Von der Ungleichheit der Toten

Von Andreas Krause Landt · 08.07.2007
Als vor zehn Jahren die Debatte um das Berliner Holocaust-Mahnmal ihren Höhepunkt erreichte, warnte manch einer davor, dass am Rande des Tiergartens eine allzu bunte Gedenkstättenmeile entstehen werde. Welche der im Nationalsozialismus verfolgten Gruppen würde nicht den Anspruch erheben, mit ihrem Leid dort repräsentiert zu sein?
Wer würde darauf verzichten, den damit verbundenen moralischen und politischen Mehrwert einzustreichen? Als Kulturstaatsminister Neumann mitteilte, dass man sich über das Denkmal für die im Dritten Reich verfolgten Homosexuellen geeinigt habe, wurde gar kein Hehl mehr daraus gemacht, dass es bei diesem Vorhaben nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern um handfeste gegenwärtige Interessen geht.

Die künftigen Besucher des Denkmals sollen durch ein Fenster einen Endlosfilm sehen können, der zwei Jahre lang ein küssendes Männerpaar zeigt. Danach, hübsch rotierend, zwei Jahre lang ein Frauenpaar - obwohl man weiß (und niemand es ernsthaft bestreitet), dass Lesben im Nationalsozialismus nicht verfolgt wurden. Eine starke Lobby mit der Zeitschrift "Emma" als Sprachrohr hat es geschafft, die Lesbenquote dennoch durchzusetzen. Man muss nur gegen Intoleranz und Homophobie sein – dann kann man mit etwas Hartnäckigkeit auf Staatskosten fast jeden Unsinn veranstalten.

Die Leiter der deutschen KZ-Gedenkstätten, die das Andenken derer zu pflegen haben, die tatsächlich zwischen 1933 und 1945 ermordet wurden, haben vergeblich widersprochen. Sie werden sich von der jetzt gefundenen Lösung einigermaßen verhöhnt fühlen, denn wozu machen sie ihre Arbeit, wenn man andernorts auf das Faktum des Todes als Kriterium für öffentliches Gedenken verzichtet? Dieser Unernst ist es, der die Funktionäre der Emanzipation so wenig glaubwürdig macht. Damit sind sie aber nicht allein. Auf einem anderen hauptstädtischen Schauplatz kann man ähnliches beobachten.

Kaum einer wundert sich noch darüber, daß unsere in Afghanistan und bei sonstigen humanitären Einsätzen gefallenen Soldaten nicht als Gefallene, sondern, sogar auf Seiten der Bundeswehr bis hinauf zum Minister, als "getötete", manchmal auch als "ermordete" Soldaten bezeichnet werden. Mehrere Kommentatoren brachten es in den letzten Wochen fertig, dieses verdruckste Verhältnis von Armee, Parlament und republikanischer Öffentlichkeit zu kritisieren und sich zugleich der verdrucksten Sprachregelung zu fügen. Man will jetzt in Berlin ein Denkmal für die rund 2600 Bundeswehrsoldaten errichten, die im Dienst ums Leben gekommen sind, und auch dort soll das Gedenken, so die Inschrift, lediglich "den Toten unserer Bundeswehr" und nicht den Toten als Gefallenen gelten.

Man muss kein Befürworter des Einsatzes in Afghanistan sein, um zu erkennen, dass die Soldaten damit um den Sinn ihres Todes betrogen werden. Es wird mit Absicht die Tatsache verdrängt, dass sie nicht als Zivilisten, noch weniger als Touristen, vielmehr als Repräsentanten unseres Gemeinwesens ihr Leben gelassen haben. Die "Zivilgesellschaft", wie sie so schön heißt, will sich ihre vielbeschworene Sicherheit nichts kosten lassen, auch nicht das Blut der eigenen Leute. Nur so ist es wohl zu verstehen, dass Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse jede Parallele zum amerikanischen Vietnam Memorial abstreitet. Die Einsätze der Bundeswehr, meint er, seien keine Kriegseinsätze. Man wüsste gern, was die Soldaten dazu sagen, die für die Ahnungslosigkeit an der Spitze des Staates ihren Kopf hinhalten müssen. Letztlich wird den heute Fallenden das würdige Gedenken deshalb verwehrt, weil es einmal deutsche Soldaten gab, die der SS angehörten. Es geht um Sippenhaftung über Generationen hinweg.

Das ist aber noch nicht alles. Die Namen der Gefallenen sollen nach der Vorstellung des Architekten nicht eingraviert, sondern digital erfasst und mit Laserstrahlen projiziert werden. Offenbar will man in Berlin die Diskussion vermeiden, wie viel Platz man andernfalls für die Namen der Opfer künftiger Kriege vorhalten müsste. Während in das Denkmal für die Homosexuellen die nicht verfolgten Lesben aufgenommen werden, will man die Toten der Bundeswehr auf die leichte Schulter nehmen. Das mutet an wie blanker Zynismus. Man gedenkt des Todes, wo er nicht eingetreten, und spielt ihn herunter, wo er wirkliche Not ist. Unsere Erinnerungsstrategen nehmen sein existentielles Gewicht für den Schutz von schwul-lesbischen Biotopen in Anspruch, vernachlässigen es aber, wo man es nicht für unsere liebgewordenen moralischen Prinzipien instrumentalisieren kann – bei der Bundeswehr.

Neu ist das nicht. Immer wieder ließen unsere Denkmaldebatten in den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren keinen Zweifel daran aufkommen, dass die konkurrierenden Gruppen auf peinlich niedrige Weise um staatliche Anerkennungsanteile buhlten. Vergeblich hat der inzwischen verstorbene Historiker Reinhart Koselleck im Streit um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas einst dafür plädiert, auf eine Sonderbehandlung nach Opfergruppen zu verzichten. Und es ist ja auch merkwürdig, dass wir Unter den Linden die bescheidene Neue Wache haben und am Tiergarten die sehr viel aufwendigere Gedenkstättenmeile bekommen sollen. Denn die Neue Wache folgt einer ganz anderen Idee. Dort hat man 1993 bewusst darauf verzichtet, auch im Tode noch zwischen den Menschen zu unterscheiden. Dort folgt das umfassende Gedenken an die "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft", so die Inschrift, einer sehr viel humaneren Tradition. Diese Tradition steht heute im Schatten, obwohl so viel von der Gleichheit der Menschen die Rede ist. Die Unterschiede, die man im Leben der Menschen eben noch beseitigen und übergehen wollte, werden bei den Toten um so energischer beschworen.

Antigone, die Heldin der berühmten Tragödie von Sophokles, hat genau dagegen rebelliert. Missachtend das Verbot ihres königlichen Onkels Kreon, wollte sie ihren als Feind Thebens gefallenen Bruder Polineikes würdig bestatten und bezahlte dafür mit dem Leben. Auch heute würde man ihr kaum erlauben, den uneingeschränkten Respekt, der den Toten gebührt, vor den diesseitigen Parteilichkeiten zu bewahren – mitzulieben statt mitzuhassen, wie Antigone sagt. Zumindest in Deutschland.


Andreas Krause Landt, Verleger und Journalist, geb. 1963 in Hamburg. Studierte in Heidelberg und Berlin Germanistik, Philosophie und Geschichte. Seit 1997 Mitarbeiter der Berliner Zeitung. 1999 erschien sein Buch "Scapa Flow. Die Selbstversenkung der wilhelminischen Flotte"; 2005 "Holocaust und deutsche Frage. Ein Volk will verschwinden" in der Zeitschrift Merkur (Heft 680); 2007 "Mechanik der Mächte. Über die politischen Schriften von Panajotis Kondylis" in "Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission" (hrsg. von Falk Horst). 2005 Gründung des Landt Verlags in Berlin (www.landtverlag.de).