Vor 70 Jahren

Ein Waisenhaus für Kinder aus aller Welt

Kinder im Pestalozzi Kinderdorf im Jahr 2004
Heute dient das Pestalozzi Kinderdorf als internationale Begegnungsstätte für Kinder und Jugendliche © dpa/picture-alliance/ Gaetan Bally
Von Andrea Westhoff · 28.04.2016
Zunächst war es als Zufluchtsort für europäische Kriegskinder gedacht - das Pestalozzi Kinderdorf, das 1946 in der Schweiz gegründet wurde. Das internationale Konzept schien zunächst vielversprechend, doch viele der Waisenkinder wurden in der Schweiz nicht heimisch. Ein Grund dafür könnte die isolierte Lage des Dorfes gewesen sein.
"Im Kinderdorf Pestalozzi bei Trogen lebt die Zuversicht in eine neue europäische Gemeinschaft. Kriegswaisen aus sechs europäischen Ländern erfahren hier die Freundschaft der Nationen als eine schöne einfache Wirklichkeit."
Stolz berichtet die Schweizer Filmwochenschau am 4. Juni 1948 über ein Sozialprojekt der besonderen Art. Initiator war der Schweizer Publizist und Philosoph Walter Robert Corti: Im August 1944 hatte er in der Kulturzeitschrift "Du" eindringlich das Leid Tausender Kinder und Jugendlicher im kriegszerstörten Europa beschrieben: wie sie hungernd, an Körper und Seele verletzt, oft ganz auf sich selbst gestellt in Ruinen hausten. Sie bräuchten mehr als ein anonymes Waisenhaus, also rief Corti zur Gründung eines "Dorfes für die leidenden Kinder" auf – und löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus: Die Gemeinde Trogen im Kanton Appenzell stellte Land zur Verfügung, und aus der ganzen Schweiz kamen Geldspenden und Bauhelfer. Am 28. April 1946 wurde der Grundstein für die ersten Häuser gelegt, wenige Monate später schon zogen die ersten Kinder ein: aus Frankreich, Polen, Ungarn und Österreich, bald auch aus England, Griechenland, Italien, Finnland und sogar aus Deutschland.
"Hier gehen sie zur Schule, jede Landesgruppe im eigenen Haus, wo die Sprache der Heimat lebendig bleibt."

Zufluchtsort für europäische Kriegskinder

Das Kinderdorf Pestalozzi bestand zunächst aus acht, bald aus zwölf "Nationenhäusern", in denen jeweils 16 bis 20 Kinder und Jugendliche zusammenlebten. Betreut wurden sie von sogenannten Hauseltern, die oft auch Lehrer waren und aus demselben Land stammten wie die Kinder. Allerdings mussten von Anfang an alle auch Deutsch lernen, und bei den zahlreichen Dorfaktivitäten wurden immer internationale Gruppen gebildet.
Das Erziehungskonzept war ebenfalls für alle einheitlich, orientiert an den Ideen des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi:
"Durch die Ausbildung von Herz, Kopf und Hand soll die Erziehung eine harmonische Entwicklung fördern. Das Herz sollte in der häuslichen Wohnstube ausgebildet werden. Der Kopf in der Schule und die Hand durch das Erlernen eines soliden Handwerks."
Das Kinderdorf Pestalozzi, seit 1950 von einer gleichnamigen Stiftung getragen und verwaltet, zog vor allem in den ersten Jahren Hunderttausende Besucher an. Bald entstanden nach dem Schweizer Modell drei weitere Kinderdörfer, eines im deutschen Wahlwies am Bodensee, die anderen in England und Indien.
1960 kamen die ersten außereuropäischen Bewohner, Flüchtlingskinder aus Tibet, später aus Kambodscha und mehreren afrikanischen Kriegs- und Krisengebieten. Das brachte eine neue Situation, erinnerte sich der erste Kinderdorf-Leiter Arthur Bill:
"Dieses Dorf war als Zufluchtsort für europäische Kriegskinder gedacht, und da dachte man: die Kinder kommen hierher, werden im Rahmen der Kultur erzogen, lernen sich gegenseitig kennen, gehen zurück mit Freundschaften in ihre Länder."

Konzept des Pestalozzi Kinderdorfes geht nicht auf

Aber bei vielen der Kinder aus anderen Kulturkreisen gelang das so nicht. Sie blieben entwurzelt und fanden weder Trost in der internationalen Kinderdorfgemeinschaft, noch konnten sie sich in die Schweiz integrieren. Anfang der 1980er-Jahre zog die Stiftung die Konsequenzen: Sie organisierte nun vor allem Hilfsprojekte für notleidende Kinder in den Ländern selbst und holte nur noch diejenigen nach Trogen, denen an Ort und Stelle nicht sinnvoll geholfen werden konnte. 1991 war auch damit Schluss.
Auf das acht Hektar große Areal mit seinen rund 20 Gebäuden zogen stattdessen Schweizer Kinder und Jugendliche mit sozialen und schulischen Problemen, die von angestellten professionellen Erziehern betreut wurden. Aber das Konzept eines Kinderdorfes in der abgelegenen Idylle funktionierte immer weniger, erzählt ein ehemaliges "Pestalozzi-Kind":
"Man hat schon wenig Kontakt nach draußen, man lebt in einem Land und ist schon eine Insel für sich."
Die Auslastung des Wohn- und Schulangebots ging immer weiter zurück, der Kinderdorfbetrieb wurde unrentabel, Mitarbeiter mussten entlassen werden.
Die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi organisiert und unterstützt heute vor allem Bildungsprojekte in aller Welt. Das Gelände in Trogen dient seit 2014 als interkulturelle Begegnungsstätte für Schweizer Schulklassen mit Jugendlichen aus Süd- und Osteuropa.
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