Vor der Flut

Von Anke Leweke · 01.10.2007
Schaut man sich die offiziellen Bilder aus China an, dann präsentiert es sich als boomendes Land, als Land im wirtschaftlichen Turbo-Aufschwung. Dass der Aufschwung nicht ohne Folgen für Menschen und Umwelt betrieben wird, zeigt der Film "Still Life" des jungen Regisseurs Jia Zhang-Ke. Er zeigt die Vernichtung einer Stadt durch den Drei-Schluchten-Staudamm und wie das Leben einzelner dadurch zerstört wird.
Seit einiger Zeit macht auf internationalen Festivals eine jüngere Generation von Filmemachern auf sich aufmerksam. Diese Regisseure versuchen ihre Filme unabhängig, das heißt ohne staatliche Förderung zu drehen, um den Argusaugen der Zensurbehörden zu entkommen. Ihre Blicke sind ungefiltert, ihre Geschichten unaufwändig, lebensnah. Sie wollen sich den historischen Verwerfungen und den schockartigen sozialen Umbrüchen im eigenen Land stellen.

Jia Zhang-Ke ist der wichtigste Vertreter dieser jüngeren Generation. Alle seine Filme erzählen von den Sehnsüchten der sogenannten kleinen Leute, ihrer Suche nach Glück, ihre Verlorenheit in einer Übergangsgesellschaft, die sich jeden Tag selbst zu überholen scheint.

"Meine Filme spielen meistens in Kreisstädten in den ländlichen Gegenden Chinas. Ich bin in so einer Stadt aufgewachsen und kenne mich deshalb in dieser Welt gut aus. Die rasante Entwicklung Chinas wirkt sich natürlich auch auf die dortigen Bewohner aus , das ist das Thema all meiner Filme. Sie spielen in der Gegenwart und wollen dokumentieren, wie sich die großen Veränderungen im Kleinen bemerkbar machen."

"Still Life" spielt in der Stadt Fengje am Drei-Schluchten-Staudamm. Eigentlich sind Dreharbeiten in dieser Region verboten. Doch wie durch ein Wunder entkam Jia Zhang Kes digital gedrehter Film der Zensur. Und so lassen sich in diesem Film eindrucksvolle dokumentarische Szenen bewundern: Während der Wasserspiegel langsam steigt, malen Arbeiter riesige Markierungen an die Häuserwände, die den Wasserstand der nächsten Überflutungsphase anzeigen. Man erlebt die Unfähigkeit der Behörden, den Menschen auf der Suche nach umgesiedelten Verwandten und Freunden zu helfen.

Jiang Zhang-Ke arbeitet mit einer sehr ruhigen Kamera, geduldig verharrt sie auf der Stelle und beobachtet das Leben. Seltsam eingesperrt wirken die Menschen, wie Zuschauer ihres eigenen Schicksals. Jiang Zhang Ke führt diese Erstarrung auf ein Leben zurück, das von der Wiege bis zur Bahre immer vom Staat geregelt und gelenkt wurde.

"Lange Zeit wurde das Individuum in China überhaupt nicht beachtet. Es war einfach nur ein winziger Teil des riesigen Staates. Auch heute greift die Regierung noch sehr stark in das Leben des Einzelnen ein. Man muss sich nur anschauen, wie die Menschen für den Bau des Drei-Schluchten-Staudamms aus ihren Wohnungen verdrängt und umgesetzt wurden. Dennoch erwachen die Menschen langsam aus einer Ohnmacht, aus einer Erstarrung. Sie begreifen sich immer mehr als Subjekt. Deshalb geht es in meinem Film um zwei Menschen, die versuchen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, die sich aufmachen, um ihre Gefühlswelt in Ordnung zu bringen."

Jia Zhang_Ke erzählt zwei Geschichten. Die eine handelt von einer Frau, die ihren Mann treffen will, der vor zwei Jahren auszog, um in der Stadt Fengje das große Geld zu machen. Die andere von Sangming, einem Bergarbeiter, der ebenfalls in die Stadt am Ufer des Jangtse reist, um seine Frau zu suchen, die ihn vor sechzehn Jahren verlassen hat. Doch ihre Strasse kann er nicht finden, weil sie bereits überflutet ist.

Auf der Suche nach seiner Frau begegnet er Flussschiffern und einfachen Arbeitern. Sie leben zusammengepfercht in kleinen Zimmern und kommen abends bei einem Glas Bier zusammen.

"Still life" zeigt das ärmliche Leben der Tagelöhner, die ohne Maschinen und mit bloßen Händen rostige Industrieanlagen und Wohnhäuser demontieren, bevor diese in den Fluten des Jangtse versinken.

"Ich wollte die Atmosphäre im heutigen China einfangen. Was gestern noch stand, kann heute schon verschwunden sein. Wie schnell sich alles ändert, das hat auch etwas Unwirkliches. Die Stadt, in der mein Film spielt, war während der Dreharbeiten schon teilweise überschwemmt. Fährt man jetzt dorthin, wird sie höchstwahrscheinlich völlig überflutet sein. Fengjies Altstadt, die eine zweitausendjährige Geschichte hat, ist einfach untergegangen. Manchmal fühlt man sich in China wie in einem surrealistischen Traum."

"Still life" - Stillleben heißt dieser Film. Tatsächlich schenkt Jiang Zhang-Ke den Dingen des täglichen Lebens eine besondere Aufmerksamkeit. Er schaut sich an, was bei den Menschen in den Regalen steht. Teedosen, Küchengeräte, Geschirr. Die Kamera verharrt an den Wänden, schaut sich Fotos und Plakate an. Vor Jiang Zhang-Kes Objektiv scheinen diese Dinge eine ganz eigentümliche Lebendigkeit zu entwickeln.

"Man schenkt Alltagsgegenständen ohnehin zu wenig Beachtung. Doch auch sie tragen Erinnerungen in sich, transportieren ein Stück Geschichte. Indem ich sie so ausführlich zeige, wollte ich ihre Materialität dokumentieren. Jetzt liegen viele dieser Dosen, Küchengeräte und kleinen Habseligkeiten, die in meinem Film noch zu sehen waren, auf dem Grund des Jangtse."
"Still life" lässt sich aber auch mit "Noch Leben" übersetzen. Fengji wird zur Metapher des Widerstands. Es ist ein Widerstand, den man keinesfalls mit Opposition verwechseln sollte. Eher geht es um die Widerständigkeit des Lebens selbst. Das Individuum, so die Botschaft dieses Films, lässt sich vom staatlich gelenkten Umbruch nicht unterkriegen. "Still Life" - es gibt immer noch den Einzelnen, der seine Beziehungen ordnet, im Chaos der Überflutung ehemalige Lebensgefährten sucht. Der in den unteren Schichten der aufstrebenden Wirtschaftsmacht für das tägliche Schälchen Reis ackert. Und der immer mehr sein wird als ein winziges Partikelchen in einer beliebig verschiebbaren Bevölkerungsmasse.