"Von einem Land zum anderen vertrieben"

Rudko Kawczynski im Gespräch mit Dieter Kassel · 09.09.2010
Die Europäische Kommission nehme es seit Jahrzehnten hin, dass Roma in Europa diskriminiert werden, sagt Rudko Kawczynski vom European Roma and Travellers Forum. Die EU sei gefordert, bei ihren Mitgliedsstaaten auf die Einhaltung der Menschenrechte zu drängen.
Dieter Kassel: Die massenhaften Abschiebungen in Frankreich haben eine Debatte über die Situation der Roma und den Umgang mit ihnen in den Ländern der Europäischen Union ausgelöst, eine Debatte, die keineswegs auf die Lage in Frankreich beschränkt ist. Juristisch und menschenrechtlich umstrittene Ausweisungen gibt es auch in anderen EU-Staaten.

Über die Lage der Roma überall in Europa wollen wir deshalb jetzt mit Rudko Kawczynski reden, er ist der Präsident des European Roma and Travellers Forum. Das European Roma and Travellers Forum hat seinen Sitz in Straßburg und arbeitet dort eng mit dem Europarat zusammen. Schönen guten Tag, Herr Kawczynski!

Rudko Kawczynski: Einen schönen guten Tag!

Kassel: Bleiben wir doch zunächst mal in Frankreich. Die Regierung da wehrt sich ja gegen die Vorwürfe, die es von allen Seiten gibt, nach den Abschiebungen, unter anderem mit dem Argument, juristisch seien diese vollkommen eindeutig. Sehen Sie zumindest das ähnlich?

Kawczynski: Na ja, zunächst mal muss man festhalten, dass es nicht so eindeutig ist – zwar juristisch eindeutig, aber eindeutig falsch, denn schon seit Langem wissen wir, dass es nicht zulässig ist, dass es sogenannte Kollektivabschiebungen gibt. Die gab es weder im Asylrecht noch nach der Genfer Flüchtlingskonvention, noch ist sie erst recht nicht vorgesehen nach den europäischen Verträgen.

Kassel: Nun sagt die Regierung in Frankreich, da geht es um Leute, die diese drei Monate, die jeder Bürger der Europäischen Union, das sind die Roma ja auch, die jeder Bürger der Europäischen Union in jedem Land verbringen darf, überschritten haben, und danach müsse man nachweisen – das ist auch so innerhalb der EU –, dass man über ein Einkommen verfügt in dem jeweiligen Land, und das täten eben die Personen, die man da abgeschoben hat, nicht.

Kawczynski: Das mag so in der Tat richtig sein. Es ist richtig, dass es einen begrenzten Aufenthalt für alle Personen innerhalb der Europäischen Union gibt, der sich auf drei Monate beschränkt, nur ist das jeweils eine Einzelfallprüfung. Hier nun so etwas als kollektive Abschiebung zu deklarieren und sozusagen als Kampagne zu betreiben, zeigt eigentlich, dass da was anderes dahintersteckt, und nicht etwas, was nicht eine Selbstverständlichkeit in der Europäischen Union ist.

Denn so was passiert ja überall tagtäglich, ja nicht nur mit Roma, sondern auch mit anderen Menschen, die sich teilweise halb legal – sage ich mal vorsichtig – innerhalb der Europäischen Union aufhalten würden. Aber hier, und das unterscheidet es von diesen Einzelfallprüfungen und von der generellen Handhabung, dass hier generell gesagt wird, so ein Pauschalschlag, also wir machen jetzt eine Politik, und sozusagen alle Roma, die sich in Frankreich aufhalten, sind illegal, und das stimmt eben nicht.

Kassel: Die Europäische Union hat sich erst in der vergangenen Woche das erste Mal überhaupt zu den Abschiebungspraktiken in Frankreich geäußert. EU-Ratspräsident Barroso hat in seiner Rede an die Union vorgestern nur sehr, sehr allgemein über Menschenrechte und darüber, dass jedes EU–Land die beachten müsse, gesprochen, nichts Konkretes gesagt, wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung?

Kawczynski: Nun, wir dürfen ja eins nicht vergessen, und da möchte ich gerne auch noch mal zitieren den Historiker Professor Wippermann, der wirklich auch seit vielen, vielen Jahren an diesen Studien, vergleichende Studien Antiziganismus und Antisemitismus, arbeitet, wobei er ganz klar und deutlich sagt, und das ist auch unsere Erfahrung, dass mittlerweile der Aniziganismus zum kulturellen Kodex in Europa gehört, also der Ausschluss der sogenannten Zigeuner, der Roma und Sinti und anderer Gruppen aus der Gemeinschaft und nicht nur aus der Europäischen Gemeinschaft jetzt im juristischen Sinne, sondern überhaupt aus allen gesellschaftlichen, aus dem ganzen gesellschaftlichen Kontext in Europa.

Und deshalb macht es schon einen großen Unterschied, ob man jetzt von –- um noch mal zurück auf Frankreich zu kommen – von einzelnen Fällen spricht oder so ganz generell sagt, was hier passiert, ist sozusagen eine Befreiungspolitik von den Zigeunern aus unserem Land.

Kassel: Aber wie erklären Sie sich allein die zeitliche Verzögerung in der Reaktion überhaupt, diese konkreten Abschiebungen, die wir zum Anlass für unser Gespräch nehmen, in Frankreich, begannen im Juli und die allerersten Äußerungen aus Brüssel dazu gab es wie gesagt letzte Woche?

Kawczynski: Es gab nicht nur – das muss man auch in diesem Zusammenhang mal sehen – eben nicht nur in Frankreich diese Abschiebungen. Sie haben das, glaube ich, vorhin auch schon ein mal erwähnt, dass es derartige Abschiebungen eigentlich seit Jahrhunderten und ganz besonders auch seit dem Zweiten Weltkrieg gibt und ganz besonders auch noch mal nach 1990, nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Ostblockstaaten, des ehemaligen Ostblocks. Wir haben diese Abschiebewellen überall in Europa, auch in Deutschland.

Was hier den Unterschied macht, ist, dass Frankreich – und das ist natürlich auch ein positives Zeichen – dass die französische Gesellschaft das nicht toleriert. Dass es dort eben noch andere, ein anderes Verhältnis zu Menschenrechten gibt und dass man dort auf die Straße geht für die Roma oder für die Menschenrechtspolitik oder für das Durchsetzen einer Menschenrechtspolitik in Frankreich und sozusagen der Druck von dort aus auch auf die Europäische Gemeinschaft, auch auf die Europäische Kommission ausgeübt wird, denn die Europäische Kommission nimmt es seit Jahrzehnten hin, dass Roma in Europa diskriminiert werden. Es gibt dort nichts, aber wirklich nichts, was diese Politik stoppen könnte.

Kassel: Nun ist die Gruppe der Roma in Frankreich durchaus nicht homogen, es gibt – das sind ja immer nur Schätzungen, diese Zahlen, aber es gibt in etwa 400.000, die meisten davon sind französische Staatsbürger, die etwa – wieder Schätzungen – 20.000, um die es jetzt konkret geht, auch bei diesen Abschiebungen, die kommen überwiegend aus Bulgarien und Rumänien. Was veranlasst die denn überhaupt dazu, ihre Heimatländer zu verlassen und zum Beispiel nach Frankreich zu gehen?

Kawczynski: Also grundsätzlich ist es so, dass die Situation sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien als auch in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks eigentlich katastrophal ist. Dort reicht es von Mordkommandos in Ungarn, wo systematisch Roma ermordet werden, über die Situation in Bulgarien, wo Menschen, Roma, als Sklaven aus Familien gekidnappt werden und im Westen zur Prostitution gezwungen werden von Kriminellen, und bis hin zu Rumänien, wo es wirklich über zwei Millionen Menschen gibt, die unter Bedingungen leben, die kann man durchaus mit Südafrika vergleichen.

Das sind natürlich Gründe, die auch schon seit vielen, vielen Jahren dazu geführt haben, dass Menschen immer wieder geflohen sind und dann Asyl beantragt haben, nach der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Dieses gibt es im Zusammenhang mit der Europäischen Union nicht mehr. Also wir haben die paradoxe Situation, dass Flüchtlinge, die aus einem europäischen Land, in einem europäischen Land verfolgt werden, ins andere europäische Land fliehen, nicht mehr die Möglichkeit haben, als Flüchtlinge anerkannt zu werden, sondern eben die paradoxe Situation, dass sie plötzlich einerseits EU-Bürger sind mit der Freizügigkeit und andererseits aber gleichzeitig ihnen verboten wird, ihr Leben zu schützen.

Also man sieht, dass die in einer furchtbaren Situation, einer Ausnahmesituation sind als Roma, und dass es keinen Staat gibt, der sich wirklich für die Belange und die Rechte der Roma einsetzt und ihnen einen Schutz gewähren kann und auch nicht will.

Kassel: Nun gibt es aber natürlich leider Gottes zahlreiche Fälle von Menschen, die aus Osteuropa kommen, die in Westeuropa oder irgendwo anders zur Prostitution gezwungen werden, die mit kriminellen Methoden überhaupt aus ihren Ländern woanders hinverschleppt werden, nicht nur bei Roma. Ist das wirklich ein besonders großes Problem, gerade bei denen?

Kawczynski: Ja, schauen Sie, hier gibt es eine Systematik. Die Menschen, unsere Menschen, werden dafür missbraucht, ausgebeutet, es ist wirklich systematisch. Es beginnt bei – zum Beispiel in der Ukraine, jetzt nicht unbedingt Europäische Union, aber wir denken ja auch darüber nach, das zu erweitern, so dass dort kein Unterschied mehr ist zwischen kriminellen Vereinigungen, Polizei und Politik. Man muss es wirklich so krass auch ausdrücken. Und, dass die Roma die geeignetste Gruppe ist, an der man Unrecht begehen kann, aus der die Kinder gestohlen werden, zum Beispiel auch in der Ukraine – es gibt dort Hinweise, dass Kindern Organe entnommen werden für den illegalen Organhandel –, und man sieht, dass wir als Gruppe ständig unter einer einem Verfolgungsdruck leiden, der nicht vergleichbar ist mit Einzelfällen. Es gibt dort immer mal eine Familie oder eine Frau oder einen Mann, der zu irgendetwas gezwungen wird und in irgendwelchen kriminellen Strukturen landet.

Hier ist es eine Systematik, und ich möchte mich jetzt auch nicht zu stark darauf jetzt konzentrieren, dass in Bulgarien jetzt es eine bestimmte Form von Gesellschaftskriminalität gegen Roma gibt, sondern wir haben eine Situation, dass Roma von einem Land zum anderen vertrieben, abgeschoben werden. Wir haben zwölf Millionen Roma in Europa, die unter fürchterlichen Bedingungen leben, die nach 1945 aufgeteilt worden sind, Ost und West, dass die Flüchtlinge, die geflohen sind vor der Verfolgung des Nationalsozialismus, nunmehr mit dem Zusammenführen der Europäischen Union wiederum in einen Teufelskreis geraten von Abschiebung, Vertreibung, Kriminalisierung, bestenfalls Diskriminierung.

Und wir dürfen auch nicht vergessen, wir haben in Europa eine Arbeitslosenquote bei Roma bei weit über 90 Prozent. Die Ersten, die ihre Arbeit verloren haben nach der sogenannten Wende, waren die Roma – über 90 Prozent der Roma haben ihre Arbeit verloren, die sind schlicht und ergreifend auf die Straße gesetzt worden, und nicht, weil sie eben nicht arbeiten wollten, sondern weil es diesen, ja, diesen kulturellen Kodex des Antiziganismus in Europa gibt. Und darüber müsste man diskutieren, und die Europäische Union verweigert sich seit mindestens 20 Jahren, also seit der Wende, wo ich auch persönlich mit verschiedenen Kommissaren in der Osterweiterung gesprochen habe.

Schlicht und ergreifend wird hier dieses Problem nicht gesehen, als Problem, das die Roma in Europa haben, sondern andersrum, es werden immer wieder – und das erleben wir jetzt auch in Frankreich wieder als Symptom –, dass sozusagen diese Diskriminierung als Selbstverteidigung von Staaten gegenüber den bösen Zigeunern dargestellt wird. Und das muss aufhören, das geht so nicht weiter. Wie lange will sich Europa noch erlauben, dass Menschenrechte für Roma, für eine der größten Minderheiten der Roma nicht gilt, dass die Roma als solche, als nationale Minderheit überhaupt in Europa keine Rolle spielen. Das geht nicht!

Kassel: Was es nun aber gibt in der EU, sind ja Gelder für die Integration von Minderheiten, auch da gehen die Zahlen wieder durcheinander, sicher ist zumindest, dass die Europäische Union von 2007 bis 2010 zwölf Milliarden generell für die Integration von Minderheiten ausgegeben hat. Im Moment gibt es auch eine Diskussion darüber, wieso auch noch zusätzliche Gelder, die es gerade für die Integration von Roma eigentlich gegeben hat, nicht abgerufen wurden von den Ländern, aber es wird ja Geld ausgegeben. Was sind denn das für Integrationsprojekte, die ja in Ihren Augen offenbar nicht fruchten?

Kawczynski: Also es gibt im Englischen das schöne Wort: nice looking but useless. Es sind wirklich ganz kleine Projekte, die man vergleichen kann mit ganz kleinen missionarischen Bestrebungen in Schwarzafrika vor 50 Jahren. Also was wir hier, um das mal zusammenzufassen, in Europa nicht haben, ist wirklich eine Menschenrechtspolitik. Es geht hier nicht um Geld. Zunächst einmal sind die Staaten für ihre Staatsbürger zuständig. Das Problem, dass Roma aus Rumänien nach Frankreich kommen, liegt zunächst einmal in Rumänien, weil Rumänien dort eine Politik betrieben hat, seit wirklich seit Jahren und das mittlerweile seit Jahrzehnten, eine systematische Vertreibungspolitik gerade auf lokaler Ebene.

Die Menschen haben ihre Wohnungen verloren, sind auf die Straße gesetzt worden, es gab sogar Prämien, dass sie ihre Städte und Gemeinden verlassen, aber nicht nur in Rumänien, auch in Tschechien, wir wissen das aus der Slowakei, wir wissen das aus Ungarn, wir wissen das aus verschiedenen anderen Staaten. So, dass hier etwas getan werden muss, wissen wir alle. Es geht aber noch mal, um das noch mal darzustellen, nicht um Geld, und genau das ist das große Problem. Es wird so dargestellt, als ob wenn man jetzt Rumänien 20 Millionen Euro gibt, dass man damit ein Problem von zwölf Millionen Roma in Europa löst, und zwar das Problem, dass Schulen nicht bereit sind, diese Kinder, diese Romakinder in die Schulen zu lassen, dass es massivste Diskriminierungsstereotypen gibt, dass 75 Prozent der europäischen Bevölkerung schlicht und ergreifend die sogenannten Zigeuner ablehnt, sie nicht neben sich duldet.

Das sind alles Dinge, die muss man angehen und die kann man nicht einfach nur auf Geld reduzieren. Wir haben in Europa Menschenrechte, wir haben in Europa das Europäische Recht , und im Moment wird es von Frankreich gebrochen, im Moment ist die Bundesrepublik Deutschland daran es zu brechen, es gibt andere Staaten, die es brechen, und hier ist die Europäische Kommission gefordert, massivst auf die Menschenrechte hinzuweisen und auf die Verantwortung der einzelnen Staaten gegenüber ihren Staatsangehörigen.

Kassel: Sagt Rudko Kawczynski, der Präsident des European Roma and Travellers Forum. Herr Kawczynski, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Kawczynski: Ich danke Ihnen!
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