Von Tango und Melancholie am Rio de la Plata

Von Anna Küch · 29.08.2012
Sechzehnspurige Avenidas, Kaffeehäuser, die an Wien erinnern und Tango im Freien. Buenos Aires lässt sich mit keiner anderen Stadt vergleichen. Und doch ist sie schwer zu fassen, zeigt sich mal mondän, mal melancholisch, oft hektisch, kosmopolitisch - und manchmal auch provinziell.
Das Haar ist auftoupiert, das Kleid glitzert, der Busen bebt: Virginia Luque steht auf der Bühne des Viejo Almacen in San Telmo. Viele Künstler sind an diesem legendären Ort schon aufgetreten. Virginia Luque zählt zu den berühmtesten. La estrella de Buenos Aires, der Stern von Buenos Aires, ist 84 Jahre alt.

Vier Mal die Woche tritt die alte Dame im Viejo Almacen auf, ein etwas heruntergekommener Kolonialbau an einer Straßenecke. Das Licht ist schummrig und es sind kleine Tische aufgestellt. Das Orchester ist im Dunkeln kaum zu erkennen.

Manchmal schafft es Virginia Luque kaum, die Treppe zur Bühne zu erklimmen. Die jungen Tänzer müssen ihr helfen. Doch wenn sie einmal singt, ist davon nichts mehr zu spüren.

"Wenn ich auf die Bühne komme und ein bisschen warte, dann wird es auf einmal ganz still. Da ist nichts mehr, kein Geräusch. Das ist die Kommunion zwischen dem Publikum und dem Künstler. Da fühle ich mich lebendig. Weil ich das mache, was ich mein ganzes Leben machen wollte."

Mit 13 Jahren stand sie zum ersten Mal als Schauspielerin auf der Bühne, mit 16 hatte sie ihre erste Filmrolle. Doch die Erfüllung fand Virginia Luque im Gesang, im Tango.

"Jeder Tango ist wunderbar, er ist ein Gefühl, hat mal jemand gesagt, ein Schriftsteller. Ein Gefühl, das man tanzt. Und das ist wahr. Der Tango ist die Seele von uns, von unserer Stadt."

Buenos Aires und der Tango, das ist nicht zu trennen. Gerade ist das Tangofestival zu Ende gegangen.

Überall in der Stadt wird getanzt, ertönt die melancholische Musik des Bandoneons, das etwas kleiner als das Akkordeon ist und auch keine Tasten hat. In den Palästen an der Avenida de Mayo, die den Häusern in Paris nachempfunden sind, bitten Maestros zur Tanzstunde. In der Nacht schieben sich die Paare in den Milongas, den Tangosalons, über die Tanzfläche. Am Sonntag zieht es viele in das historische Stadtviertel San Telmo, dort wo es noch schmale Kopfsteinpflastergassen und schöne alte Häuser gibt.

Die Straßen werden gesperrt, Antiquitätenhändler verkaufen Kunst, Schmuck und Kitsch, und es gibt Tango unter freiem Himmel.

"Das ist eine Volks-Milonga, für alle Leute frei, Tango Sozial sozusagen. San Telmo ist einfach besonders, hat seine Eigenheiten, ist Folklore, Tango, San Telmo ist Gemeinschaft."

Sagt Gürtelverkäufer Gustavo, selbst leidenschaftlicher Tänzer und nickt Marisa zu. Die blonde 50jährige hat den Blick verstanden, sie folgt Gustavo auf die Tanzfläche unter grünen Platanen. Die unausgesprochenen Regeln des Tangos funktionieren auch unter freiem Himmel.

Etwas weiter entfernt beobachtet Gustavo Ferrari das Treiben, während er seine Pinsel ordnet. Auf dem Tisch vor ihm liegen kunstvoll verzierte Schilder.
Gustavo ist Fileteador, er bemalt Cafés, Häuser und Bars mit Linien, Blumen und Ranken, ein Kunststil der typisch ist für Buenos Aires. In seinem Beruf kommt Gustavo viel in der Welt herum, die Situation der Stadt macht ihm Sorgen.

"Die Stadt wird immer mehr allein gelassen, wird immer schmutziger, die aktuelle Regierung kümmert sich weder darum, die Stadt in einem guten Zustand zu hinterlassen, noch um Fragen der Kultur oder Bildung, es wird immer hässlicher, trotzdem liebe ich Buenos Aires, ich würde nicht woanders leben wollen."

Man muss nur einige Straßenzüge weiter gehen, und weiß, wovon der Künstler spricht, Müll türmt sich an den Ecken, Busse rattern ohne Rücksicht auf Fußgänger vorbei. Hochhäuser ragen über alten Gemäuern in den Himmel. Wenn das Geld in der Stadtkasse knapp ist, dann wird nachts das Licht ausgedreht. Vor kurzem streikten die U-Bahn Fahrer. Zehn Tage lang fuhr unter der Erde kein Zug, bildeten sich über der Erde lange Staus, erzählt Gustavo:

"Es heißt immer, dass es uns doch viel besser geht heutzutage. Und klar, wenn man unsere Situation heute mit der 2001 vergleicht, als die Wirtschaftskrise fast unser Land zerstört hat, natürlich geht es uns da besser, alles was man mit diesem Moment vergleicht ist besser. Aber die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich zusehends, alles wird teurer, die Inflation ist immens,
mir macht das alles ein bisschen Angst, wenn ich an die Zukunft denke."

Touristen kriegen davon wenig mit in San Telmo auf dem Antiquitätenmarkt. Der Winter ist mild und die Menschen tanzen Tango auf den Straßen, von einer Krise ist wenig zu spüren.

"Ich weiß nicht, ob der Tango die Seele von Buenos Aires ist, aber er ist auf jeden Fall ein wichtiger Bestandteil der Kultur, aber es gibt noch so viel mehr. Für mich ist auch die Geselligkeit der Menschen ein wichtiger Teil der Seele. Das ist ganz typisch für Buenos Aires, sich in Bars und Cafes zu treffen und über alles mögliche zu sprechen. Über Frauen, Politik, was auch immer. Die Fähigkeit nicht viel zu wissen, aber darüber wie ein Experte zu sprechen."

Einer der besten Orte, um genau diese Gespräche zu führen, ist das Café Tortoni auf der Avenida de Mayo. Es wurde 1859 erbaut. Die roten Ledersessel, die vielen Spiegel und die goldenen Lüster erinnern an vergangene Zeiten. Zwischen 1900 und 1950 waren hier Musiker, Dichter und Denker Stammgäste. Arthur Rubinstein, Jorge Luis Borges, Garcia Lorca, Ortega y Gasset. Geschäftsführer Roberto Fanego kann sie alle aufzählen.

"Da hinten hängt ein Foto von mir neben dem Schriftsteller Borges und Julio de Caro, ein berühmter Komponist und Dirigent eines Tangoorchesters. Das war in der Epoche als ich noch Haare hatte.. also das ist schon sehr lange her."

Bis heute sitzen die Porteños, wie sich die Einwohner von Buenos Aires gerne nennen, im Kaffeehaus. Sie lesen Zeitung, oder würfeln wie drei alte Herren in einer Ecke:

"Schau mal die Sache ist so, morgens frühstücken wir zuhause Kaffee und Medialunas, die kleinen Halbmonde. Hier brauchen wir nur einen kleinen Kaffee, um stundenlang zu reden, nichts mehr. Ein Kaffee für einen Schwatz, für eine Verabredung. Wenn du ein Mädchen fragst, ob sie mit dir einen Kaffee trinken will, ist das schon der Beginn einer Beziehung."

"Die Touristen fotografieren uns, sie filmen uns, es gibt nicht mehr viele, die hier würfeln. Wir sind für sie etwas sonderbares, die letzten Mohikaner, Wenn wir sterben, gibt es von uns dreien ein Denkmal, so wie von Carlos Gardel und Borges da vorne. Dann wird man unsere Figuren an einem Tisch sitzen sehen und würfeln."

Auf einem kleinen Platz in Villa Urquiza, im Nordwesten von Buenos Aires haben sich an diesem Sonntag-Nachmittag Frauen, Männer und Kinder versammelt. Sie haben Tische und Stühle aufgebaut, es gibt Mate Tee und Kuchen. Konzentriert beugen sich viele über winzige Papiere, auf die sie Bäume, Tauben, Sonnenstrahlen oder Striche malen.

"Jedes Papierchen hier kommt auf eine große Fahne..
Aus all diesen kleinen Bildchen hier, wollen wir eine riesige Fahne machen. Mit 30 000 Bildern als Erinnerung an die 30 000 Verschwundenen hier im Land, die soll bei den kommenden Prozessen geschwungen werden."

Mann:
"Wir haben alle eine Beziehung zur Vergangenheit, alle die hier heute sind, ich hatte auch viele Freunde aus der Schule, die einfach verschwunden sind, das ist bei den meisten von uns so."

Frau:
"Es ist ein dunkler Fleck in der Geschichte Argentiniens und es ist wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, damit sich so etwas nie wiederholt."

In keinem anderen Land Südamerikas ging das Militär so brutal vor wie in Argentinien. Zwischen 1976 und 1983 verschwanden 30.000 Menschen. Sie wurden entführt, gefoltert, ermordet. Manche wurden in Massengräbern verscharrt, andere aus Flugzeugen ins Meer geworfen. Die Militärs verfolgten alles was ihnen links und andersdenkend erschien, radikale Untergrundkämpfer genauso wie harmlose Studenten, Lehrer oder Sozialarbeiter. Eine der größten Folterkammern war die Escuela de Mecanica de la Armada, die Technische Marineschule in Buenos Aires, kurz ESMA, sagt Martin Malamud. Die ESMA liegt direkt an der Avenida Libertador

"Das ist eine viel befahrene Straße. Dort fuhren Autos ohne Nummernschilder rein und dort kamen die Entführungskommandos raus. Es war unmöglich, das nicht mitzukriegen.

In Buenos Aires waren 20 bis 30 geheime Gefängnisse, wo Menschen verschwanden oder gefoltert wurden. Mitten im Zentrum. Die Polizeistationen waren abgesperrt wie Hochsicherheitstrakte."

Martin Malamud ist Professor an der Universität von Buenos Aires. Er hat mehrere Gedenkstätten mit aufgebaut. Viele wissen bis heute nicht, was mit ihren Angehörigen geschah. Durch Kunstaktionen, Demonstrationen und vieles mehr, versuchen engagierte Bürger immer wieder, daran zu erinnern .

"Ich habe in den letzten Jahren unglaubliche Geschichten gehört, von Leuten, die niemals Anzeige erstattet haben, und niemals etwas gesagt haben.

Einmal war ich hier um die Ecke in einem Laden von einem netten älteren Paar, die Dame erzählte mir, dass es ihrem Mann nicht gut gehe. Seit der Sache sei er nicht mehr derselbe. Welche Sache fragte ich. Es kam heraus, dass der Mann in der Diktatur eine Woche verschleppt und gefoltert wurde. Bis heute hat er sich nicht davon erholt."

Langsam wird es dunkel auf dem Platz in Villa Urquiza, doch immer noch kommen viele Bürger und Anwohner, um an der Aktion teilzunehmen. Fünf mal fünf Zentimeter sind die kleinen Bildchen, die an diesem Sonntagnachmittag hier gemalt werden. Noch ist viel zu tun, bis die Fahne fertig wird.

Manche sagen, die Diktatur sei ein Grund dafür, dass es so viele Psychologen in Buenos Aires gibt. Andere streiten das ab. Fakt ist, die Porteños, haben einen Hang zur Couch. Im Fernsehen und Radio wird analysiert, am Kiosk verkaufen sie Freuds Schriften. In Buenos Aires kommen rund 800 Psychologen auf 100.000 Einwohner. Das ist Weltrekord.

"Für niemand ist es ein Tabu, es ist auch nicht so, dass du zum Psychologen gehst, weil du verrückt bist oder wirklich ein ernsthaftes Problem hast, du gehst hin um mit deinem Leben klarzukommen."

sagt Ximena Fernando. Die 33-Jährige sitzt in einem Café in dem Viertel Villa Freud, dass nach dem Gründer der Psychoanalyse Sigmund Freud benannt ist, weil sich hier besonders viele Psychologen niedergelassen haben. Ximena hat schon mehrere Therapien hinter sich, genau wie ihre Freunde und Bekannten.

"Das sind Therapien, die dich in deine Kindheit zurückführen, in dein Unterbewusstsein, an Momente in den ersten Lebensmonaten. Was weiß ich was ich da passiert ist. Aber der Psychoanalytiker sagt dir, dass das sehr wichtig und prägend ist. Und wenn du dann auch einen Traum gehabt hast, der etwas bedeuten könnte, ist das super, damit können sie dann dein Leben retten. Aber es vergehen Jahre, in denen du über Träume redest und über deine Kindheit und dein aktuelles Leben ist total im Eimer, das ist genial und wir alle machen das mit ... "

Selbst Hunde haben in Buenos Aires das Recht auf einen guten Psychotherapeuten. Hier sind nicht nur Massagen und kosmetische Behandlungen für Dogge, Dackel und Setter üblich, nein auch zur psychologischen Behandlung begleiten die Bewohner ihre Lieblinge. Es lohnt sich sagt ein Paar, dessen Schnauzer von einem Auto angefahren wurde. Das Tier war traumatisiert und musste zur Therapie.

"Es ging ihm sehr schlecht, er hielt es kaum aus, und schon nach dem zweiten Behandlung war er ein anderer Hund,. Und langsam wird es besser."
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