Vor der Volkskammerwahl 1990

Hoffen auf eine demokratische Zukunft

Proteste vor der erste freien Volkskammerwahl in der DDR
Proteste vor der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR © picture alliance / ZB
Von Dieter Bub · 18.03.2015
Der ehemalige Stern-Korrespondent in der DDR, Dieter Bub, hat für seine deutsch-deutschen Geschichten Erinnerungen an die ersten freien Wahlen eingefangen. Manche hofften bereits auf ein gemeinsames Deutschland, andere auf eine erneuerte DDR.
Das kleine sächsische Gebirgsbauerndorf Döbra mit seinen alten Vier- und Dreiseithöfen, ist durch seine Dorfkirche mit wertvollen Fresken aus dem 13. Jahrhundert bekannt. Die 200 Einwohner führten auch zu DDR-Zeiten ein beschauliches Leben. Die Kinderärztin Eva-Maria Simon erinnert sich an 1989:
"Wir in Döbra haben keine Not gelitten. Wir waren eigentlich immer eine lustige Truppe. Wir sind offen. Wir freuen uns, wenn jemand kommt. Aber im Großen und Ganzen sahen wir ein: Der Krenz hat nicht mehr. Mehr kann er uns nicht geben. Er kann uns nur noch die Reisefreiheit geben und das hatten wir ja dann."
Für den 18. März 1990 erhielt Eva-Maria Simon einen besonderen Auftrag. Sie wurde Wahlleiterin in Döbra. In zweimaliger Schulung musste sie erst mal mit dem ungewohnten Verfahren geheimer Wahlen vertraut gemacht.
"Wir machten um 08.00 Uhr unser Wahllokal auf, 08.45 Uhr standen die ersten schon da. Wir waren solche Wahlen ja nicht gewöhnt, mit Wahlkabine und keiner durfte gucken und so weiter. Es war also fürchterlich aufregend, aber auch sehr interessant. Das war die Aufbruchzeit. Es war alles neu. Die Döbraer hatten gegen Mittag schon alle gewählt. Sie gehen auch heute noch alle zur Wahl, aber das verteilen sie und so zeitig ist keiner mehr da. Damals waren wir so glücklich und so froh. Ich kann allerdings nicht mehr sagen, ich glaube ja, wir hatten in der Mehrzahl CDU gewählt. So wurde ich für begrenzte Zeit CDU-Mitglied. Ich dachte ja, die werden´s schon schaffen."
Zwei gleichberechtigte Staaten oder ein gemeinsames Deutschland?
Die Zukunft war ungewiss. Niemand wusste in diesen Monaten, Wochen, Tagen des Umbruchs, wie es weitergehen würde. Es gab unterschiedliche Erwartungen.
"Eigentlich zwei gleichberechtigte Staaten. Das ist ja nicht gekommen, aber die Zukunft. Wie geht das jetzt weiter, was kriegen wir für Geld, was können wir kaufen, wie können wir unsere Miete bezahlen, aber das hat sich eigentlich ganz wunderbar gelöst. Wir haben ja bis zur Währungsunion noch mit unserem Ostgeld bezahlt. Das ging auch friedlich und wer sich auch irgendwie Westgeld verschaffen konnte hat es eben schon ausgegeben."
Auch Michael Curio, im brandenburgischen Neuglobsow zu Hause, war sicher, dass die alte SED-Diktatur am Ende war.
"Bei der Volkskammerwahl wusste man ja, dass es um grundlegende Entscheidungen ging. Was wird diese Volkskammer beschließen, und es gab zwei Gruppen. Eine Gruppe meinte, es würde eine bessere DDR geben. Und die zweite Gruppe, ich war der Meinung, dass eine demokratisierte DDR noch eine Zukunft hätte. Die Hoffnung damals war, dass es endlich ein Ende haben würde mit dieser ständigen Demütigung."
Michael Curio war im Neuen Forum engagiert.
"An die Bundesrepublik haben wir noch nicht gedacht. Ja, wir dachten, das wird eine bessere DDR, eine demokratische DDR, die dann Verträge mit der Bundesrepublik macht, um Gemeinsamkeiten herzustellen und zu befördern."
Aus heutiger Sicht – eine unrealistische Vorstellung.
"So klar war uns das damals noch nicht. Wir sind davon ausgegangen, dass wir Miteigentümer des Volkseigentums wären und später kam es ja so, dass das Gerücht umging, jeder würde seinen Anteil am Volkseigentum ausbezahlt bekommen."
Diese Gedanken gerieten in der Hektik der Ereignisse des Frühjahrs 1990 schnell in Vergessenheit. Für Michael Curio hatten nach der Volkskammerwahl die Kommunalwahlen besondere Bedeutung.
"Das war klar, das waren die ersten freien Wahlen ebenso wie auch die Volkskammerwahl, wobei für die Leute in meinem Ort die Kommunalwahlen natürlich wichtiger waren. Der unmittelbare Einfluss auf das Geschehen im Ort war für die Leute im Ort bedeutsamer ist als großen Entwicklungen im Gesamtgebilde."
An das Gefühl der Demütigung wird heute nicht mehr erinnert
Nachdem zuvor überall die SED selbstverständlich ihre Kandidaten aufgestellt hatte, die seit Jahrzehnten gewählt worden waren, sollte jetzt vor Ort Demokratie praktiziert werden.
"Man wollte dieses Fremdbestimmte hinter sich lassen. Die Leute wollten das Gefühl haben, dass sie selbst ihre Angelegenheiten in die Hand nehmen. Aber wo genau das hinführen sollte, darüber war noch keine richtige Klarheit vorhanden."
Als Bewerber meldeten sich Gewerbetreibende, Mitglieder von SPD, CDU, vom Kulturbund, aber auch ehemalige SED-Mitglieder, die eine freie alternative Wählergemeinschaft gegründet hatten. Das Ergebnis der Wahl war eindeutig. Michael Curio wurde mit großer Mehrheit zum Bürgermeister gewählt. Schon vor der Einheit begann für ihn die Arbeit mit Infrastrukturprojekten.
"Neuglobsow sollte ein Touristen- und Naherholungsort, staatlich anerkannter Ort, wir wollten, dass das vorangeht, aber nicht mehr durch eine Gesellschaft wie dem FDGB staatlich gelenkt, sondern auf privatwirtschaftlicher Basis. Einige haben dann überlegt, wie sie sich privatwirtschaftlich orientieren wollten. Fort von der Gängelei, den Zuweisungen von Erholungskontingenten. Jetzt war es möglich, Eigentum zu erwerben, zu investieren und eigene Ideen umzusetzen."
Michael Curio hat vier Jahre, davon drei ehrenamtlich als Bürgermeister, zur Umgestaltung Neuglobsows beigetragen und aus dem veralteten FDGB- Erholungszentrum einen modernen Ausflugs- und Erholungsort an Fontanes Stechlin-See gemacht. Danach arbeitete er 20 Jahre in Berlin als Organisator von Stadtentwicklungsprojekten, inzwischen ist er zurückgekehrt. Neuglobsow ist sein zu Hause – aber eines ärgert ihn in diesen Tagen:
"In den ganzen Rückschauen, DDR-Nostalgien kommt das Gefühl der Demütigung überhaupt nicht mehr vor. Das find ich einfach entsetzlich."
Mit den freien Wahlen 1990 begann für ihn tatsächlich das Leben in Freiheit.
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