordergrund, der Sog der Tiefe und das verzweifelte Festklammern am Leben - die Kunstgeschichte erkennt in alledem den Geist der Romantik, ein Stück vom Wesen der Deutschen.
Das Gemälde also ist es, das der Landschaft Stimmung und Bedeutung verleiht und so viele Menschen an die schroffe Steilküste lockt. Und auch wenn das Werk eigentlich in Dresden entstand und heute im schweizerischen Winterthur hängt, beklagt Bernd Fischer, der Tourismus-Chef des Landes, mit dem Abbruch der Klippen den Verlust einer Identität:
"Traurig, traurig, traurig. Wir haben ein ganz tolles Motiv. Man kann eigentlich sagen: Diese Wissower Klinken, so wie sie Caspar David Friedrich dann in seinem Gemälde zusammengesetzt hat aus vielen Stellen - das ist ja kein authentisches Gemälde, es ist ja eine Zusammensetzung von vielen Skizzen - das ist eigentlich die Tourismus-Ikone für Mecklenburg-Vorpommern. Man kann das eigentlich sagen, und die ist uns gestern verloren gegangen."
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