Von Jähzorn und Angst

14.01.2008
Die junge Finnin Anna lebt in ständiger Erinnerung und im tiefen Bemühen, vergangene Ereignisse so zu deuten, dass niemand ungerechtfertigt in Verdacht gerät.
Zentrum dieser fast aussichtslosen Anstrengungen ist ihr zwei Jahre älterer Bruder Joona, der davon überzeugt ist, dass der Vater die Familie umbringen wollte, als er mit dem Auto gegen einen Baum fuhr. Joonas Verdacht ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen, denn der Vater, ein Pfarrer, neigt zu cholerischen Gewaltausbrüchen. Einmal peitscht er Joona mit einem Gürtel regelrecht aus, nachdem dieser ihn als vom Teufel besessen bezichtigt hatte.

Anna hingegen erinnert sich auch an die guten Zeiten im Leben ihrer Familie. Ihr hatte der Vater stets Schutz geboten, wenn die Welt über sie hereinbrach, und so will sie nicht ihrem Vater die Stirn bieten, sondern dem Leben. Die Vergangenheit, so ihr sehnlichster Wunsch, darf nicht Besitz von ihr ergreifen und die Gegenwart überschatten. Joona hingegen steigert seine Kindheitserfahrungen zu einer Psychose, die offenbar nur in einer Klinik behandelt werden kann.

Anna gewinnt den Amerikaner Ian als Freund, dessen Vater traumatisiert aus dem Vietnamkrieg heimgekehrt war, was bedrohliche Situationen in dessen Leben ausgelöst hat. Gemeinsam führen Ian und Anna ein Leben voller Widersprüche, Zögerlichkeiten, Kontemplation aber vor allem: Verständnis füreinander.

Elina Hirvonens Debütroman ist ein leises aber unerhört eindringliches Buch. Die Autorin schreibt in einem fast journalistischen, objektiv anmutenden Stil. Dass sie es vermag, innerhalb einer schnörkellosen Sprache die Widersprüche des Lebens so hautnah in Szene zu setzen, ist ihre große Kunst und geradezu ein Leuchtpunkt des Romans. Der Autorin ist es im Wortsinn "fabelhaft" gelungen, subjektive Erinnerungen mit objektiven Geschehnissen so geschickt zu verweben, dass der Leser das Dilemma der Hauptfigur Anna - ihre innerliche Zerrissenheit beim gleichzeitigen Versuch, ihr eigenes Schicksal und das ihr nahe stehender Personen zu meistern - am ganzen Körper spürt. So dicht, so packend und gleichzeitig unaufgeregt können sich nur wenige Schriftsteller in das Leben anderer hinein versetzen.

"Erinnere Dich" ist viel mehr als die Schilderung vom Auf und Ab in Kindheit und Jugend; der Roman ist ein Buch über das Leben. Elina Hirvonen stellt alle wichtigen Fragen und antwortet auf sie, ohne auch nur den leisesten falschen Anspruch auf Richtigkeit zu erheben. Immer wieder wird der Leser versucht sein, das Buch auf den Schoß sinken zu lassen, in sich zu gehen und die gleichen Fragen im eigenen Leben beantworten zu wollen: Wo gerät etwas auf die schiefe Bahn? Welches sind die Auslöser für Gewaltausbrüche und für Ungerechtigkeiten? Kann man einen Menschen gleichzeitig mögen und verabscheuen? An welcher Stelle wird aus einer wütenden Reaktion eine Psychose? Welche Rolle spielen familiäre Zusammenhalte und Freundschaften? Wo hört Erinnerung auf, und wo beginnt Einbildung?

Elina Hirvonen begnügt sich aber nicht mit der gerade geschilderten Ebene. Geschickt verknüpft sie Annas Erinnerungen mit tatsächlichen Ereignissen. Der 11. September 2001 schockiert ihre Generation, die US-amerikanische Reaktion darauf nicht minder. Eine in der Rückblende geschilderte politische Demonstration gegen den Vietnamkrieg wird am Protestverhalten gegen einen bevorstehenden Einmarsch im Irak gespiegelt, und man stellt fest, dass die Menschheit nicht wirklich aufgeklärter ist.

Trotzdem hat die Autorin nicht den klassischen Entwicklungsroman in ein neues Gewand gesteckt. Das Debüt der finnischen Autorin, die auch als Journalistin, Produzentin und Regisseurin arbeitet, ist uneingeschränkt zu empfehlen.

Rezensiert von Roland Krüger

Elina Hirvonen: Erinnere Dich
aus dem Finnischen von Elina Kritzokat
dtv München, 2008
160 Seiten, 12,50 Euro