Vor 50 Jahren

"Ich sah manche interessanten Menschen"

Von Christian Linder · 20.04.2014
Wenn August Sander durch seine alte Plattenkamera hindurch auf die Welt schaute, konnte er auf weit mehr als ein halbes Jahrhundert zurückblicken in dem Wissen, dass seine Fotos uns von dieser Zeit für immer ein Bild überliefert haben.
"Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern und nicht etwa Trachten, das schafft der Blick dieses Photographen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zuletzt sein enormes photografisches Können."
Alfred Döblin schrieb das im Vorwort zu August Sanders 1929 erschienenem Buch "Antlitz der Zeit". Es enthielt sechzig Porträt-Aufnahmen, die Sander zu einem der berühmtesten Fotografen der Weimarer Republik werden ließen und bei deren Betrachtung nicht nur Döblin, auch Thomas Mann, Kurt Tucholsky oder Walter Benjamin sofort den Jahrhundert-Fotografen erkannten. Die Kunst seiner Wahrnehmung bestand darin, dass er in seinen Porträtfotos die Menschen nicht mit seinem Blick vergewaltigte, sondern den ihnen eigenen Ausdruck hervorbrachte und das Repräsentative ihres individuellen Schicksals im Kollektivschicksal deutlich machte - darauf beruht die emotionale Autorität seiner Fotos, ohne dass ihnen ein autoritärer Charakter innewohnt. Diesen Blick für das Typische einer Lebensbewegung hatte Sander früh ausgeprägt:
August Sander: "Ich sah manche interessanten Menschen. So zum Beispiel will ich Ihnen einen erzählen, der kam montags an, ein Fuhrmann, der war durstig, und wir hatten sehr gutes Wasser zu Hause, und da sagte er zu meiner Mutter, ich sollte Wasser bringen, er hätte so Durst; und dann brachte ich ihm das Wasser, und auf einmal da tranken die Pferde dann, und er bückte sich und trank mit den Pferden - so interessierten mich die Typen so von früh an."
Dass Sander zunächst vor allem Menschen aus dem Westerwald fotografierte, hatte mit seiner Herkunft zu tun. Er stammte aus dem benachbarten Siegerland, geboren am 17. November 1876 als Sohn eines Bergzimmerhauers in Herdorf, und arbeitete wie sein Vater bis zu seinem 18. Lebensjahr unter Tage, bis er nach einer Fotografenausbildung in Trier, Wanderjahren mit Aufenthalten in Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden und Berlin und der knapp achtjährigen Leitung eines Fotostudios im österreichischen Linz an der Donau 1910 in Köln im Stadtteil Lindenthal ein Atelier eröffnete.
Neue Art von Kulturgeschichte
Sein Plan war, mit seinen Porträtfotos eine neue Art von Kulturgeschichte in Form eines physiognomischen Zeitbilds zu schaffen. Das Buch "Antlitz der Zeit" war nur eine Art Prospekt dieser größeren Arbeit, die er "Menschen des 20. Jahrhunderts" nannte und in der er sechshundert Fotos zusammenbringen wollte. Zu den Bauern, Lehrern, Pastoren, Witwen, Kindern und Schafshirten aus dem Westerwald kamen Arbeiter hinzu, Notare, Künstler, Fabrikanten, Bäcker, Sekretärinnen.
August Sander: "Ich habe mir die Leute gesucht, wenn mir etwas fehlte, um die Lücken auszufüllen so nach und nach, bin auch lange gereist, über Städte und Dörfer gewandert ... Wenn man zu den einfachen Leuten kam und sie beschwerten sich, sie wären nicht gut oder so ähnlich, dann sagten die unverbildeten Bauernfrauen: Du bist wie du bist."
Sanders Sohn Erich wurde 1936 als Kommunist denunziert und zu zehn Jahren Haft im Gefängnis Siegburg verurteilt. Kurz darauf beschlagnahmten die Nationalsozialisten auch das Buch "Antlitz der Zeit", ließen die Restauflage einstampfen und die Druckstöcke vernichten. Da blieb Sander nichts anderes übrig, als sich verstärkt der Landschaftsphotografie zu widmen.
Eines seiner berühmtesten Fotos entstand im Siebengebirge und zeigt einen weiten Blick ins Rheintal, das unter mächtigen Wolkenbildungen liegt - ein Bild der Stille und fast der Leere, denn es sind die Wolken, die das Foto strukturieren, diese lautlos dahinziehenden Wolken, die, angesichts des Lebens- und Zivilisationslärms, vom Schweigen des Universums erzählen.
Nach 1945 lebte August Sander bis zu seinem Tod am 20. April 1964 in einem Dorf, Kuchhausen, im Westerwald. Stille, bedrückende Nachkriegsjahre, in denen Sander fast vergessen schien - bis der Photokina-Gründer L. Fritz Gruber 1951 sein Werk durch eine große Ausstellung wieder präsent machte und bis vier Jahre später, als Edward Steichen, der Direktor der photographischen Abteilung des New Yorker Museum of Modern Art, einige Fotos Sanders in die legendäre Ausstellung "The Family of Man" aufnahm, der Weltruhm kam.