Von der Moral des Tötens

Helmut Ortner und Jürgen Todenhöfer im Gespräch mit Maike Albath · 13.10.2013
Der Journalist Helmut Ortner konzipiert Zeitschriften und setzt sich seit Jahren mit dem Phänomen der Gefängnisse auseinander. Sein "Buch vom Töten" behandelt vor allem die Todesstrafe. Der Publizist und Ex-Bundestagsabgeordnete Jürgen Tudenhöfer versammelt in "Du sollst nicht töten" Reportagen seiner Reisen in Krisenregionen.
Maike Albath: "Du sollst nicht töten" heißt es in der Bibel. Das fünfte Gebot wird aber Tag für Tag missachtet von Verbrechern, Terroristen und Soldaten, von Diktatoren genauso wie von demokratischen Staaten.

Um die vermeintliche Moral des Tötens soll es in unserer Sendung gehen, zu der wir zwei Gäste eingeladen haben. Beide sind mit neuen Büchern hier in Frankfurt auf der Buchmesse vertreten. "Du sollst nicht töten" lautet programmatisch der Titel von Jürgen Todenhöfers Reportagen, die nach Libyen, Ägypten, Gaza, Syrien, in den Irak und in den Iran und anderswohin führen.

Er saß 18 Jahre für die CDU im Bundestag, ist seit langem Publizist, hat eine Reihe von sehr erfolgreichen Büchern geschrieben, in denen private Schicksale aus den Krisenregionen im Mittelpunkt stehen. – Guten Tag, Herr Todenhöfer.

Jürgen Todenhöfer:Tag Frau Albath.

Maike Albath: "Das Buch vom Töten" nennt Helmut Ortner seinen historischen Abriss über die Todesstrafe. Helmut Ortner ist Journalist, konzipiert Zeitschriften. Und er ist vor allem Autor von Publikationen, die sich – mehrere sind es bereits – auch mit der Frage der Strafe und mit dem Phänomen der Gefängnisse auseinandergesetzt haben. – Guten Tag, Herr Ortner.

Helmut Ortner: Guten Tag.

"Erschütternde Geschichte der Todesstrafe"
Maike Albath: Die Todesstrafe, hat sie jemals ein Land befriedet oder unsere Welt friedlicher gemacht?

Helmut Ortner: Ja, die Todesstrafe, man glaubt immer noch an sie bis zum heutigen Tag. Ein ganz aktueller Bezug: Sie steht sogar noch in der hessischen Verfassung. Es gab immer wieder Petitionen, sie aus der Verfassung zu eliminieren, aber die Parteien in diesem Bundesland scheuen diese Volksabstimmung, die bräuchte es nämlich für eine Verfassungsänderung, wohl wissend, dass vielleicht 20 Prozent der hessischen Bürger sagen, vielleicht ist die Todesstrafe manchmal doch angebracht. Und das wäre ein beschämendes Ergebnis für das Land. Und so lässt man diesen Artikel, der durch Bundesrecht natürlich gebrochen wird, in der Verfassung. – Sie sehen, es gibt aktuelle Bezüge bis heute.

Und der weltweite Blick ist beschämend. Wir haben immer noch über 50 Staaten, wo vollstreckt wird in unterschiedlicher Weise – von Erschießung bis elektrischem Strom bis hin zu der Giftspritze vor allen Dingen in den USA.

Maike Albath: Jürgen Todenhöfer, Helmut Ortners Buch weist eine erschütternde Geschichte der Todesstrafe auf. Man erfährt sehr viel auch. Es ist ein historischer Abriss darüber, dass die Todesstrafe immer wieder in vielen Ländern angewendet wurde, bis heute angewendet wird. Wir kennen alle diesen klassischen amerikanischen Film, in dem Menschen kommen, um dabei zuzuschauen, wie die Todesstrafe vollstreckt wird.

Gibt es da eine Lust an der Gewalt?

Jürgen Todenhöfer:Ich glaube nicht, dass in dem Buch die Lust an der Gewalt das Wichtigste ist, sondern dass die Todesstrafe ungerecht ist. Wir haben nicht das Recht, anderen Menschen das Leben zu nehmen, das ihnen von Gott oder von der Natur gegeben worden ist. Außerdem, ich war mal kurz Richter und ich weiß, dass Richter Fehlurteile treffen. Das heißt, es sind in der Geschichte der Todesstrafe unendlich viele Menschen ungerechterweise getötet worden. Und auch deswegen ist die Todesstrafe völlig unakzeptabel.

Maike Albath: Herr Ortner, was hat Sie denn bewogen, dieses Buch zu schreiben? Es ist ja ein erschütterndes Sujet. Sie sagen auch am Anfang ihres Buches ganz klar, dass Sie gegen die Todesstrafe sind. Welches war das Erkenntnisinteresse?

Helmut Ortner:Das Erkenntnisinteresse war: Warum gibt es heute noch die Todesstrafe? Warum wird sie noch angewandt, selbst in modernen Staaten, in modernen Gesellschaften wie den USA?

Wir wissen, sie trägt wenig zum Rechtsfrieden bei. Sie ist unsinnig. Sie ist anachronistisch und sie ist unmenschlich, weil, sie nimmt Leben. Das ist Auge um Auge, das hat noch nie dazu beigetragen, ein Verbrechen wieder gutzumachen.

Und ich beschreibe die Todesstrafe als eine Reformgeschichte. Das hört sich erstmal paradox an, aber von den Körperstrafen, von dem Vierteilen, von den grausamen Strafen – oft mit Gottes Hand, mit Gottes Segen, Religiosität hat immer eine große Rolle gespielt, spielt sie bis heute, vielleicht nicht im Westen, aber in anderen Teilen dieser Welt – hin zur Entdeckung des Stroms, also Todesstrafe industriell in gewisser Weise umzusetzen, in den Gaskammern, durch Erschießen, bis heute bei den Giftspritzen.

Das heißt, immer mit dem Argument, sie ist weniger grausam, sie ist weniger dramatisch, sie ist weniger schmerzvoll für den Delinquenten, gab es immer Neuerungen. Es gibt keine Todesstrafe, die human ist. Das schließt einander aus. Und in gewisser Weise über die Jahrhunderte entwickle ich diese, wenn Sie so wollen, auch Kulturgeschichte.

Maike Albath: Eine Kulturgeschichte des Tötens. Die Rede von der "humanen Todesstrafe", das fällt häufiger in Ihrem Buch, ist eine paradoxe Formulierung. Nun geht Helmut Ortner durch die Jahrhunderte, Herr Todenhöfer, und man kann sehr viel lesen auch zum Beispiel über das Mittelalter, darüber, wie auf den Marktplätzen Menschen hingerichtet wurden, wie auch ein Exempel statuiert werden sollte.

Sie sprachen gerade schon von diesem Rachegedanken, Vergeltung. Wie wird das in der Geschichte dann bewertet im Rückblick von Herrn Ortner?

Jürgen Todenhöfer:Es gibt ja einen berühmten amerikanischen Bestseller von Steven Pinker: "Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit". In diesem Buch wird dargestellt, es ist kein Amerikaner, ein Kanadier, in diesem Buch wird dargestellt, dass man im Mittelalter nicht nur vierteilte, sondern den Menschen die Gedärme herausgerissen hat und dass es da wirklich eine Lust an der Gewalt gibt.

Helmut Ortner: „Das Buch vom Töten: Über die Todesstrafe"
Helmut Ortner: „Das Buch vom Töten: Über die Todesstrafe"© Promo
"Amerika hat ein ganz anderes Verhältnis zur Gewalt"
Ich glaube auch, dass in Amerika zwar nicht aus Lust an Gewalt hinrichtet wird, aber dass Amerika ein ganz anderes Verhältnis zur Gewalt hat als wir. Amerika ist die gewaltsamste Demokratie der westlichen Welt. In Amerika gibt es deswegen auch die meisten Morde. Ich Amerika gibt es mehr Morde als in Ländern wie Iran. Insofern, könnte man sagen, ist es nicht erstaunlich, dass es in Amerika die Todesstrafe gibt.

Aber ich finde es wichtig, dass Menschen wie Ortner versuchen, gegen die Todesstrafe anzukämpfen, und dass es total anachronistisch ist. Es ist ein Überbleibsel aus dem Mittelalter. Und wir sollten solche Versuche, wie die Herr Ortner unternommen hat, massiv unterstützen. Und wir sollten auch nicht nur protestieren, dass die Todesstrafe in Saudi Arabien angewandt wird, sondern auch, dass die Todesstrafe noch immer in Amerika angewendet wird und dass das alles öffentlich geschieht, dass da Menschen zuschauen können. Im Grunde ist das einfach eine Schande.

Maike Albath: Wie legitimiert denn ein Land wie die USA die Todesstrafe, Helmut Ortner?

Helmut Ortner:Es ist tief in der amerikanischen Mentalität verwurzelt. Ja, Sie sehen ja auch die Diskussion jetzt um die Waffen. Also, Amerikanern die Waffen zu verbieten, es können scheußliche Verbrechen passieren, das ist schwierig umzusetzen. Es ist sehr den Amerikanern innewohnend, dieses Unrecht, Verbrechen, Gewalt muss man mit Gewalt in gewisser Weise begegnen. Kein amerikanischer Gouverneur oder Präsident traut sich wirklich öffentlich gegen die Todesstrafe zu appellieren. Das würde ihn Wählerstimmen kosten, obwohl es Paradoxien gibt.

In den USA gab es vor einem Jahr im größten Bundesstaat, in Kalifornien, eine Abstimmung. Die Bürger durften abstimmen: Soll das mit der Todesstrafe ein Ende finden?

Und eine Mehrheit hat sich dagegen entschieden, wohl wissend, dass in Kalifornien allein im Jahr 2010 185 Millionen Dollar für die Todesstrafe ausgegeben wurden. Das kostete übrigens in Kalifornien vier Menschen das Leben. Ich will jetzt keine ökonomische Rechnung hier aufmachen, aber daran sieht man auch die Absurdität, welche Kosten damit verknüpft sind, mit so einer symbolischen Rechtspolitik, und dass sie auch rassistisch ist. Wenn man sich darauf einlässt, einmal die Urteile gerade in Todesstellen anschaut, wer sitzt darin? Das hat immer auch mit Armut, mit Marginalisierung, mit Ausgrenzung zu tun. Das ist offensichtlich.

Und ein Wort noch: Ich bin irritiert über die Tatsache, dass in Amerika, wann immer eine Todesstrafe vollstreckt wird, übrigens in der letzten Woche, in der Buchmessewoche zwei, eine in Arizona und eine in Texas, dass dann sich vor den Gefängnistoren Menschenmengen einfinden, die diskutieren, die aber auch streiten – Befürworter und Gegner – und dass Fernsehanstalten alle präsent sind. Das Fernsehen wollte dabei sein, wie das Court-TV, wie die Gerichtsverhandlungen da gefilmt werden. Es wäre sicher möglich, dass das private Fernsehen da großes Interesse hat. Wir haben eine Eventkultur, man geht gerne hin. Weil Sie das Mittelalter eben ansprachen, da ist man zu den Plätzen gezogen. Das ist eine große öffentliche Reinwaschung, wenn man so will. Und ich könnte mir vorstellen, dass ein Bedürfnis bestünde, irgendwie dabei zu sein, dieses grausame Spektakel nicht mittendrin, aber doch dabei zu begleiten.

Maike Albath: Also, der Firnis der Zivilisation ist dann oft extrem dünn. Und Sie zeigen in Ihrem Buch auch sehr eindrücklich, dass die Todesstrafe eine Gesellschaft überhaupt nicht besser macht. Das Böse lässt sich nicht eliminieren. Das ist ja vielleicht immer die Hoffnung.

Jürgen Todenhöfer, die Verknüpfung zwischen den beiden Büchern besteht eigentlich tatsächlich in diesem Land Amerika. Sie sind Jahr 1940 und haben durch Ihre Geschichte vermutlich schon zunächst ein positives Verhältnis zu diesem Land gehabt, ganz einfach, weil Deutschland durch die Amerikaner auch von den Nazis befreit wurde. Das hat sich aber sehr geändert. Finden Sie da auch Ihr Bild von den USA bestätigt in dem Buch von Helmut Ortner?

Jürgen Todenhöfer:Ich habe immer noch ein positives Verhältnis zu Amerika, weil Amerika ein Land ist, in dem die Menschen viel Energie haben, den Mut haben, neue Dinge anzufassen. Die Nobelpreise gehen – obwohl sie von Skandinavien verliehen werden – an Amerikaner. Amerika ist ein wunderbares Land. Aber Amerika hat ein mittelalterliches Verhältnis zur Gewalt. Und es ist gut, dass wir Deutsche da nicht mitmachen.

Es wird ja jetzt häufig diskutiert, auch vom deutschen Bundespräsidenten, also, wir Deutsche seien doch so stark und wir müssten uns jetzt mal überlegen, ob wir nicht auch Verantwortung in der Welt übernehmen. Das hat immer so einen kleinen Unterklang, als müssten wir uns mehr an Kriegen beteiligen und als müssten wir auch bereit sein, Gewalt anzuwenden. Und da bin ich völlig anderer Meinung. Ich finde es gut, dass wir in diesem fundamentalen Punkt der Anwendung von Gewalt, der Anwendung von Kriegen, des Einsatzes von Militärschlägen völlig anderer Meinung sind als die Amerikaner und dass Deutschland sich nicht als Kriegsmacht positioniert, sondern dass Deutschland sich als Friedensmacht positioniert.

Wir sind inzwischen das beliebteste Land der Welt nach Untersuchungen der BBC. Das sind wir nicht dadurch geworden, dass wir kriegerisch auftreten, sondern dadurch, dass Deutschland ein sehr tüchtiges Land ist und wir gleichzeitig und trotzdem friedlich sind. Diese Kombination ist etwas, was wir nicht ändern sollten, egal, wer etwas anderes fordert – auch wenn es der Bundespräsident ist.

"Henker waren immer eine diabolische Gestalt"
Maike Albath: Ein Wort, Helmut Ortner, noch zu dem Beruf des Henkers. Sie zeigen ja auch sehr schön, welche Berufsgruppen verknüpft waren mit dieser martialischen Todesstrafe oder es bis heute sind. Waren das akzeptierte Mitglieder der Gesellschaft?

Helmut Ortner:Nein, Henker waren immer eine einerseits diabolische Gestalt, eine marginalisierte Figur, geachtet, verachtet. Es kam viel zusammen. Sie wurden ausgegrenzt. Gleichzeitig sollten sie alle die Dinge erledigen für die Gesellschaft, die die Gesellschaft selbst nicht bereit war zu tun. Das hat sich bis heute gehalten.

Ich schildere ja in meinem Buch zwei sozusagen Henkers-, Scharfrichterbiographien. Eine eines französischen Scharfrichters, der heute noch lebt, hoch betagt, der in Algerien über tausend Menschen geköpft hat, heute mit sich im Reinen ist – schwierig genug. Wie man da im Reinen sein kann, ist psychologisch sehr interessant.

Eine zweite Scharfrichterbiographie ist die des Herrn Reichart, ein bayerischer Scharfrichter, der über 3000 Menschen in den Tod befördert hat, unter anderem auch die Geschwister Scholl in München. Besonders irritierend war, nach 1945 wurde er von den Amerikanern nach Landsberg geholt, um nochmal 140 Nationalsozialisten am Strang hinzurichten.
Also, das ist eine Täterfigur, der später in den 70er Jahren wohlversorgt in einem bayerischen Altersheim entschlief, der eine grausame Spur hinterließ, 3400 Menschen zum Tode befördert hat.

Dass einige dieser Hinrichter und Henker große psychische Probleme hatten, es gibt auffallend hohe Selbstmordquoten darunter, mag ein Hinweis dazu sein, dass man als Mensch Dinge vollbringt, auch stellvertretend für die Gesellschaft, die schwer zu verarbeiten sind.

Maike Albath: Im Orient waren Sie allerdings geschätzte Mitglieder der Gesellschaft und begleiteten die Potentaten sogar immer.

Wir sprachen über Helmut Ortners Band "Das Buch vom Töten. Über die Todesstrafe." Erschienen ist das Buch bei Zu Klampen. 192 Seiten kosten 19,80 Euro.

Helmut Ortner: Das Buch vom Töten. Über die Todesstrafe
Zu Klampen!, 2013
192 Seiten, 19,80 Euro


Und nun kommen wir zu Jürgen Todenhöfers Buch. "Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden" lautet der Titel Ihres Buches. Was antwortet denn ein afghanischer Taliban, wenn Sie ihm mit dem Fünften Gebot kommen?

Jürgen Todenhöfer: Der afghanische Talib hat nach Aussagen des afghanischen Präsidenten Karzai, mit dem ich mich mehrfach getroffen habe, genauso viele Menschen getötet wie die Nato. Und der afghanische Talib glaubt, dass er das Recht habe, sich gegen die amerikanische Invasion zu wehren. Und die Amerikaner glauben, dass sie in Afghanistan den Menschen Freiheit und Demokratie bringen sollen.

Ich weiß inzwischen nicht mehr so richtig, wer da Recht hat.

Maike Albath: Jürgen Todenhöfer ist bekannt dafür, dass er mit allen Gruppen spricht, sich also nicht an Klischees hält. Helmut Ortner, ein Scheich, ein irakischer Scheich sagt einmal im Gespräch mit Jürgen Todenhöfer:"Anarchie ist schlimmer als Diktatur." – Wie lautet denn Ihr Befund nach der Lektüre des Buches?

Helmut Ortner: Es ist ganz schwierig. Man müsste das Zitat in den Kontext setzen, in dem es gemacht wurde. Und vielleicht wäre ich sogar seiner Meinung. Es ist schwierig. Ich kenne mehre Bücher von Herrn Todenhöfer. Das habe ich auch gelesen. Was mich da besonders aufgewühlt hat, das ist: Immer da, wo unser Land, unser friedfertiges Land, wie Sie sagten, wo Deutschland eine Rolle spielt. Insbesondere diese irritierende Gleichgültig im letzten Bundestagswahlkampf. Deutschland befindet sich in einem Krieg. Im Kanzlerduell spielte Afghanistan genau 90 Sekunden eine Rolle. Es gab keine Kontroverse, weder zwischen den Sozialdemokraten, den Grünen. Das hat mich irritiert. Man hat über alles Mögliche diskutiert, aber dass wir doch in einem Krieg sind, über den man sehr, sehr kontrovers diskutieren kann – ich habe da eine eindeutige Haltung –, das war das erste Irritierende.

Und zum anderen hat mich in dem Buch sehr berührt, Sie erinnern sich an Kundus, was danach passierte. Oberst Klein, dieser Mann ist befördert worden. Der wäre in jedem Polizeidienst entlassen worden. Er ist befördert worden. Ich finde es einen Skandal erster Güte. Und dass man sich noch nicht mal bis heute offiziell von einer Kanzlerin medial offen entschuldigt hat, dass man das wahrnimmt, das hat mich am meisten aufgeregt.

Maike Albath: 137 Tote gab es damals. In Kundus haben Sie, Herr Todenhöfer, auch ein Waisenhaus gegründet als Reaktion auf diese deutsche Aggression. Wie recherchieren Sie überhaupt? Soweit ich weiß, sprechen Sie kein Farsi und auch kein Hocharabisch. Wie gehen diese Recherchen vonstatten?

Jürgen Todenhöfer: „Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden"
Jürgen Todenhöfer: „Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden"© Promo
"Mit den Kindern im Kundus spiele ich Fußball"
Jürgen Todenhöfer: Ich hab immer Dolmetscher dabei. Und wenn ich in all den Ländern, in denen ich bin und über die ich geschrieben habe, die Landessprache sprechen würde, müsste ich etwa zehn Sprachen sprechen. Ich hab manchmal zwei Dolmetscher dabei, manchmal drei. Und mit den Kindern, die in dem Waisenhaus sind, den Kindern von Kundus, mit denen brauche ich gar nicht viel zu sprechen. Mit denen spiele ich Fußball. Und wenn ich die leuchtenden Augen dieser Kinder sehe, das reicht mir völlig.

Ich finde, Herr Ortner hat das zu Recht gesagt, unser Verhalten nach Kundus: eine Schande: Die afghanischen Familien, die Familienmitglieder verloren haben, haben von der Bundesregierung, selbst wenn sie drei Mitglieder, drei Kinder verloren haben, 3.500 Euro bekommen für die ganze Familie. Und wenn Sie sehen, was die Opfer im Word-Trade-Center an Summen bekommen haben, sind 3.500 Euro eine Beleidigung aller Afghanen. Und es ist eine Schande für unser Land. Und ich plädiere auch ganz heftig dafür, dass die Bundesregierung sich endlich bei den Opfern von Kundus entschuldigt.

Denen geht’s gar nicht so sehr um Geld. Es wäre besser gewesen, sie hätten ihnen die 3.500 Euro nie gegeben, weil das eine Beleidigung ist, einer afghanischen Familie für drei verlorene Kinder 3.500 Euro zu geben.

Maike Albath: Wir müssen nochmal kurz nachtragen: 2009 war dieser Angriff auf Anordnung des Oberst Klein, dessen Name schon fiel. Was passiert da genau?

Jürgen Todenhöfer:Es passierte das, was im Krieg passiert: Massenmord. Was ist Krieg? Krieg ist die Hinrichtung von Menschen, die massenhafte Hinrichtung von Menschen, und zwar immer auf eine grausame Art und Weise. Und eine der größten Lügen der Menschheitsgeschichte ist, dass es anständige Kriege gäbe und dass wir im Westen anständige Kriege führen. Wir führen doch keine anständigen Kriege in Afghanistan. Wir haben auch keinen anständigen Krieg, wir der Westen, im Irak geführt. Und in Libyen, wo ich auch war, haben wir keine anständige Militärintervention geführt. Und die Rebellen führen keine anständige Rebellion. Es gibt keine anständigen Kriege.

Und deswegen bin ich gegen den Krieg und finde, dass Verhandlungen immer besser sind als Kriege. Das ist das Hauptfazit dieses Buches. Und dafür kämpfe ich.

Maike Albath: Die so genannten Befreiungsarmeen verfügen dann ja auch oft über Waffen, zum Teil sogar über Umwege geliefert nach Saudi Arabien oder Katar von der Bundesrepublik.

Helmut Ortner, die Recherche von Herrn Todenhöfer, wir haben es gerade gehört, läuft über Dolmetscher. Ganz genau weiß man natürlich nicht, ob einem nicht oft auch etwas vorgespielt wird. Und er setzt ja auch sein Leben aufs Spiel und schont sich nicht – schon sehr eindrucksvoll in seiner Haltung, in seiner starken moralischen Haltung. Wir konnten es ja auch gerade hier hören.

Wie steht es denn mit der Analyse in diesem Buch?

Helmut Ortner:Ich muss gestehen, ich war immer dafür, in der Zeitschrift Cicero vor vier Jahren schon, "Raus aus Afghanistan" war die Titelgeschichte. Ich gehöre zu denjenigen, die sagen, hinter diesem ganzen so genannten Engagement steht eine große Lüge. Das ist hier nicht populär so zu sprechen. Und dazu gehört eine mediale Einstimmung, dass es überhaupt getragen wird.

Wir haben in Afghanistan, auch mit den Mitteln, die wir da eingesetzt haben, so überhaupt nichts verloren. Jeder Tag, jeden Monat, wo wir da sind: raus! Wir haben da nichts verloren. Wir sind keine Friedensarmee dort. Das ist eine Lüge. Und was mich ganz besonders empört ist: Für mich Herr Todenhöfer im besten Sinne ein Aufklärer, ein Aufklärer durch Beschreibung, durch Analysen, durch Geschichten. Menschen sind konkret. Es sind nicht nur Zahlen. Er ist immer sehr nahe dran, im besten Sinne der Reportagen. Ich glaube, dass das notwendig ist.

Ich will mal zwei Sequenzen nennen, warum das für mich notwendig ist. Es mag für Sie anders sein:

Wenn in Afghanistan ein deutscher Soldat zu Tode kam, schrecklich für seine Familie, gar keine Frage, dann habe ich Fernsehbilder gesehen, die Deutschlandfahne auf dem Sarg, in Köln-Wahn. Minister sind angetreten. Ich hätte mir mal eine Sondersendung nach Kundus gewünscht, diese 130 Ziviltoten, dass man mal eine Reportage macht: Was ist da passiert? Man hat es jetzt vor wenigen Wochen in einem filmischen Dokument gemacht, aber das ist auch eine mediale selektive Wahrnehmung, die man nur kritisieren kann.

"Es gibt keinen gerechten Krieg"
Insofern ist für mich Herr Todenhöfer, auch was das Buch angeht, was ich Ihnen nur empfehlen kann, das ist Aufklärung für Menschen, die auch nicht die Zeit haben, das zu begreifen, was da passiert. Und ebenso wenig, wie es eine humane Todesstrafe gibt, gibt es auch einen gerechten Krieg.

Maike Albath: Jürgen Todenhöfer, Sie waren sechsmal in Syrien oder sogar siebenmal. Und die Reportagen, die Sie dort dann geschrieben haben, fließen in dieses neue Buch mit ein.

Dennoch möchte ich da insistieren. Wenn Sie die Sprache nicht können und Ihnen ein Land fremd ist, sind Sie sicher, dass Sie immer das sehen, was da auch wirklich passiert? Und das auch uns widerspiegeln können? Sie kritisieren ja sehr stark die Dämonisierung der arabischen Welt…

Jürgen Todenhöfer:…es wird uns nicht die Wahrheit erzählt. Hier wird gesagt: In Afghanistan kämpfen wir für Frauenrechte und für die Rechte der Muslime. Ich schildere in dem Buch einen Sicherheitsberater á la Blackwater, der in allen Details schildert, wie er dabei war, als amerikanische Soldaten in Bagram, Nähe Kabul, afghanische Freiheitskämpfer, afghanische Widerstandskämpfer oder von mir aus sogar afghanische Terroristen mit Hunden vergewaltigen lassen. Das ist die Realität. Und darüber rede ich dann stundenlang. Und ich wundere mich, dass sich Deutschland über derartige Sachen nicht empört.

Ich habe Szenen von jungen Irakerinnen, die gezwungen wurde, bei der Vergewaltigung eines irakischen Widerstandskämpfers durch amerikanische GI’s zuzuschauen, weil man ihren Willen brechen wollte. Anschließend hat man ihnen die Haare abgeschnitten. Und uns erzählt man die Geschichte vom großen patriotischen Krieg. Den gibt es nicht. Krieg ist immer schmutzig. Krieg wird schmutzig auch geführt von den Rebellen, auch von den Taliban. Und deswegen muss man gegen Kriege eintreten.

Und die Rolle von Deutschland kann nicht sein, Kriegsmacht zu sein. Wir können auch nicht alle, wir Deutsche alleine den Frieden herstellen. Aber Deutschland könnte der ehrliche Makler in diesen Konflikten sein. Deutschland könnte Vermittler sein. Deutschland könnte Vermittler im Irankonflikt sein. Deutschland könnte Vermittler in Syrien sein. Und das wird von diesen Staaten gewünscht, weil wir erfolgreich sein, weil wir beliebt sind und weil wir keine Kriegsnation sind.

Sie fragten: Kann ich denn alles überblicken im mittleren Osten? – Ich war in den letzten zwei Jahren sieben Monate in diesen Ländern, nicht sieben Tage, wie manche, sondern sieben Monate habe ich unter diesen Menschen gelebt. Und das Fazit heißt: Verhandeln ist besser als Kriegführen. Und das würde ich gerne einmal dem amerikanischen Präsidenten sagen, der immer wieder geneigt ist, Probleme durch militärische Schläge zu lösen. Zum Beispiel der Drohnenkampf an der pakistanisch-afghanischen Grenze ist nicht Kampf gegen den Terrorismus, das ist Hinrichtung.

Maike Albath: Was erfährt man denn über die geostrategischen Interessen, das spielt ja auch eine Rolle, oder ökonomischen Interessen, in dem Buch von Herrn Todenhöfer, Helmut Ortner?

Helmut Ortner:Jetzt legen Sie die Hürde hoch. Jetzt muss ich achtgeben. Jetzt kommt die politisch-strategische Geschichte. Da haben wir den Experten hier. Ich glaube, was die Qualität des Buchs ausmacht, ist erstmal den Blick zu öffnen, was Krieg heißt. Wir haben einen falschen, die jüngere Generation, einen falschen Blick von Kriege. Was Krieg heißt: Das heißt Hinrichtung und in der neuen Qualität, Herr Todenhöfer hat es angesprochen, mit Drohnen, die Drohenkriege, die die Genfer Kriegskonvention völlig außer Kraft setzen. Das läuft ja nicht mal unter Kriegsführung. Das ist ja geheimdienstliche Tätigkeit.

Dieses Buch ist für mich auch nicht so der Ansatz, jetzt die großen strategischen geopolitischen Verschwörungstheorien oder Tatsachen zu reflektieren, das kommt auch vor, sondern die Qualität und die Kraft des Buches ist meiner Ansicht nach, so habe ich es auch gelesen, überhaupt mal den Blick zu öffnen, sensibel zu werden für das, was dort sich zuträgt, nicht nur in Afghanistan, sondern in der Region, und wie unser Bild ist.

Und das kann man nach der Lektüre dieses Buches ein Stück korrigieren. Und das ist auch notwendig.

"Syrien ist eine Tragödie"
Maike Albath: Welche Chancen haben wir? Welche Chancen hat Deutschland? Herr Todenhöfer, Sie haben schon ein bisschen es angedeutet. Verhandeln steht für Sie im Zentrum. Aber was kann Deutschland sonst noch tun? Sie haben ja in Ihrem Buch auch aufgeführt ein Papier mit Vorschlägen, 2011 in Syrien geäußert, das haben Sie auch publik gemacht, für Möglichkeiten. Und dennoch ist es so gekommen, wie es jetzt gekommen ist, stehen wir vor einer katastrophalen Lage in Syrien. – Also, welche Möglichkeiten sehen Sie?

Jürgen Todenhöfer:Syrien ist eine Tragödie. In Syrien kämpft nicht Gut gegen Böse, sondern da kämpft Schwarz gegen Schwarz. Da sind inzwischen beide Seiten in einer Weise an dem Krieg beteiligt, die ich nur als unmenschlich bezeichnen kann.

Ich möchte einen kleinen Nachtrag noch machen. Worum geht es eigentlich? Es geht um Öl. Wenn es im Hintergrund um Iran geht, dann geht es um Öl. Man muss manchmal die Dinge vereinfachen und zusammenfassen. Am Ende geht es im Mittleren Osten um Öl. Es geht mit Sicherheit nicht um Menschenrechte. Und es geht nicht um die Menschenrechte der Syrer oder der Libyer oder die Menschenrechte der Iraker. Denn wenn es uns um die Menschenrechte ginge, dann müssten wir ja auch in Saudi Arabien intervenieren. Das machen wir ja nicht, weil wir da das Öl frei Haus bekommen und weil wir das Öl günstig bekommen und weil wir ihnen Panzer verkaufen können.

Was kann man in Syrien machen? In Syrien muss man verhandeln. Und man muss Verhandlungen unterstützen. Und man braucht überhaupt kein Freund irgendeiner Partei zu sein. Ich stehe auf keiner Seite. Ich stehe nicht auf der Seite Assads. Ich stehe nicht auf der Seite der Rebellen. Ich weiß nur, dass die beiden verhandeln müssen.

Und Assad hat interessanterweise vorgeschlagen, dass Deutschland eine Vermittlerrolle übernimmt. Und das ist einfach dramatisch, dass der deutsche Außenminister das als billiges Ausweichmanöver abtut. Wenn eine Seite in der Not sagt, 'könntet ihr vermitteln', dann muss man sagen: 'Ja. Welches wären Ihre Zugeständnisse?'

Ich glaube, dass das eine großartige Rolle für Deutschland wäre, auf jeden Fall großartiger, als dass wir Patriot-Raketen in der Türkei aufstellen oder Kriegsschiffe vor irgendwelche Küsten schicken oder irgendwelche Marschflugkörper gegen Syrien, Iran oder gegen wer weiß wen in Bewegung setzen.

Maike Albath: "Du sollst nicht töten" heißt das Buch von Jürgen Todenhöfer, über das wir sprachen. Es ist erschienen bei Bertelsmann, 448 Seiten für 19,99 Euro.

Jürgen Todenhöfer: Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden
C. Bertelsmann, 2013
448 Seiten, 19,99 Euro


Jetzt haben wir noch Zeit für eine Lektüreempfehlung. Helmut Ortner.

Helmut Ortner:Ja, ich habe eine Lektüre zu empfehlen. Das Buch heißt "Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung". Wer Aufklärung will über NSA, was uns da zugetragen wurde, der findet dieses Buch, hier die Aufklärung darin beschrieben, abgeschlossen vor zwei Jahren, immer noch aktuell.

Maike Albath: Es ist erschienen im Suhrkamp Verlag. Und Jürgen Todenhöfer hat auch noch ein Buch mitgebracht, das er unseren Hörern empfehlen möchte.

Jürgen Todenhöfer:Das Buch heißt "Soldaten", ist vor zwei oder drei Jahren erschienen, von Sönke Neitzel und Harald Welzer. Und es schildert die Geschichte von 13.000 deutschen Wehrmachtsangehörigen, die in englischer und amerikanischer Gefangenschaft heimlich abgehört worden sind. Und es zeigt leider die Lust auch dieser deutschen Soldaten am Töten, die Lust, die man offenbar nach einer Weile Krieg bekommt. Deswegen ist dieses Buch so wichtig, weil es zeigt, dass es keine anständigen Kriege gibt, dass das Völkerrecht im Krieg keine Rolle spielt und dass man sich gegen Kriege engagiert einsetzen sollte.

Maike Albath: Ich bedanke mich herzlich bei Jürgen Todenhöfer und Helmut Ortner für ihre engagierte Teilnahme an der Diskussion.

Die Redaktion der Sendung hatte Christian Rabhansl. Von der Frankfurter Buchmesse verabschiedet sich Maike Albath.

Buchcover Zygmunt Bauman, David Lyon: "Daten, Drohnen, Disziplin"
Cover Zygmunt Bauman / David Lyon© edition suhrkamp
Cover Sönke Neitzel / Harald Welzer: "Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben"
Cover Sönke Neitzel / Harald Welzer© Verlag S. Fischer
Zygmunt Bauman, David Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung
edition suhrkamp
16 Euro

Sönke Neitzel, Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben
S. Fischer, 22,95 Euro


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.