Von Schwalben und Pfiffen

Von Martin Hartwig · 01.07.2012
Einen Freistoß oder einen Elfmeter rauszuholen, kann man lernen. Zum Beispiel an der renommierten Münchener Fußballschule. Dort erfahren junge Spieler unter anderem, wie sie ein Foul vortäuschen.
Nachspielzeit im Viertelfinale England gegen Italien. Ashley Young bekommt den Ball in der Nähe der Mittellinie. Von schräg hinten kommt Christian Maggio herangerutscht und spitzelt ihn weg. Mit einem Aufschrei wirft sich Young zu Boden.

Der Schiedsrichter pfeift, Maggio kriegt Gelb und ist im nächsten Spiel gesperrt. Genauso war's gedacht! Youngs Vortrag war eine geradezu mustergültige Umsetzung dessen, was an der renommierten Münchener Fußballschule schon jungen Spielern beigebracht wird:

"Das wollen wir jetzt einmal probieren. Das ist wichtig für dein fußballerisches Leben. Und los geht's und Hopp. Ja ... Gut ... Aufstehen wieder alle. Bei dem einen oder anderen war der Schrei noch nicht so gut. Das ist wichtig im Ungang mit dem Schiedsrichter, um ihm das dann auch zu verkaufen. Ich müsst lauter Schreien!"

Trainer Ferdi Reinhart leistet hier an seinen Schützlingen aus der C-Jugend Grundlagenarbeit.

"Das Wichtigste beim Schwalben, bei der Schwalbenschule, damit man sich so richtig theatralisch fallen lässt, ist erstens schon mal die Bewegung. Das heißt, wenn ich einen auf den Fuß drauf krieg, dann ist das Aller-, Allerwichtigste, dass ich mir genau da hin fasse, und zwar extrem übertrieben!"

"Fallen - liegen bleiben - diskutieren", so lautet der Titel der Lehr-DVD, die die Schule am 1. April dieses Jahres herausgegeben hat. Sie widmet sich ganz dem Schwalbentraining. Gewisse Grundkenntnisse können die Trainer voraussetzen - schließlich bieten seit 2002 auch Playstation Fußballspiele eine Schwalbenfunktion an. So kann man auch jenseits des Platzes üben, wie man Schiedsrichtern wie Hellmut Krug Probleme bereitet.

Krug: "Aus der Sicht des Spielers: Er muss das natürlich so geschickt machen, dass der Schiedsrichter fasst zu der Überzeugung gelangen muss, dass es ein Vergehen, ein Foulspiel war. Das ist natürlich häufig sehr, sehr schwierig auch für den Schiedsrichter zu erkennen, weil viele Spieler da geschickt sind, weil das ganze in einem hohem Tempo anläuft und eine Schiedsrichter muss schon optimal stehen um das genau zu erkennen."

Das Vortäuschen eines Fouls mit dem Ziel, den Schiedsrichter zu einer für das eigene Team vorteilhaften Entscheidung zu bringen, ist gegen die Regel. Dem Verständnis der meisten Deutschen nach ist es unsportlich und passt nicht in unsere ehrliche Fußballkultur. Eigentlich ist es sowieso eher typisch für Südeuropäer:

Fußballschule: "Wenn man sich die Seria A anschaut, in Italien. Das ist Wahnsinn!"

In der Schwalbenstatistk der EM 2008 schlägt sich dies jedoch nicht nieder. Sie wird angeführt von Russland und - Deutschland. Eigentlich waren das natürlich keine Schwalben - unsere Spieler haben höchstens was rausgeholt.

Krug: "Das ist leider so, das ist dann immer die persönliche Sichtweise. Das wird dann immer auch irgendwie gut geheißen. Und vielleicht sagt dann auch einer: Ja, das war zwar nicht in Ordnung, aber immerhin wir haben den Strafstoß bekommen. Aber wehe, die eigene Mannschaft ist betroffen."

Auffällig unauffällig war in diesem Turnier Christiano Ronaldo. Der portugiesische Stürmer hat sich in der Vergangenheit mit einigen legendären Flugeinlagen einen Namen gemacht. In England gibt es sogar Hunde, die darauf trainiert sind auf den Zuruf "Christiano Ronaldo" umzufallen und reglos liegen zu bleiben. Ähnliches ist für einen zweiten berühmten Tiefflieger dokumentiert: Didier Drogba.

Verhaltensforscher der Universität Queensland haben in einer Untersuchung 2400 Stürze auf dem Spielfeld analysiert. Sie fanden heraus, dass etwa sechs Prozent davon eindeutige Schwalben waren und dass es mehr wurden, je näher es an den Strafraum ging. Das interessanteste Ergebnis ihrer Untersuchung halten sie jedoch unter Verschluss: In manchen Ligen fallen Schiedsrichter offenbar deutlich häufiger auf Schwalben rein als in anderen. Aus ethischen Gründen wurden diese Informationen jedoch anonymisiert.

"Mir erscheint sechs Prozent recht wenig, weil wir haben eben Täuschungsversuche, die möglicherweise auch nicht so deutlich auffallen, weil sie einfach als Foul im Mittelfeld gepfiffen, kaum für Aufsehen, für Erregung sorgen."

Freunde der großen Schauspielkunst kamen der EM bisher kaum auf ihre Kosten, was auch daran liegen mag, dass die UEFA den Schiedsrichtern die Vorgabe gegeben hat, sie diesmal konsequent zu ahnden. Liebhaber der Kleinkunst allerdings konnten in jedem Spiel schöne Szenen beobachten. Auch wenn es dabei immer wieder Fälle von Overacting gab - so nennen die Amerikaner den übertriebenen Einsatz nonverbaler Ausdrucksmittel in der Schauspielerei.

Italien - England, 18. Minute. Balotelli stößt begleitet von einem Verteidiger in den Strafraum vor. Als sich abzeichnet, dass der Torwart vor ihm am Ball sein wird, strauchelt er und fällt. Nach einem einfachen Überschlag, richtet er sich auf, reckt die Hände und blickt fordernd zum Schiri. Als er realisiert, dass noch nicht mal seine Mannschaftskollegen seine Empörung teilen, fügt er sich in kopfschüttelnd in ein ungerechtes Schicksal.

Dass der Pfiff ausblieb, lag vor allem am mangelnden Timing der Aktion. Doch das kann man trainieren.

Fußballschule: "Jetzt wollen wir Schwalbe in der Aktion haben. Ganz wichtig ist das Timing! Das war zu früh! Klasse, Jungs, genauso schaut das aus! So muss man trainieren, damit man ein guter Fußballer wird!"

Jedes Mal, wenn es zu einer spielentscheidenden Schwalbe kommt, flammt eine Debatte über eine härtere Bestrafung der Täter auf. Hellmut Krug hält davon jedoch wenig:

"Manchmal wünscht sich das der Fußballfan, das kann ich auch nachvollziehen. Auf der anderen Seite ist es so: Der Druck für den Schiedsrichter ist ohnehin schon ungeheuer groß. Er gibt nur gelb, wenn er seiner Sache 100-prozentig sicher ist. Das ist dann auch mal ausreichend. Aber stellen Sie sich doch mal vor, er müsste dann auch rot geben bei einer Schwalbe. Und wenn er sich dann möglicherweise auch mal irrt. Wir denken an die Europameisterschaft. Da hat Karagunis für ein an ihm begangenes Foul im Strafraum statt des fälligen Strafstoßes 'ne gelbe Karte wegen einer Schauspielerei erhalten. Jetzt stellen Sie sich mal vor, das wär dann auch gleich 'ne rote Karte gewesen, was das bedeutet hätte."

Es bleibt also so unsportlich, wie es ist. Die gute Nachricht jedoch lautet: Das Volkstheater lebt und vielleicht erleben wir heute Abend ja doch noch große Schauspielkunst.


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