Von echtem und falschem Antisemitismus

Von Philipp Gessler, Deutschlandradio Kultur · 31.01.2013
Die Antisemitismus-Debatte um den "Freitag"-Verleger Jakob Augstein ist wichtig und nötig, meint unser Kommentator Philipp Gessler. Sie bringe einen dazu, sich mit versteckten Vorurteilen auseinanderzusetzen, die in unseren Köpfen spuken.
Natürlich gibt es ihn noch, und zwar viel zu viel: den Antisemitismus, den alle sofort erkennen: Die Juden seien Christusmörder. Die Juden seien an allem Übel in der Welt schuld, irgendwie. Die hätten es irgendwie mit dem Geld - all diese uralten antijüdischen Vorurteile wabern immer noch durch die Welt. Und manche reden ganz offen so.

Häufiger aber ist heutzutage der versteckte Antisemitismus. Der, der sich in Andeutungen findet. Die Rede von der jüdischen Lobby etwa, die die US-Politik bestimme - oder gar die Politik der westlichen Welt insgesamt. Die Sprüche von den jüdischen Bankern an der Wall Street, die angeblich die Weltwirtschaft lenken. Oder, gerade in Deutschland, das Klischee von den Israelis, die sich doch genau so benehmen würden wie die Nazis damals. Das nennt man dann Schuldumkehr. Und das ist fast immer antisemitisch.

Rabbi Abraham Cooper hat heute Jakob Augstein in Berlin überaus deutlich einen Antisemiten genannt. Der Mann vom Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles hat damit einen Konflikt noch einmal hoch gekocht, der schon beinahe aus der Öffentlichkeit verschwunden war. Nur: Wer die kritisierten Passagen Augsteins sehr kritisch liest, kann darin durchaus antisemitische Klischees finden - nämlich dann, wenn man sehr hohe Maßstäbe anlegt. Das tun Menschenrechtsgruppen im Mutterland der Political Correctness gern.

Ein Beispiel: Augstein schreibt, der US-Präsident müsse Rücksicht nehmen auf jüdische Lobbygruppen und - im gleichen Satz! - außerdem führe die Regierung Netanjahu in Israel "die ganze Welt am Gängelband". Das war ein Zitat. Ist das das alte antisemitische Vorurteil einer jüdischen Weltverschwörung? Manche lesen das aus diesen Zeilen heraus. Das kann man, man muss es nicht.

Der Konflikt, nein - der Streit zwischen Rabbi Cooper und Augstein ist scharf und wahrscheinlich ist, dass beide am Ende nur beschädigt sind. Dennoch: Diese Debatte, die das Simon-Wiesenthal-Zentrum angestoßen hat, ist wichtig und nötig. Warum? Um uns mit dem versteckten Antisemitismus auseinanderzusetzen. Der, der in unseren Köpfen spukt. Immer noch. Und auch, wenn wir das gar nicht für möglich halten. Jakob Augstein als Antisemiten zu beschimpfen, bringt uns da nicht weiter.


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