Von der Poesie des Beamtendeutschs

12.10.2012
Sie ist gewissermaßen ein Klassiker: die Straßenverkehrsordnung. Der Schauspieler und Comedian Christoph Maria Herbst hat sich den Gesetzestext zur Brust genommen - und erweist sich als sicherer Führer durch das Vorschriftendickicht mit seinen syntaktischen Ungetümen.
Nirgendwo zeigt der Deutsche mehr Gefühle als auf dem Fahrersitz seines Wagens. Und nirgendwo verliert er schneller die Kontrolle als auf einer bundesdeutschen Autobahn. Der Gesetzgeber hat diesem Phänomen der Unvernunft ein Bollwerk entgegengesetzt: die Straßenverkehrs-Ordnung. Sie regelt bis ins kleinste Detail jede noch so absurde Situation auf deutschen Straßen – das Ganze natürlich in einer Sprache, bei der das Herz des Linguisten höher schlägt.

"Absatz zwei. Wer die Vorfahrt zu beachten hat, muss rechtzeitig durch sein Fahrverhalten, insbesondere durch mäßige Geschwindigkeit, erkennen lassen, dass er warten wird. Er darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er das nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so darf er sich vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung hineintasten, bis er die Übersicht hat. "

Es klingt im ersten Moment nach einer Schnapsidee, ein solches Konvolut im umständlichsten Beamtendeutsch als Hörbuch zu veröffentlichen. Im zweiten Moment auch.

"Auch wenn der, der die Vorfahrt hat, in die andere Straße abbiegt, darf ihn der Wartepflichtige nicht wesentlich behindern.
Absatz drei (weggefallen)."

Der Komiker Christoph Maria Herbst nimmt sich die Königin der Schachtelsätze vor. Und er gibt kein Best-of der ärgerlichsten oder unterhaltsamsten Verordnungen zum Besten, sondern liest schlichtweg den Gesetzestext vor – in voller Länge, von §1 Grundregeln bis § 53 Inkrafttreten. Ungerührt bewegt er sich durch syntaktische Ungetüme und Aufzählungskaskaden, die sich zuweilen über Minuten erstrecken. Dabei ist er ein sehr sicherer Führer durch dieses Vorschriftsdickicht. So kann man den komplizierten Richtlinien tatsächlich nicht nur mühelos folgen; man hört gebannt einem bizarren Text zu, den man freiwillig wahrscheinlich niemals lesen würde, und das zwei Stunden lang. Sehr aufmerksam, zuweilen sogar voller Faszination:

"Absatz 1a. Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr, die kleiner als 150 cm sind, dürfen in Kraftfahrzeugen auf Sitzen, für die Sicherheitsgurte vorgeschrieben sind, nur mitgenommen werden, wenn Rückhalteeinrichtungen für Kinder benutzt werden, die den in Artikel 2 Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 91/671/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 über die Gurt-Anlegepflicht und die Pflicht zur Benutzung von Kinderrückhalte-Einrichtungen in Kraftfahrzeugen (ABl. EG Nr. L 373 S. 26), der durch Artikel 1 Nr. 3 der Richtlinie 2003/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. April 2003 (ABl. EU Nr. L 115 S. 63) neu gefasst worden ist, genannten Anforderungen genügen und für das Kind geeignet sind."

Durch minimalistisches Spiel verleiht Herbst den knochentrockenen Sätzen nicht nur Spannung, sondern trotzt ihnen immer wieder Komik ab. Es wäre ein Leichtes, den Bürokratensprech zu überzeichnen und so der Lächerlichkeit preiszugeben. Herbst hingegen verneigt sich vor dem Text. Er geht sehr viel dezenter vor, ja, geradezu minimalistisch.

"§ 28 Tiere. Absatz 1. Haus- und Stalltiere, die den Verkehr gefährden können, sind von der Straße fernzuhalten. Sie sind dort nur zugelassen, wenn sie von geeigneten Personen begleitet sind, die ausreichend auf sie einwirken können. Es ist verboten, Tiere von Kraftfahrzeugen aus zu führen. Von Fahrrädern aus dürfen nur Hunde geführt werden."

Hört man Christoph Maria Herbst zu, dann glaubt man mitunter, es nicht mit der Straßenverkehrsordnung, sondern mit konkreter Poesie zu tun zu haben. Manchmal überfällt einen schiere Rührung darüber, dass die Gesetzestexter allen Ernstes glauben, etwas so Impulsives und Lebensgefährliches wie der Straßenverkehr lasse sich bis in die kleinste Einzelheit regulieren. Denn das lärmende, stinkende Monstrum auf vier Rädern so zähmen zu wollen, ist etwa so, als hätte Siegfried damals das Schwert zu Hause gelassen und dem Drachen stattdessen aus dem Knigge vorgelesen. Das ist einerseits furchtbar altmodisch, andererseits aber auch ungemein tröstlich. Man sollte beim nächsten Strafzettel also nicht schimpfen, sondern jubeln – denn nach diesem Hörbuch weiß man um das große Glück unserer Straßenverkehrsordnung – eine der vielleicht schönsten, deutschen Gutenacht-Geschichten überhaupt.

"Ordnungswidrig im Sinne des § 24 des Straßenverkehrsgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen eine Vorschrift über 1. das allgemeine Verhalten im Straßenverkehr nach § 1 Abs. 2, 2. die Straßenbenutzung durch Fahrzeuge nach § 2, 3. die Geschwindigkeit nach § 3, 4. den Abstand nach § 4, 5. das Überholen nach § 5 Abs. 1 bis 4a, Abs. 5 Satz 2, Abs. 6 oder 7, 6. das Vorbeifahren nach § 6, 7. das Benutzen mittlerer Fahrstreifen nach § 7 Absatz 3a Satz 1, das Benutzen linker Fahrstreifen nach § 7 Absatz 3b, Absatz 3c Satz 2 oder den Fahrstreifenwechsel nach § 7 Absatz 5, 7a. das Verhalten auf Ausfädelungsstreifen nach § 7a Absatz 3, 8. die Vorfahrt nach § 8, 9. das Abbiegen, Wenden oder Rückwärtsfahren nach § 9 Absatz 1, 2 Satz 2 und 3, Abs. 3 bis 5, 9a."

Besprochen von Martin Becker


Die Straßenverkehrsordnung (StVO). Das Hörbuch
Gelesen von Christoph Maria Herbst
Argon Verlag, Berlin 2012, 2 CDs, 123 Minuten, 10 Euro