Von tanzenden Göttern

Von Antje Stiebitz · 28.09.2013
In Berlin bietet die Tänzerin Rajyashree Ramesh Tanzunterricht an. Es ist der klassische indische Tanz Bharatanatyam. Ein mythologischer Tanz, der eng mit dem Hinduismus verbunden ist. Denn in dieser Weltreligion tanzen die Götter.
Durch den großen Proberaum im dritten Stock des Schöneberger Rathauses klingt zarter Gesang. Die Melodie richtet sich an den indischen Gott Krishna, ruft ihn an, sehnt ihn herbei. Die Tänzerin Rajyashree Ramesh unterrichtet Bharatanatyam, einen klassischen Tanz aus Indien. Ihre Schülerin, Eva Isolde Balzer, hat die Tanzausbildung gerade abgeschlossen, sie steht bereits auf der Bühne. Die Frauen tragen Salvar Kameez, eine traditionelle südasiatische Kleidung, ein längeres Hemd, das locker über eine Hose fällt, beides farbenfroh. Rajyashree Ramesh sitzt auf einem Stuhl und während sie singt, schlägt ihr Fuß den Takt.

Die anmutigen Gesten ihrer Hände akzentuieren den Text des Liedes, ihre dunklen, freundlichen Augen flirten und locken. Sie demonstriert ihrer Schülerin abhynaya, das theatralische oder darstellerische Element des traditionsreichen Tanzes. Dabei spielt die Tänzerin mythologische Erzählungen nach, schlüpft in die Rolle einfacher Menschen, von Helden, von Göttern. Lehrerin und Schülerin üben gerade eine Szene mit dem Gott Krishna, von dem erzählt wird, dass er als Kind gerne Butter gestohlen habe. Rajyashree Ramesh gestikuliert, während sie erklärt:

"So, deine ganzen Handbewegungen müssen diese Konsistenz von Butter zeigen, ja? Also nicht jetzt da rein, so, sondern genau. Wie würdest du? Du musst das ein bisschen so rauslöffeln, genau, das ist genauso hier der Grund, warum du das machst … ist … aus der Flüssigkeit holst Du diese Masse heraus, kuck mal.."

Der Gott Krishna als Kind, ebenso wie später als junger Mann, wenn er die Gopis, die Hirtenmädchen neckt, ist die beliebteste Gestalt im Bharatanatyam. Und erst wenn die Tänzer das Wesen seines mythologischen Charakters erkannt haben, können sie ihn auf der Bühne verkörpern, meint die Lehrerin Ramesh.

"In diesen drei Zeilen musst du etablieren, wer Krishna ist. Einmal ganz normal als Bhakta, dass du Sehnsucht hast, dass er kommen soll. Dann stellst Du diese Mutter dar, die dann halt eben mit der Butter … und dann das dritte Mal dann, eine der Gopis. Und so hast du dann die Möglichkeit in diesen drei Zeilen erstmal, oder Variationen, zu etablieren, wer Krishna ist."

Tanz wurde im Christentum lange Zeit als frivol, seine Körperlichkeit als anstößig verurteilt. Die Kirche erkannte zwar, dass die Ekstase des Tanzes religiöse Inspiration ermöglichen kann. Doch fürchtete sie nicht zuletzt, dass die individuell erlebte Gotteserfahrung ihren Einfluss mindern oder ihr Gottesbild in Frage stellen könnte.

Anders im Hinduismus, hier tanzen die Götter: In seiner Erscheinungsform als Nataraj, als "König des Tanzes", erschafft und zerstört der Gott Shiva den Kosmos durch seinen Tanz. Seine bronzene Götterstatue gehört meist zum Inventar der Tanzschulen und schmückt die Bühnen, auf denen die Tänzer ihre Kunst darbieten. In prächtigen Kostümen treten sie an religiösen sowie säkularen Feiertagen auf.

Das Wort Bharatanatyam stammt aus dem Sanskrit und bedeutet "Tanz Indiens". Der Tanz ist meditativ, besteht aus rhythmischen und erzählerischen Elementen. In der Grundhaltung dreht der Tänzer seine Beine nach außen und beugt die Knie. Auch bei hoher Dynamik bleibt der Körper stets kerzengerade aufgerichtet. Typisch für Bharatanatyam sind die rhythmische Fußarbeit sowie die ausgefeilte Mimik und Gestik

Bharatanatyam stammt aus der südindischen Tempelkultur. Über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten schrieben indische Gelehrte am Natyashastra, einer Art Leitfaden für Tanz. Und stellten ihn vermutlich im 5. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung fertig. Diese Sammlung von circa 6000 Versen beschäftigt sich intensiv mit der Kunst des Theaters, des Tanzes und der Musik. Ihre Grundsätze gelten bis heute.

Für Rajyashree Ramesh ist Bharatanatyam vor allem deshalb göttlich, weil die regelmäßige Tanzpraxis besondere körperliche Erfahrungen ermöglicht, Körper, Seele und Geist zusammenführt.

"Ich habe meinen ganzen Körper im Einsatz. So, und um diesen Körper im Einsatz zu haben, bin ich auch geistig dabei, es ist ja nicht so, dass ich einfach um mich herum nudele, ne, einfach ausgedrückt. Ich muss wirklich präzise tanzen. Ich muss wirklich jeden Finger benutzen, ich muss wissen, wo mein Fußgelenk ist, meine Wirbelsäule, mein Hinterkopf, alles, auf einer ganz reinen physischen Ebene muss ich wirklich voll präsent sein.

Und das erfordert auch eine gewisse geistige Konzentration. Ich denke, die Erfahrungen, die ich dadurch bekomme, dass sich mein Körper öffnet, alle diese Empfindungen führen mich auf eine Ebene, die mich glücklich machen. Und das ist eigentlich das, was man die Seele nennt in Indien, also diesen Zustand der Freude. Das ist das Urwesen, das ist das Wesen des Göttlichen. Das Wesen des Göttlichen ist Freude, ist Wonne."

Die indische Denkweise, erklärt Rajyashree Ramesh, trenne Geist und Körper nicht. Ohne Körper kein Geist. Im Westen sei dem Geist eine übermächtig wichtige Stellung eingeräumt worden.

"Wir denken, unser Geist ist da wo wir alles empfinden, aber der Geist hätte es nicht gewusst, wenn der Körper das nicht empfunden hätte."

Bharatanatyam bedeutet für Rajyashree Ramesh in erster Linie ein hartes körperliches Training. Und außerdem die Bereitschaft, Emotionen im eigenen Inneren auszuloten, um sie auf der Bühne offensichtlich und für das Publikum greifbar zu machen. Schafft es die Tänzerin, die verkörperten Empfindungen auf die Zuschauer zu übertragen, hat sie ihren göttlichen Auftrag erfüllt.

Im Laufe des Gesprächs mit der Tanzlehrerin fallen immer wieder die Begriffe "religiös", "spirituell" oder "göttlich". Doch Rajyashree Ramesh betont, dass sie keine Religionslehrerin ist. Tanzlehrer hätten vor allem die Aufgabe, den Tanz in den Körper einzuschreiben. Wer von ihr religiöse Begriffe und Konzepte erwarte, werde enttäuscht:

"Denn indem man denkt, dass das heilig ist, kann man das nicht tanzen. Aber indem man tanzt, vielleicht fängt man an zu verstehen, warum es heilig geworden ist."